Istanbuler Samstagsmütter setzen sich durch: Wo sind die Verschwundenen?

Zum ersten Mal seit über fünf Jahren haben die Samstagsmütter an ihrem angestammten Kundgebungsort in der Istanbuler Innenstadt Aufklärung über ihre nach der Festnahme verschwundenen Angehörigen gefordert.

Die Istanbuler Samstagsmütter haben sich durchgesetzt: Nach jahrelanger Polizeiblockade und allwöchentlichen Festnahmen zogen die Aktivistinnen mit ihren Unterstützer:innen erstmalig wieder auf ihren angestammten Kundgebungsort vor dem Galatasaray-Gymnasium auf der Istiklal Caddesi, um Aufklärung über das Schicksal ihrer in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Angehörigen und die Bestrafung der Täter zu fordern. Mit dabei waren auch Rechtsanwältin Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, sowie der HEDEP-Politiker Musa Piroğlu und der TIP-Abgeordnete Ahmet Şık.


Ikbal Eren, deren Bruder Hayrettin Eren kurz nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 festgenommen wurde und seitdem verschwunden ist, wies bei der Kundgebung darauf hin, dass die Samstagsmütter zum ersten Mal seit 2018 auf dem Galatasaray-Platz sind. Sie bedankte sich bei allen, die in dieser Zeit an ihrer Seite waren. Thematisiert wurde heute der Fall von Abdülkerim Yurtseven, Mikdat Özeken und Münür Sarıtaş, die am 27. Oktober 1995 von Militärs festgenommen wurden und nie wieder aufgetaucht sind. Ihr Dorf Ağaçlı im Kreis Gever (tr. Yüksekova) wurde damals von Soldaten überfallen, die Menschen wurden auf dem Dorfplatz zusammengetrieben. Wie Ikbal Eren sagte, erfolgten die Festnahmen völlig willkürlich. Abdülkerim Yurtseven war 73 Jahre alt und konnte kaum laufen, Mikdat Özeken war 18 und Münür Sarıtaş erst 13 Jahre alt. Sie wurden in Armeefahrzeugen weggebracht. Als ihre Angehörigen in der Kommandantur der Militärpolizei in Gever nachfragten, wurde ihnen gesagt, dass die Festgenommenen nach 24 Stunden freigelassen werden. Später wurde die Festnahmen bestritten, Abdülkerim Yurtseven, Mikdat Özeken und Münür Sarıtaş blieben verschwunden.

Die am längsten andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams 

Die Samstagsmütter fordern seit über 28 Jahren Aufklärung über ihre in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Angehörigen. Es ist die am längsten andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams in der Türkei, die am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak begann. Geschätzt 17.000 Menschen, darunter Journalist:innen, Politiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen, „verschwanden“ in den achtziger und neunziger Jahren in der Türkei, vor allem in den kurdischen Regionen. Oftmals wurden ihre Leichen in geheime Massengräber auf Militärstützpunkten, aber auch auf Müllkippen oder in Brunnenschächte geworfen. Weder Polizei noch Justiz haben Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen.

Seit dem Widerstand im Istanbuler Gezi-Park 2013 sind Protestaktionen auf dem Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium verboten. Nur die Samstagsmütter durften hier weiter protestieren. Doch mit der Anschuldigung einer „Nähe zur PKK“ wurde am 25. August 2018 die 700. Mahnwache der Initiative verboten und gewaltsam aufgelöst. Seitdem waren alle Protestaktionen auf dem Galatasaray-Platz verboten. Der türkische Verfassungsgerichtshof entschied am 22. Februar 2023, dass das Versammlungsverbot rechtswidrig ist. Danach versuchten die Samstagsmütter und ihre Unterstützer:innen Woche für Woche, ihre Kundgebung auf dem Galatasaray-Platz abzuhalten. Monatelang wurden in der Istanbuler Innenstadt jeden Samstag Dutzende Menschen festgenommen, der Platz wurde von einem Großaufgebot der Polizei belagert. Vergangenen Samstag gab es erstmalig keine Festnahmen, heute wurde auch der Platz freigegeben. Der Kampf gegen die Praxis des Verschwindenlassens geht weiter.