Die türkische Polizei hat erneut die Initiative der Samstagsmütter in Istanbul angegriffen. Die Angehörigen von in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Menschen und ihre Unterstützer:innen wollten heute zum 970. Mal auf dem zentralen Galatasary-Platz Aufklärung und die Bestrafung der Täter einfordern, es kam zu rund zwanzig Festnahmen. Der Kundgebungsort wurde wie jeden Samstag bereits im Vorfeld von Sicherheitskräften belagert. Als die Angehörigen von Verschwundenen in Begleitung von Menschenrechtsaktivist:innen, der HEDEP-Abgeordneten
Kezban Konukçu und dem HDP-Politiker Musa Piroğlu sich dem Platz näherten, wurden sie von der Polizei umstellt und unter Einsatz von Gewalt in Handschellen gelegt und abgeführt. Journalist:innen wurden von der Polizei zurückgedrängt und an ihrer Arbeit gehindert. Die Festgenommenen zeigten im Gefangenentransporter das Victory-Zeichen. Auch die HEDEP-Abgeordnete Kezban Konukçu wurde gewaltsam zurückgedrängt, als sie den Polizeieinsatz dokumentieren wollte.
Der Menschenrechtsverein IHD hat sich in mehreren Städten der Türkei solidarisch mit den Samstagsmüttern gezeigt und die in Istanbul gewaltsam verhinderte Erklärung öffentlich verlesen. Die Samstagsmütter thematisieren jede Woche einen Fall von in staatlichem Gewahrsam Verschwundenen. In dieser Woche wurde der Fall von Hüseyin Toraman vorgestellt. Toraman wurde 1991 in Istanbul verschleppt und wird seitdem vermisst. Die Zweigstellen des IHD in Riha (tr. Urfa), Wan, Adana, Antalya und Izmir forderten eine lückenlose Aufklärung des Falles und eine Verurteilung der staatlichen Verantwortlichen.
Amnesty International startet Eilaktion
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat unterdessen eine Eilaktion zur Unterstützung der Samstagsmütter gestartet und fordert zu schriftlichen Appellen an den türkischen Innenminister auf. In dem vorgeschlagenen Text heißt es:
„Die sogenannten Samstagsmütter/-leute werden Woche für Woche daran gehindert, sich friedlich auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zu versammeln und an diesem für sie symbolträchtigen Ort Gerechtigkeit für ihre ,verschwundenen' Angehörigen zu fordern. In den vergangenen Wochen hat die Bereitschaftspolizei bei Festnahmen erneut unnötige Gewalt angewandt. Zudem weitete sie ihren Sicherheitsgürtel um den Platz aus, sodass unabhängige Beobachtung durch Journalist:innen und zivilgesellschaftliche Organisationen nicht mehr möglich ist.
Mit der wiederholten willkürlichen Festnahme und Inhaftierung von Angehörigen der Samstagsmütter/-leute wird jeden Samstag aufs Neue gegen ihre verfassungsmäßigen Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung verstoßen, was so auch in den Urteilen im Fall von Maside Ocak (Nr. 2019/21721) und Gülseren Yoleri (Nr. 2020/7092) festgestellt wurde. Diese Rechte sind zudem in Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 19 und 21 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) verbrieft, deren Vertragsstaat die Türkei ist. Auch verstößt ihre willkürliche Festnahme und Inhaftierung gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person, welches durch Artikel 9 des IPbpR geschützt ist.
Bitte sorgen Sie dafür, dass die Polizei es den Samstagsmüttern/-leuten sowie anderen friedlich Protestierenden erlaubt, sich auf dem Galatasaray-Platz zu versammeln. Die Polizei sollte friedliche Demonstrierende schützen, damit diese ihr Recht auf friedliche Versammlung ausüben können, ohne exzessive Gewaltanwendung oder willkürliche Festnahme und Inhaftierung befürchten zu müssen. Entsprechend der jüngsten Urteile des Verfassungsgerichts (Fälle Nr. 2019/21721 und 2020/7092) fordere ich Sie außerdem auf, den Gouverneur von Beyoğlu anzuweisen, das Verbot aufzuheben und keine neuen Verbote für Versammlungen auf dem Galatasaray-Platz zu verhängen.“