Mehr als je zuvor in den letzten zwei Jahrzehnten steht die Türkei an einem Wendepunkt. Am 14. Mai wird das Land ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten wählen. Der autokratische Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan, der seine zunehmend autoritäre Regierung in den letzten einundzwanzig Jahren gefestigt hat, führt den Wahlkampf mit Hilfe aller von ihm kontrollierten staatlichen Institutionen. Es bleibt abzuwarten, ob die Kurdinnen und Kurden und die Opposition trotz Erdoğans Bemühungen, sich an die Macht zu klammern und einen demokratischen Übergang zu vereiteln, sich Gehör verschaffen können.
„Bei diesen Wahlen treten nicht nur [türkische] Bündnisse und Kandidaten gegeneinander an“, erklärte Erdoğan am 13. April auf einer Kundgebung in Malatya nach dem tödlichen Erdbeben, das nach offiziellen Angaben landesweit mehr als fünfzigtausend Menschen das Leben kostete: „Der Westen gibt bei diesen Wahlen Anweisungen. Es konkurrieren zudem zwei verschiedene Mentalitäten, zwei verschiedene Ziele für die Türkei.“ Er fuhr fort: „Diese Wahlen werden nicht nur über die nächsten fünf Jahre entscheiden, sondern auch das nächste Vierteljahrhundert, das nächste halbe Jahrhundert unseres Landes und unserer Nation.“
Zweifellos hörte nur ein kleiner Teil der Menschen in diesem von der Katastrophe betroffenen Gebiet Erdoğan zu: Die meisten waren damit beschäftigt, nach dem Erdbeben vom 6. Februar eine Unterkunft zu finden und sich wieder eine Zukunft aufzubauen. Nicht nur in Malatya, sondern fast überall in der Türkei machen sich die Menschen mehr Sorgen um ihre Lebensgrundlagen als um die Wahlen. Doch die Menschen wissen auch, dass die Wahl entscheidend für ihre Zukunft ist.
Erdoğans Politik hat der Türkei nichts zu bieten. Die Hoffnung, die er bei seinem Amtsantritt im Jahr 2002 mit dem Versprechen wecken konnte, das Land nach einem verheerenden Erdbeben wieder auf die Beine zu bringen, ist inzwischen vollständig verpufft. Der größte Teil der natürlichen Ressourcen der Türkei wurde in den letzten einundzwanzig Jahren geplündert. Die ohnehin schwache Demokratie wurde bis auf ein paar letzte Überbleibsel demontiert. Die wenigen Rechte, die Frauen genießen, wurden stark beschnitten – so zum Beispiel mit dem Austritt der Türkei aus der Istanbuler Konvention gegen geschlechtsspezifische Gewalt oder den Verhaftungswellen der letzten Jahre, die sich gegen Frauen im Journalismus, in der Zivilgesellschaft und in der Politik richteten (insbesondere Frauen der Demokratischen Partei der Völker, oder HDP).
Die Natur wurde von Profiteuren ausgebeutet, während die meisten Menschen am Rande der finanziellen Katastrophe stehen. Dementsprechend haben Millionen Menschen in der heutigen Türkei akute Angst um ihre Zukunft. Neben der hohen Arbeitslosigkeit berauben die explodierenden Kosten für Lebensmittel und Mieten die Menschen ihrer Lebensgrundlagen. Die reale Inflationsrate soll laut den unabhängigen Ökonomen von ENAG mehr als doppelt so hoch sein wie die offizielle Zahl von 50 Prozent – das ist größtenteils eine Folge der chronischen finanziellen Misswirtschaft unter Erdoğans Präsidentschaft.
Die türkische Gesellschaft befindet sich am Abgrund und steht vor einer schweren Entscheidung. Die Menschen sind zutiefst unzufrieden, genau wie vor dem politischen Umbruch vor zwei Jahrzehnten, der Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an die Macht brachte. Die Frage ist nun, ob es überhaupt möglich ist, Erdoğan die Macht zu entziehen.
Krieg im Ausland, Katastrophe im eigenen Land
Am 11. April verkündete Erdoğan in Ankara das Wahlprogramm seiner Partei und versprach, endlich das umzusetzen, was er einundzwanzig Jahre lang in Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Technologie und Wirtschaft nicht erreicht hatte. Die Wählenden waren sich der Ironie schmerzlich bewusst, als er versprach, dass „wir unser Land definitiv von diesem Problem befreien [werden], indem wir die Inflation auf eine einstellige Zahl zurückbringen“ – und dabei bequemerweise seine eigene Rolle in der Verschlimmerung eben dieser Krise ausblendete.
In Wahrheit sind die Kriege der Türkei im Ausland und der damit verbundene Autoritarismus im Inland nicht billig zu haben. Der eigentliche Grund für die schwerwiegenden Probleme des Landes lässt sich auf die autoritäre Politik Erdoğans – und damit des türkischen Staates – gegenüber dem kurdischen Volk zurückführen. Die Forderungen der Kurdinnen und Kurden nach kulturellen und politischen Rechten werden zu einer Frage der „Sicherheit” degradiert, wobei sie als innerer Feind ins Visier genommen werden. Bestehende antidemokratische Maßnahmen werden mit einem willkürlichen Anti-Terror-Gesetz kombiniert, das zu massiven Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen das Völkerrecht führt. Darüber hinaus wurden alle Ressourcen des Landes in den Dienst des Krieges gegen die Kurden gestellt, sowohl in der Türkei selbst als auch in den Nachbarländern Syrien und Irak. Auf internationaler Ebene haben diese wiederholten Verstöße gegen das Völkerrecht jedoch bisher kaum ernsthaften politischen, diplomatischen oder rechtlichen Widerstand hervorgerufen.
Im Gegenteil: Auf allen Ebenen der internationalen Politik erpresst Erdoğan andere politische Akteure, um Kritik an seinem Krieg gegen das kurdische Volk zu vermeiden. Vom Flüchtlingsabkommen, mit dem er Druck auf die Europäische Union ausübte, bis zu den Gesprächen über die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands, bei denen er das Veto der Türkei für Zugeständnisse nutzte, die seine eigenen Angriffe auf die Kurden ermöglichten, übt er unter dem Deckmantel der Diplomatie eine rücksichtslose Politik des Zwangs aus. Leider sind die Mächte im Ausland wiederholt vor seinen Forderungen eingeknickt.
Wir können hier ein Zwischenfazit ziehen: Einer autoritären Regierung, die die Wirtschaft durch eine vorsätzlich fehlgeleitete Politik an den Rand des Zusammenbruchs geführt hat, die langwierige Angriffe auf die Demokratie im eigenen Lande unternommen hat, die mit Krieg und Gewalt eine antikurdische Politik verfolgt und dennoch von den internationalen Mächten aufgrund ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen toleriert wird, droht eine Wahlniederlage.
Eine Niederlage Erdoğans könnte die internationalen Beziehungen der Türkei normalisieren und die Tür für einen demokratischen Wiederaufbau öffnen. Doch bis zum Wahltag ist es kaum vorhersagbar, wie er agieren wird. Eines seiner charakteristischen Merkmale ist seine Unberechenbarkeit. Kaum jemand glaubt derzeit, dass Erdoğan durch Wahlen gestürzt werden kann. Erdoğan hat sich immer wieder mit allen ihm zur Verfügung stehenden staatlichen Mitteln gegen seine Absetzung gewehrt. Dabei ist es ihm insbesondere gelungen, einen der wichtigsten politischen Akteure seines Landes nahezu auszuschalten.
Demokratische Partei der Völker
Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 steigerte die linke HDP ihren Stimmenanteil mit mehr als sechs Millionen Stimmen auf 13,1 Prozent. Damit überschritt sie die für den Einzug ins türkische Parlament erforderliche 10-Prozent-Hürde (auch „antikurdische Hürde“ genannt) und stellte fortan achtzig Abgeordnete im Parlament. Dadurch wurde verhindert, dass Erdoğans AKP eine parlamentarische Mehrheit erlangte, mit der er die Verfassung zu seinen Gunsten hätte verändern können. Erdoğan erklärte daraufhin die Wahlergebnisse für null und nichtig und berief Neuwahlen für den 1. November 2015 ein.
In den fünf Monaten vor den Neuwahlen führte Erdoğan einen systematischen Rachefeldzug gegen die HDP und die Kurdinnen und Kurden durch. Kurdische Städte im Südosten der Türkei, in denen die HDP einen hohen Stimmenanteil hatte, wurden vom türkischen Militär und den Sicherheitskräften belagert und bombardiert, wobei Hunderte von Menschen ihr Leben verloren. Statt das Land zu demokratisieren – Schritte in diese Richtung standen im Mittelpunkt des Friedensprozesses 2013-2015 zwischen Erdoğan und dem türkischen Staat auf der einen Seite und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihrem Anführer Abdullah Öcalan auf der anderen Seite – setzte die Regierung Erdoğan auf Krieg, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Erdoğan hatte der HDP in einem zweijährigen Dialogprozess Raum für die Vermittlung zwischen den beiden Seiten gegeben. Das fand 2015 jedoch ein abruptes Ende.
Die systematische Unterdrückung hat seitdem zur Inhaftierung von mehr als fünfzehntausend HDP-Mitgliedern geführt. Mehr als viertausend von ihnen befinden sich noch immer in türkischen Gefängnissen. Auch Tausende anderer politischer Gefangener sind heute in der Türkei inhaftiert. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Dutzenden von Gemeinden, die die HDP in zwei aufeinanderfolgenden Kommunalwahlen gewonnen hatte, wurden kurzerhand ihres Amtes enthoben, inhaftiert und durch von Erdoğan ernannte Treuhänder ersetzt.
Doch damit nicht genug: Parallel zum Kobani-Prozess, der die HDP kriminalisieren soll, hat Erdoğan wiederholt öffentlich erklärt, er wolle die HDP verbieten lassen. Tatsächlich läuft seit März 2021 ein Verfahren zum Verbot der Partei vor dem türkischen Verfassungsgericht. Eine solche Maßnahme würde auch für 451 HDP-Mitglieder ein Politikverbot bedeuten und zur Beschlagnahmung des finanziellen Vermögens der Partei führen.
Dieses willkürliche und politisch motivierte Verfahren ist nichts weniger als ein Versuch, die HDP vollständig von den Wahlen und der Politik auszuschließen. Die Erdoğan-Regierung übt enormen Druck auf das Verfassungsgericht aus, weshalb ein Verbot der HDP noch vor den Wahlen droht. So ist die HDP gezwungen, sich durch das politische und damit verbundene rechtliche Labyrinth der Erdoğan-Autokratie zu manövrieren. Aufgrund des drohenden Verbots hat die Partei beschlossen, über die Grüne Linkspartei, eine kleinere Partei innerhalb ihres Bündnisses, an den Wahlen teilzunehmen, die dem Verbot der HDP selbst entgehen dürfte. Die HDP wird ihre politische Erfahrung und organisatorische Stärke in die Grüne Linkspartei einbringen und damit eine Schlüsselrolle bei den Parlamentswahlen spielen.
Außerdem ist die HDP die führende politische Kraft im Bündnis für Arbeit und Freiheit. Dieses Bündnis hat beschlossen, keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, sondern Kemal Kılıçdaroğlu bei seiner Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen. Kılıçdaroğlu, der seit 2010 an der Spitze der kemalistischen und sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) steht, stammt aus einer kurdisch-alevitischen Familie und verspricht eine Rückkehr zu einem gestärkten Parlamentarismus. Die Unterstützung durch das Wahlbündnis, dem die HDP angehört, erhöht seine Chancen erheblich, sich bei den Wahlen gegen Erdoğan durchzusetzen.
Opposition
Man sollte dabei nicht vergessen, dass die beiden größten Blöcke bei den Wahlen, die von Erdoğan geführte Volksallianz und die von Kılıçdaroğlu geführte Nationale Allianz, beide im Wesentlichen nationalistisch geprägt sind. Das Bündnis der HDP, das drittgrößte, wird sehr wahrscheinlich eine entscheidende Rolle im Kampf um das Amt des Präsidenten spielen.
Die von Erdoğan geführte Volksallianz wird von den beiden ultranationalistischen Parteien (der Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP, und der Partei der Großen Einheit, BBP) sowie der paramilitärischen islamischen Partei der Freien Sache (HÜDA PAR) unterstützt, die in direkter Verbindung mit der als „kurdische Hisbollah“ bekannten islamistischen Gruppe steht, die im Dienste des türkischen Staates handelt. Die Nationale Allianz besteht aus einem Teil der Opposition, der auch als „Sechsertisch“ bekannt ist. Zu dem von Kılıçdaroğlu geführten Bündnis gehören die CHP (die größte Oppositionspartei), die nationalkonservative Iyi-Partei und vier kleinere Kräfte. Den Prognosen zufolge werden die Volksallianz und die Nationale Allianz jeweils rund 40 Prozent der Stimmen erhalten. Die 13 bis 14 Prozent, die die Grüne Linkspartei und die HDP-Allianz für Arbeit und Freiheit voraussichtlich erreichen werden, könnten somit Kılıçdaroğlu helfen, zum neuen Präsidenten der Türkei gewählt zu werden.
Das Bündnis für Arbeit und Freiheit will keinen neuen „Imperator“ wählen, der wie Erdoğan die Zukunft des Landes selbst bestimmt, sondern einen Präsidenten, der die Türkei in Richtung Demokratisierung führt. Umso wichtiger ist es, dass keines der beiden großen, nationalistischen Bündnisse eine absolute Mehrheit im Parlament erreicht. Sollten die Grüne Linkspartei und die Allianz für Arbeit und Freiheit, wie prognostiziert, bis zu achtzig Abgeordnete gewinnen, wird künftige Gesetzgebung auf ihre Unterstützung angewiesen sein. Die zentralen Erwartungen der HDP und ihrer Verbündeten sind die Beendigung der staatlichen Kriegs- und Gewaltpolitik gegen das kurdische Volk, die erneute Umsetzung der den Bürgerinnen und Bürgern der Türkei geraubten demokratischen Grundrechte, die Freilassung aller politischen Gefangenen und letztlich die Schaffung eines Weges in eine gemeinsame demokratische Zukunft.
Erdoğan hat den Wählenden nichts zu bieten und keine Vision für die Zukunft. Seine einzige Chance, politisch zu überleben, besteht darin, den Staatsapparat, den er durch seine autoritären Maßnahmen unter Kontrolle gebracht hat, gegen eine mögliche demokratische Wende einzusetzen. Es bleibt daher leider schwer vorherzusagen, was Erdoğan, der die Ressourcen des Staates eisern im Griff hat, bis zum 14. Mai tun wird. Die HDP, die heute von der völligen Unterdrückung bedroht ist, und damit auch die Grüne Linkspartei und das kurdische Volk, werden dennoch ihre Rolle spielen und alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um das Land trotz der schweren Repressionen in Richtung Demokratie zu bewegen. Wie es weitergeht, hängt vom Willen der übrigen türkischen Wählerschaft ab – und davon, ob sie weiterhin im Autoritarismus leben oder der Demokratie eine Chance geben will.
Hinweis: Der Text von Devriş Çimen erschien zuerst im JACOBIN-Magazin und wurde von Daniel Kopp übersetzt.
Foto: Anonyme Begräbnisstätte eines nicht identifizierten Kindes, das beim Erdbeben in Maraş (ku. Gurgum) gestorben ist und in einem Massengrab beigesetzt wurde. Auf dem hölzernen Grabstein steht geschrieben: „Kind 582, Mädchen, ohne Angehörige“ © MA