Am kommenden Donnerstag wird in Istanbul das Verfahren gegen mehrere Beteiligte einer Mahnwache der Initiative der Samstagsmütter eröffnet. Angeklagt sind 46 Personen, denen ein Verstoß gegen das türkische Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911 vorgeworfen wird. Verhandelt wird an der 21. Strafkammer des Landgerichts Istanbul. Bei einer Verurteilung drohen ihnen bis zu drei Jahre Haft. Betroffen ist auch die 84-jährige Emine Ocak, die als Symbol der Samstagsmütter gilt. Ihr Sohn Hasan Ocak, ein 30 Jahre alter Lehrer, der in Istanbul eine Teestube betrieb, wurde am 21. März 1995 festgenommen und zu Tode gefoltert. Sein Leichnam tauchte rund zwei Monate nach seinem Verschwindenlassen in einem anonymen Grab in Istanbul auf.
Wasserwerfer, Gummigeschosse und Tränengas
Mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und Tränengas hatte die türkische Polizei am 25. August 2018 in der Bosporus-Metropole die Demonstration der Samstagsmütter aufgelöst. Die Frauen und Unterstützende wollten sich an diesem Tag zum 700. Mal zu ihrer wöchentlichen Mahnwache vor dem Galatasaray-Gymnasium im Stadtteil Beyoğlu versammeln, um Aufklärung über das Schicksal ihrer in den 1990er Jahren von Todesschwadronen verschwundengelassenen Angehörigen zu fordern. Innenminister Süleyman Soylu hatte die Kundgebung im Vorfeld wegen angeblichen Verbindungen zu einer „Terrororganisation“ verbieten lassen.
Emine Ocak wenige Tage nach dem Angriff auf die 700. Mahnwache. Mit Panzerwesten ausstaffierte Polizistinnen hatten das Gesicht der Samstagsmütter wie eine Schwerverbrecherin vom Galatasaray-Platz heruntergezerrt.
Innenminister verteidigt Polizeigewalt
„Hätten wir etwa die Augen davor verschließen sollen, wenn Mutterschaft von einer Terrororganisation ausgenutzt wird?“, begründete Soylu den brutalen Übergriff auf die Samstagsmütter und warf den Frauen vor, sich von Terrororganisationen instrumentalisieren zu lassen. Das 700. Treffen sei zudem in den sozialen Netzwerken von Gruppierungen beworben worden, denen er eine Nähe zur PKK unterstellte. Die Regierung wollte der „Ausbeutung und dem Betrug“ ein Ende setzen, so der Minister.
Dutzende Angehörige und Menschenrechtler festgenommen
47 Personen wurden damals vorübergehend festgenommen, neben Angehörigen von Verschwundenen auch etliche prominente Menschenrechtler*innen. Die Anklage richtet sich gegen 46 von ihnen: Koray Çağlayan, Koray Kesik, Leman Yurtsever, Levent Gökçek, Lezgin Özalp, Maside Ocak, Mehmet Günel, Muhammed Emin Ekinci, Ayça Çevik, Besna Koç, Cafer Balcı, Can Danyal Aktaş, Cihan Oral Gülünay, Cüneyt Yılmaz, Deniz Koç, Ercan Süslü, Ezgi Çevik, Faruk Eren, Fecri Çalboğa, Ferhat Ergen, Gamze Elvan, Hakan Koç, Hasan Akbaba, Hasan Karakoç, Jiyan Tosun, Kenan Yıldızerler, Murat Akbaş, Murat Koptaş, Onur Yanardağ, Osman Akın, Özer Oymak, Özge Elvan, Ramazan Bayram, Rüşa Sabur, Sadettin Köse, Adil Can Ocak, Ahmet Karaca, Ahmet Süleyman Benli, Ali Ocak, Ali Yiğit Karaca, Atakan Taşbilek, Ataman Doğa Kıroğlu, Sinan Arslan, Ulaş Bedri Çelik, Volkan Uyar und Saime Sebla Arcan.
Letztere gehört zum Vorstand der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD. Arcan bezeichnet das Verfahren gegen die Samstagsmütter als einen Versuch der Regierung, alle Verfechterinnen und Verfechter der Menschenrechte zu kriminalisieren. „Es handelt sich um ein politisch motiviertes Verfahren, das sich gegen alle Menschen, die Grundrechte und Freiheit einfordern, richtet.” Ein Prozess gegen mehrere Parlamentsabgeordnete der HDP und CHP, die sich an der 700. Mahnwache im August 2018 ebenfalls beteiligt hatten und von der Polizei angegriffen worden waren, wurde abgetrennt. Wann dieses Verfahren beginnt, ist weiter unklar.
Menschenrechtler*innen und Parlamentsabgeordnete verhindern unter prügelnden Polizisten die Festnahme von Arat Dink. Der armenische Journalist ist seit inzwischen 14 Jahren auf der Suche nach den Hintermännern des Mordes an seinem Vater Hrant Dink. Die HDP-Politikerin Hüda Kaya (mit grünem Kopftuch) setzt ihrem damaligen Fraktionskollegen Ahmet Şık die Brille zurecht.
Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei
Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei begann am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie und der Rechtsvertreter von Hasan Ocak auf dem Galatasaray-Platz. Der Familie von Hasan Ocak schloss sich dann die Familie von Rıdvan Karakoç an, dessen Leichnam die Familie erhielt, nachdem er für einige Zeit verschwunden gewesen und zu Tode gefoltert worden war. Die beim ersten Zusammentreffen dreißig Menschen zählende Gruppe wuchs mit jeder folgenden Woche. Später sollten sich Tausende am Galatasaray-Platz versammeln. Die Presse gab der Gruppe, die jeden Samstag auf dem Platz eine Sitzaktion durchführte, den Namen „Samstagsmütter“. Die Gruppe nahm den Namen an und begann sich selbst Samstagsmütter zu nennen.
Für ein kollektives historisches Gedächtnis
Wie die „Mütter des Platzes der Mairevolution“ in Argentinien haben auch die Samstagsmütter mehrere Forderungen: Sie wollen wissen, was den Opfern widerfahren ist, und sie wollen ihre Angehörigen zurück – tot oder lebendig. Mit dieser Forderung wird versucht, diese Menschenrechtsverletzungen des Staates im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten. Die zweite Forderung betrifft die Feststellung der Täter und die strafrechtliche Ahndung des Verbrechens.
Samstagsmütter setzen Protest virtuell fort
Seit dem 25. August 2018 wurde jede Mahnwache der Samstagsmütter durch die türkischen Behörden auf dem Galatasaray-Platz blockiert. Stattdessen versammelte sich die Initiative Woche für Woche vor der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in der kleinen Seitenstraße Çukur Çeşme, um nach dem Verbleib der Vermissten zu fragen – dann kam die Corona-Pandemie. Die Samstagsmütter sind allerdings entschlossen, ihren Protest fortzusetzen. Die Mahnwachen finden daher virtuell statt. Die Verweigerung des Vergessens durch die Samstagsmütter ist jedoch nicht nur auf Istanbul begrenzt geblieben, sondern hat sich auch auf kurdische Städte mit den höchsten „Verschwundenen-Raten“ wie Amed (Diyarbakır) und Şirnex (Şırnak) ausgebreitet. Dort finden ebenfalls Woche für Woche Sit-ins statt, um auf das Schicksal der zu tausenden Verschwundengelassenen aufmerksam zu machen.