Erstmals seit der versuchten Wiederaufnahme der Mahnwachen der „Samstagsmütter“ im vergangenen April hat es an diesem Sonnabend keine Festnahmen in der Innenstadt von Istanbul gegeben. Der Galatasaray-Platz am Rande der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi blieb dennoch eine verbotene Zone für die Initiative. Die Polizei forderte die Gruppe unter Androhung von Gewalt auf, den Platz zu verlassen. Dabei verwies die Einsatzleitung wie schon in den Monaten zuvor auf ein vom örtlichen Landratsamt erteiltes Versammlungsverbot. Die Samstagsmütter und ihre Unterstützenden zeigten sich unbeeindruckt von der Anordnung. Erst nachdem rote Nelken auf dem abgeschirmten Galatasaray-Platz niedergelegt wurden, zogen sie sich wieder zurück.
Es war die 971. Mahnwache der Samstagsmütter seit Gründung der Initiative im Jahr 1995 und galt der Ermordeten von Kerboran. Die Stadt in der Provinz Mêrdîn, deren türkischer Name Dargeçit lautet, und die bis zum Völkermord an den Armenier:innen und Suryoye 1915 hauptsächlich christlich besiedelt war, zählt zu jenen, die einen Großteil der Opfer des staatlichen „Verschwindenlassens“ forderte.
Seit den 80ern gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit dieser Praxis machte das Land spätestens nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er, als der schmutzige Krieg gegen die PKK besonders blutig war, erreichte die Methode des „Verschwindenlassens” ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte – während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt.
Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist – und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.
Drei Kinder unter den Verschwundenen von Kerboran
Sieben von tausenden Opfern dieses schmutzigen Krieges des türkischen Staates waren Davut Altunkaynak (12), Seyhan Doğan (13), Nedim Akyön (16), Mehmet Emin Aslan (19), Abdurrahman Olcay (20), Abdurrahman Coşkun (21) und Süleyman Seyhan (57). Sie waren am 29. Oktober 1995 in Kerboran von Soldaten verschleppt worden und zunächst verschwunden geblieben. Vier Monate nach ihrer Entführung fand man in einem Brunnen die Leiche von Süleyman Seyhan. Er war verbrannt worden – unklar blieb jedoch, ob er zu dem Zeitpunkt noch lebte. Außerdem fehlte der Schädel des Kurden. Bis die sterblichen Überreste der übrigen Verschwundenen gefunden wurden, sollten noch Jahre vergehen. Erst im Frühjahr 2013 fand man in Kerboran ein Massengrab, in dem der zwölfjährige Davut Altunkaynak, der ein Jahr ältere Seyhan Doğan sowie Nedim Akyön, Mehmet Emin Aslan, Abdurrahman Olcay und Abdurrahman Coşkun verscharrt worden waren. Ein daraufhin angestrengtes Verfahren gegen achtzehn Verdächtige der Morde von Kerboran endete 2022 mit Freisprüchen.