Die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Amed (tr. Diyarbakir) fordert anlässlich der Internationalen Woche gegen das Verschwindenlassen in Haft uneingeschränkten Zugang zu den staatlichen Archiven über die Vermissten, um den Weg zu Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zu ebnen. „Wir verlangen die Einrichtung einer Wahrheitskommission für die politischen Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung“, erklärte der Menschenrechtler Fırat Akdeniz bei einer Pressekonferenz im Namen der IHD-Kommission für Vermisste in Amed. Für die Angehörigen der Verschwundenen sei es ein harter, aber unabdingbarer erster Schritt, Kenntnis über den Verbleib der sterblichen Überreste ihrer Verwandten zu erlangen und zu wissen, auf welche Weise sie umgekommen sind. „Dann erst kann der eigentliche Heilungsprozess beginnen“, so Akdeniz.
Hasan Ocak wurde am 21. März 1995 in Istanbul festgenommen und zu Tode gefoltert
Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit der Praxis des „Verschwindenlassens” machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte – während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt.
„Verschwindenlassen ist Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist – und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.
Dem IHD sind die Namen von 1.388 Menschen bekannt, die zwischen den Jahren 1980 und 2001 nach ihrer Festnahme verschwunden sind. Im gleichen Zeitraum gab es tausende ungelöster politischer Morde. Die militärischen, administrativen und politischen Verantwortlichen wurden dafür nie wirklich belangt, vor Gericht gestellt oder zur Rechenschaft gezogen. „Verschwindenlassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Kein Kriegsgrund, keine politische Instabilität oder Ausnahmezustände können dies rechtfertigen. Die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen ist eine klare Erinnerung an die Verantwortung der Staaten“, so Akdeniz.
Ayşenur Şimşek wurde am 24. Januar 1995 in Ankara von der Konterguerilla verschleppt und ermordet
Tausende in Massengräbern
Wie viele Massengräber in Nordkurdistan von staatlichen Kräften angelegt worden sind, weiß niemand. Laut dem IHD liegt die Zahl der bisher registrierten Massengräber bei 253. „Wir vermuten in diesen Gräbern die Überreste von mindestens 4.000 Menschen“, sagt Akdeniz. „Und wir wissen, dass es noch unzählige unentdeckte Massengräber mit weiteren tausenden Opfern gibt. Die Zivilbevölkerung hat in diesem Konflikt am meisten gelitten.“ Die meisten Massengräber sind auf Initiative des IHD-Amed in Licê und Pasûr (Kulp) sowie in den Provinzen Êlih (Batman) und Sêrt (Siirt) geöffnet worden. „Wir wurden damit Zeugen dieser schmerzlichen Verbrechen“, sagt Akdeniz.
„Mindestens 17.000 Opfer extralegaler Hinrichtungen“
Auch die Demokratische Partei der Völker (HDP) äußerte sich anlässlich der seit 1995 begangenen Woche gegen das Verschwindenlassen in Haft. „In dem seit mehr Jahrzehnten in unserer Region stattfindenden Konflikt wurden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen von paramilitärischen Kräften, die im Namen des Staates handelten, wie auch vom Staat direkt, verübt. Insbesondere das Verschwindenlassen, ungelöste politische Morde, außergerichtliche Tötungen und Massengräber gelten de facto als Tradition“, heißt es in einer Stellungnahme von Ümit Dede, dem rechtspolitischen Sprecher der HDP.
„Die Angehörigen weichen nicht von ihrer Suche nach Gerechtigkeit ab“
Laut Dede seien es der Menschenrechtsverein IHD und die Initiative der Samstagsmütter gewesen, die diese Politik der Regierung, „mit der ein Klima der Angst geschaffen werden sollte“, durch ihre Suche nach Wahrheit und den Verschwundenen entlarvt. „Sie haben – ohne müde zu werden – die Dunkelheit mit ihrer Suche nach Gerechtigkeit erleuchtet. Ob bei sengender Hitze oder eisigen Temperaturen, die Angehörigen der Verschwundenen weichen keinen Schritt von ihrer hartnäckigen Suche nach Gerechtigkeit ab.“
„Verschwindenlassen steht in direktem Zusammenhang mit kurdischer Frage“
Die Politik des Verschwindenlassens durch den Staat stehe in direktem Zusammenhang mit der kurdischen Frage, so Dede. „Und wir wissen, dass die Wahrheit früher oder später ans Licht kommen wird. Als HDP werden wir mit den Angehörigen der Verschwundenen und denjenigen, die Gerechtigkeit suchen, weiterhin Seite an Seite stehen. Wir werden unseren Kampf gegen die Praxis des Verschwindenlassens und der Politik der Straflosigkeit, die mit dem Völkermord an den Armenier:innen 1915 begann und mit dem Genozid von Dersim 1937-38 fortgesetzt wurde, niemals aufgegeben!“