Insbesondere in der nordkurdischen Provinz Êlih (tr. Batman) trieb die türkische Hizbullah in den 1990er Jahren ihr Unwesen. In unterirdischen Folterkellern ermordete und verstümmelte die vom Staat kontrollierte islamistische Todesschwadron unzählige Menschen. Die Leichen vieler ihrer Opfer bleiben bis heute verschwunden. Während die Angehörigen bei ihren Mahnwachen für die Opfer von der Polizei angegriffen und abgedrängt werden, sind nun vier Abgeordnete der Hizbullah-Partei HÜDA-PAR auf der Liste der AKP ins Parlament eingezogen. Die Angehörigen sind verzweifelt und wütend. Eine von ihnen ist Feryal Çelik. Ihr Vater und ihr Bruder wurden in Êlih von der Hizbullah verschleppt und sind seitdem „verschwunden“.
Seit 29 Jahren in Trauer
Im ANF-Gespräch berichtet sie, wie ihr Vater und ihr Bruder am 10. Juli 1994 „verschwanden“. Sie befinde sich seitdem in Trauer, erklärt Feryal Çelik und erinnert sich an die Momente, die sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben haben: „Mein Bruder Edip war aus Antalya in unser Dorf gekommen. Es war die Nacht des 10. Juli 1994. Wir waren zu Hause. Als ich die Tür öffnete, standen vier oder fünf maskierte und bewaffnete Personen vor mir. Sie fragten nach einer Adresse im Dorf und wollten, dass mein Vater sie dorthin bringt. Meine Mutter sagte meinem Vater immer wieder, er solle nicht gehen. Mein Vater aber antwortete, er würde ihnen die Adresse zeigen und dann wieder zurückkommen. Mein Bruder war bei meinem Onkel. Als er zurückkam, fragte er nach meinem Vater. Als meine Mutter ihm sagte, dass maskierte Männer gekommen waren und meinen Vater mitgenommen hätten, damit er ihnen eine Adresse zeige, sprang er sofort auf, um ihm nachzulaufen. Auch vom Drängen meiner Mutter ließ er sich nicht abhalten. Seine letzten Worte waren: ‚Ich kann meinen Vater nicht aufgeben.‘ Wir haben nie wieder etwas von meinem Vater oder meinem Bruder gehört.“
„Wie Schlachtvieh ermordet“
Feryal Çelik erfuhr, dass in derselben Nacht auch Menschen aus umliegenden Dörfern verschleppt worden waren. Am nächsten Tag seien sie zur Polizei und Militärpolizei gegangen, wurden dort aber nur mit den Worten verhöhnt: „Warum kommt ihr hierher und fragt nach euren Verschwundenen, geht und fragt woanders.“ Çelik berichtet, dass die Hizbullah in der Folge ihre Präsenz noch erhöht habe: „Die Hizbullah lief ganz offen im Dorf herum. Sie hinterließen Zettel an den Türen der Häuser, auf denen stand: ‚Diese Person wird sterben.‘ Einer unserer Nachbarn wurde auf dem Weg von der Arbeit nach Hause mit einer Pistole attackiert. Sie zwangen ihn durch Drohungen, den Ort zu verlassen. Sie entführten und ermordeten Sabri Şeker, einen entfernten Verwandten von uns. Er hatte versucht, die Menschen zum Bleiben zu bewegen. Die Adresse, nach der die maskierten Männer, die meinen Vater mitnahmen, in jener Nacht gefragt hatten, war das Haus von Sabri Şekers Bruder. Şekers Leiche wurde ein paar Tage nach der Entführung gefunden. Er war wie Schlachtvieh gefesselt und mit einer Tüte über dem Kopf ermordet worden.“
„Alle juristischen Schritte blieben ergebnislos“
Obwohl die Mörder namentlich bekannt sind, sei nichts geschehen, sagt Çelik und fährt fort: „Wir erstatteten Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen die Hizbullah-Mitglieder Talat Rüzgâr, Aziz Önlük, Ilhan Önlük, Resul Güneş und Çetin Dursun, aber die Anträge waren ergebnislos; von Ibrahim und Edip Çelik haben wir nie wieder etwas gehört.“
„In diesem Land gibt es keine Gerechtigkeit“
Nachdem Feryal Çelik nach Istanbul migrierte, schloss sie sich der Initiative der Samstagsmütter an und nahm an ihren Mahnwachen teil. Seit 29 Jahren sucht sie die sterblichen Überreste ihres Vaters und ihres Bruders. Sie entrüstet, dass einerseits den Müttern selbst die Mahnwache am Galatasaray-Platz verboten wird, andererseits der politische Arm der Hizbullah, die HÜDA-PAR, ins Parlament einzieht: „Sie haben uns nicht nur die Leichen unserer Angehörigen nicht gegeben, sondern uns auch den Galatasaray-Platz, auf dem wir unsere Verschwundenen zurückfordern, genommen. Die Regierung belohnt sie [die Täter] mit Abgeordnetensitzen. So etwas wie Menschenwürde gibt es hier nicht. Wir werden festgenommen, aber diese Leute können ins Parlament einziehen. Wir sind im Recht und werden trotzdem über den Boden geschleift. Aber sie kommen ins Parlament. Es gibt keine Gerechtigkeit in diesem Land.“