Bei den Parlamentswahlen vom 14. Mai in der Türkei wurden vier Abgeordnete der HÜDA-PAR auf der Liste der AKP gewählt. Mit dem Einzug der HÜDA-PAR ins Parlament geriet ihr Verhältnis zu der als „kurdische Hisbollah“ bekannten islamistischen Gruppe in den Fokus der öffentlichen Debatte. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte, dass die HÜDA-PAR der Staatsraison entsprechend die Gesellschaftsstruktur in Kurdistan verändern und in Zukunft konservativer gestalten werde.
Der Anthropologe Adnan Çelik erklärte auf Anfrage gegenüber ANF zu Soylus Äußerungen: „Es gibt eine ganz klare Kontinuität zwischen der Hisbollah und der HÜDA-PAR. Es gibt eine Kontinuität in Bezug auf die Gründungskader und das ideologische Engagement, aber es gibt auch einige Brüche. Die Hisbollah wurde in den späten 70er Jahren gegründet, und soweit wir aus den Dokumenten und Bekenntnissen, die vor allem in den 90er Jahren auftauchten, wissen, handelt es sich um eine paramilitärische Organisation, die sehr stark mit dem tiefen Staat zusammenarbeitete und ein systematisches Gewaltrepertoire anwandte, um die zivile und politische Mobilisierung der kurdischen Bewegung auszuschalten. Die Praxis der Hisbollah in den 90er Jahren war sogar eine Art Avatar für die dschihadistischen islamistischen Organisationen, die im Bürgerkrieg in Syrien stark in Erscheinung traten.
Andererseits gibt es nach dem Zusammenbruch der Hisbollah Anfang der 2000er Jahre und der Schließung des Vereins Mustazaf-Der, die ihre Fortsetzung im zivilen Bereich war, die Hür Dava Partisi (Partei der freien Sache), eine politische Partei, die 2012 gegründet wurde und auch an Wahlen teilgenommen hat. Die Tatsache, dass HÜDA-PAR, was als Abkürzung des Parteinamens verwendet wird, und Hisbollah dasselbe bedeuten, kann als eine der klaren Implikationen dieser Kontinuität gelesen werden. Kurz gesagt, Hisbollah und HÜDA-PAR sind keine völlig unabhängigen Organisationen, aber sie sind auch keine Organisationen, die aufeinander reduziert oder vollständig miteinander identifiziert werden können. Ein bedeutender Teil der Kader und der politischen Basis von HÜDA-PAR stützt sich auf die Hisbollah, aber man kann nicht sagen, dass alle Menschen, die HÜDA-PAR gewählt haben oder einige von HÜDA-PAR organisierte islamische Veranstaltungen besuchen, Hisbollah-Anhänger sind."
Die Hisbollah hat ein geringeres Gewaltpotential als in den 90er Jahren
Adnan Çelik unterstreicht, dass Soylus Erklärungen eine aktualisierte Version der gesellschaftlichen und politischen Version der Mission sind, die der Hisbollah im Zusammenhang mit der Mobilisierung paramilitärischer Gewalt in den 90er Jahren zugeschrieben wurde, dieses Mal der HÜDA-PAR: „Die Erklärung von Süleyman Soylu zeigt uns ein Bekenntnis zu einer Art aktueller und legaler Version der Beziehungen zwischen Staat und Hisbollah in den 90er Jahren. Zur Erinnerung: Die Hisbollah war eine Gewaltmaschinerie, die mobilisiert wurde, um den gesellschaftlichen Widerstand zu unterbrechen und zu bekämpfen, der in den Städten gleichzeitig mit dem bewaffneten Kampf der kurdischen Bewegung aufkam und den wir damals als die Zeit der Serhildan [Erhebung, Volksaufstand] definierten. Doch auch wenn die Hisbollah heute die Erinnerung an die Gewalt der 90er Jahre wie einen drohenden Knüppel zur Einschüchterung nutzt, verfügt sie nicht über die Gewaltfähigkeit, die sie in den 90er Jahren hatte. Spätestens seit dem Syrienkrieg wissen wir, dass ein Teil des radikalen Flügels der Hisbollah zu Organisationen wie al-Nusra und IS übergelaufen ist. Die Legalisierungs- und Zivilisierungsbestrebungen, die sich durch HÜDA-PAR abzeichnen, haben also auch mit der Schwächung dieser gewalttätigen Macht in den 90er Jahren zu tun."
Die AKP hat eine neue Agenda
Der Anthropologe Çelik stellt auch fest, dass die AKP in diesem Sinne andere strategische Ziele verfolgt als HÜDA-PAR: „Wenn man bedenkt, dass die AKP heute weitgehend mit dem Staat identifiziert wird, denke ich, dass es strategische Ziele für die Staatsraison gibt, die HÜDA-PAR zu unterstützen, das heißt, einer politischen Partei mit rund 200.000 Stimmen vier Abgeordnete zu geben und sie in ihr eigenes Machtbündnis einzubinden.
Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 wurde die Gülen-Organisation weitgehend aufgelöst. Diese Organisation war jahrelang in Kurdistan organisiert und hatte ein riesiges Netzwerk geschaffen, um die kurdische Jugend in eine rein türkische, sunnitische, islamistische Ideologie zu lenken. Eine der Bedingungen, die dieses Netzwerk ermöglichten, war, dass der Staat ihm stillschweigend Raum und Unterstützung gewährte. Denn jeder Versuch, das von der kurdischen politischen Bewegung geschaffene Identitätserwachen zu verhindern oder zu verlangsamen, wurde vom Staat gefördert. Mit der Liquidierung der Gülen-Organisation entstand in Kurdistan eine Art Vakuum. Der Staat versuchte, diese Lücke zu füllen, indem er einigen Sekten, zum Beispiel Menzil, und Gemeinschaften Raum gab, aber er sah auch die Notwendigkeit, ein islamistisches und konservatives politisches Gegenkraftfeld zu den demokratischen, säkularen und identitätsbasierten politischen Forderungen der kurdischen Bewegung zu schaffen. Denn die Beendigung des Friedensprozesses und die Politik der politischen Kriminalisierung im kurdischen Bereich, insbesondere seit 2016, haben die politische Legitimität der AKP ernsthaft geschwächt, und es gab eine große Enttäuschung unter den Akteuren, die die kurdische Frage auf einer islamischen Achse, als muslimische Gemeinschaft, behandeln.
Hinzu kommt der wachsende Nationalismus durch die MHP, ein Mitglied der Volksallianz [Bündnis der Regierungspartei AKP mit nationalistischen und islamistischen Parteien], und der Staat hat keine Basis und keinen politischen Akteur, den er um die Vorstellung einer islamischen Umma in Kurdistan herum mobilisieren kann. Soweit ich sehe, will die AKP-Regierung den Raum, den die Gülen-Organisation hinterlassen hat, mit Sekten und Gemeinden beim Aufbau ihrer gesellschaftlichen und bürokratischen Säulen sowie mit der HÜDA-PAR auf der politischen Bühne füllen. Die ersten Schritte dieser Strategie haben wir in der aktiven Beteiligung der HÜDA-PAR an der ,zivilen' Mobilisierung nach dem Putschversuch und in der aktiven Beteiligung der Bürokratie in den Bereichen Bildung und Kultur gesehen. Heute kann man zum Beispiel die aktive Rolle der HÜDA-PAR im nationalen Bildungsministerium und in den kulturellen Aktivitäten des Gouverneursamtes in Diyarbakır sehen."
Pläne für die Kommunalwahlen in Kurdistan
Çelik unterstreicht, dass HÜDA-PAR ein wichtiges Erbe der Hisbollah ist und diese Struktur nicht bei vier Abgeordneten stehen bleiben wird. Denkbar sei, dass es insbesondere für die Kommunalwahlen Pläne gebe: „Die Beziehung und Zusammenarbeit zwischen AKP und HÜDA-PAR sollte natürlich nicht als einseitig betrachtet werden. Die kollektive Erinnerung an die Gewalt der Hisbollah in den 90er Jahren ist in der kurdischen Gesellschaft noch sehr frisch, und HÜDA-PAR wird weitgehend als Erbe dieser Organisation angesehen. Für die HÜDA-PAR, die über eine extrem kleine und isolierte gesellschaftliche Basis verfügt, geht es darum, die von der Regierung gebotenen Möglichkeiten zur Legitimierung und Mobilisierung an der Basis bestmöglich zu nutzen. Für die AKP hingegen wird eine kurdische und islamische politische Bewegung, die keine Bedrohung für die einheitliche Struktur des Staates durch islamische und konservative Partnerschaften darstellt und die sie unter Kontrolle halten kann, als ein Mittel zur Aufrechterhaltung der staatlichen Legitimität angesehen. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Beziehung zwischen AKP und HÜDA-PAR in einer politisch-politischen Konfiguration, in der die kurdische politische Bewegung vollständig kriminalisiert und ihre lokalen Organisationsnetzwerke durch das Zwangsverwaltungsregime zerschlagen werden, einen Win-Win-Charakter hat. Hinzu kommt, dass es im Parlament einen extrem rechten, konservativen und nationalistischen Block gibt, der aus einer Koalition von AKP, MHP, YRP und HÜDA-PAR besteht.
In diesem Zusammenhang besteht das Hauptziel des mit dem Einzug von vier HÜDA-PAR-Abgeordneten ins Parlament begonnene Prozess meines Erachtens darin, die Ortschaften in Kurdistan zu organisieren. Es gibt zivilgesellschaftliche Netzwerke und einige Initiativen in den Ortschaften in Kurdistan, es wird soziale Hilfe verteilt, und im Grunde genommen gibt es den Plan, sich dort über die Kommunalwahlen noch stärker zu etablieren und auszubreiten. Ich glaube, dass die AKP bei den kommenden Kommunalwahlen wahrscheinlich Personen, die der HÜDA-PAR nahe stehen, als Kandidaten fördern und unterstützen wird. Aber wir kennen auch die Realität in Kurdistan, das Stimmenpotenzial der HÜDA-PAR ist extrem schwach. Möglich ist daher auch, dass über das Treuhänderregime gewählte kurdische Mandatsträger aus irgendwelchen unrechtmäßigen Gründen aus ihren Ämtern entfernt werden und dann eine aktive Zusammenarbeit beginnt. Das könnte in Form der Auswahl von Zwangsverwaltern aus Personen geschehen, die der HÜDA-PAR nahe stehen, oder in Form der Ernennung offizieller staatlicher Bürokraten als Treuhänder und der Realisierung der lokalen Profitverteilung durch die Netzwerke von HÜDA-PAR. In diesem Sinne ist die Bedeutung, die die AKP der HÜDA-PAR zuschreibt, nicht auf die Parlamentswahlen beschränkt. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass sie darauf abzielt, ihre Machtorganisation lokal vor allem durch HÜDA-PAR auszubauen."
Islamistisch-konservatives Alltagsregime gegen die kurdische Bewegung
Çelik weist auch darauf hin, dass die HÜDA-PAR vor Ort in Kurdistan für einen Alltag sorgen wird, der den politischen Islamismus hervorbringt und fördert, genau wie das Bekenntnis von Soylu: „Sie versuchen, ein islamistisch-konservatives Alltagsregime gegen die kurdische Bewegung in den Ortschaften zu etablieren. Denn das Empowerment der Frauen in den lokalen Regierungen, die Öffnung von Räumen für junge Menschen, um sich auszudrücken, die Verwirklichung einer Reihe von kulturellen, künstlerischen und literarischen Aktivitäten, die der kurdischen Kultur, Geschichte und dem Aufbau eines kurdischen Bewusstseins dienen, waren die Hauptmechanismen, die die politischen Eigenschaften der Menschen verändert haben.
Mit dem Treuhandregime hat der Staat diese Mechanismen weitgehend rückgängig gemacht. Ich denke jedoch, dass sie dieses Mal versuchen, diese Mechanismen mit einem mehr regierungsfreundlichen, islamistischen und sektiererischen Konservatismus durch HÜDA-PAR aufzubauen. In gewissem Sinne scheint HÜDA-PAR derzeit ein Kandidat zu sein, der mit der AKP und dem Staat zusammenarbeitet, um ein neues ideologisches und konfessionelles Verständnis zu schaffen, das darauf abzielt, den Einflussbereich der kurdischen politischen Bewegung in Kurdistan einzuschränken. Es ist jedoch schwer vorherzusagen, ob diese Agenda in der Realität umgesetzt werden kann. In Anbetracht der gesellschaftlichen Mobilisierungsfähigkeit der kurdischen politischen Bewegung und der Unzufriedenheit eines bedeutenden Teils der Kurdinnen und Kurden mit der AKP-Regierung scheint es unwahrscheinlich, dass dieses Ziel zumindest kurzfristig erreicht werden kann."