Erinnerung, die unter der Erde weiterlebt
Arbo, ein heute kaum bekanntes Dorf in der Nähe von Nisêbîn (tr.Nusaybin) in der nordkurdischen Provinz Mêrdîn (Mardin), rückt über ein Jahrhundert nach dem Völkermord an den Suryoye erneut in den Fokus der Geschichte. Bei Renovierungsarbeiten in der Mor-Dimet-Kirche – der größten der insgesamt sieben Kirchen des Dorfes – stießen Anwohnende auf ein Massengrab: etliche Schädel und Knochen, aufbewahrt in einem unterirdischen Gewölbe, tief unter dem Altarraum.
Was zunächst wie ein archäologischer Fund anmutete, entpuppte sich als grausamer Nachhall der Geschichte: Die Überreste stammen höchstwahrscheinlich von Opfern des Sayfo, des Völkermords an den aramäischen, assyrischen und chaldäischen Religionsgemeinschaften während des Ersten Weltkriegs – oder von einer früheren Welle der Gewalt im 19. Jahrhundert unter der Herrschaft des kurdischen Fürsten Êzdînşêr. Für viele Angehörige der heute verstreuten Suryoye-Diaspora sind es nicht nur Knochen – es sind letzte Spuren ihrer Vorfahren, stille Zeugen eines verdrängten Kapitels der Geschichte.
Zwischen zwei Epochen der Gewalt
Der Historiker und Autor Yawsef Beth Turo sieht in dem Fund eine doppelte historische Bedeutung. Seiner Einschätzung nach könnten die sterblichen Überreste zwei Perioden zugeordnet werden: zum einen den Repressionen des 19. Jahrhunderts unter Êzdînşêr, der gegen Steuerverweigerer unter den Dörfern der Suryoye vorging – und zum anderen der systematischen Vernichtung syrischer Christen im Jahr 1915 durch osmanische Truppen und verbündete kurdische Milizen.
„Diese Knochen sind mehr als nur Relikte“, sagt Beth Turo. „Sie sind Symbole zweier gewaltsamer Epochen – des regionalen Konflikts im Osmanischen Reich und des überregionalen Genozids an unseren Vorfahren.“
Yawsef Beth Turo © privat
Laut Überlieferung wurden viele Opfer ohne Begräbnis oder kirchliche Zeremonie notdürftig beerdigt – später sammelten Überlebende die Gebeine ein und bestatteten sie unter dem Schutz der Kirche. Für Beth Turo ist das auch ein Akt von Respekt und kollektiver Wiedergutmachung.
Arbo – ein Dorf des Widerstands
Arbo war zu jener Zeit nicht irgendein Dorf. Es galt als Zentrum der Selbstorganisation der Suryoye und ihrer Widerstandskraft. Während des Sayfo organisierten die Bewohner:innen – zusammen mit anderen Dörfern wie Ehwo, Azakh (heute der Landkreis Hezex/Idil) oder dem Bergmassiv Tur Izlo – eine bewaffnete Selbstverteidigung gegen osmanische Angreifer und kurdische Reitertruppen.
„Viele haben den Genozid nur überlebt, weil es diese sechs Orte des Widerstands gab“, betont Beth Turo. Dennoch fiel auch Arbo der Geschichte mehrfach zum Opfer: Zwangsräumungen, Verfolgung, Massenflucht. Dreimal wurde das Dorf gewaltsam entvölkert, zuletzt nach der Gründung der Republik Türkei, als auch die letzten sichtbaren Spuren christlichen Lebens aus der Region getilgt wurden.
Der Völkermord an den syrischen Christ:innen
Der Genozid an den aramäischen, assyrischen und chaldäischen Christ:innen – in der eigenen Sprache als Sayfo oder je nach Mundart auch Seyfo („Schwert“) bekannt – wurde 1915 parallel zum Völkermord an den Armenier:innen durchgeführt. Er begann im Zuge der „Säuberungen“ des Osmanischen Reiches von nicht-türkischen, nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen. Betroffen waren unter anderem die Regionen Tur Abdin, Mêrdîn, Heskîf (Hasankeyf), Riha (Urfa), Xarpêt (Elazığ), Amed (Diyarbakır) und Midyad.
Der Knochenfund unter der Kirche Mor Dimet, dokumentiert von der Nachrichtenagentur Mezopotamya
Beth Turo spricht von über 90.000 ermordeten Suryoye allein in der Tur-Abdin-Region. Auch hier waren osmanische Militäreinheiten in Zusammenarbeit mit kurdischen Stämmen und Milizen an der Vernichtung beteiligt. „Wären die Kurd:innen neutral geblieben, hätte das Ausmaß des Völkermords geringer ausfallen können“, sagt der Historiker. Das habe – bis heute – zu einer tiefen Vertrauenskrise geführt.
Hoffnung durch Aufarbeitung und Erinnerung
In den letzten Jahren gibt es jedoch auch Zeichen der Annäherung. Beth Turo würdigt die selbstkritischen Stimmen aus der kurdischen Bewegung, darunter Selahattin Demirtaş, Ahmet Türk und Abdullah Öcalan. Diese hätten das Verhalten kurdischer Akteur:innen während des Sayfo öffentlich thematisiert – ein Schritt, den viele in der Suryoye-Gemeinschaft als wichtig und versöhnlich empfinden.
Die jüngste Entdeckung in Arbo sei nun eine „große Chance“, sagt Beth Turo. Eine Gelegenheit, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, historisches Unrecht sichtbar zu machen – und die kollektive Erinnerung an eine fast ausgelöschte Gemeinschaft wachzuhalten. „Diese Knochen sprechen zu uns“, sagt Beth Turo leise. „Sie sagen: Vergesst uns nicht. Erzählt unsere Geschichte weiter.“