Im Gefängniskomplex Sincan in Ankara sollte an diesem Dienstag die 21. Hauptverhandlung in dem als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess gegen führende Politikerinnen und Politiker der HDP beginnen. Bedingt durch das verheerende Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet wurde die Sitzungswoche verschoben. Das teilte das zuständige Gericht in der türkischen Hauptstadt mit.
Drei Sitzungstage waren für diese Prozesswoche vorgesehen, an deren Ende die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer halten wollte. Dabei ist die Verteidigung der Angeklagten noch gar nicht abgeschlossen. Offenbar soll der politische Schauprozess so schnell wie möglich beendet werden. Die HDP rief die demokratische Öffentlichkeit daher zur solidarischen Prozessbegleitung auf. Der Prozess steht in engem Zusammenhang mit dem Verbotsverfahren gegen die HDP und den bevorstehenden Wahlen in der Türkei. Die nächste Hauptverhandlung findet vom 28. Februar bis zum 2. März statt.
Im seit April 2021 andauernden Kobanê-Verfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Unter ihnen befinden sich die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die derzeitige Ko-Vorsitzende Pervin Buldan, mehrere derzeitige und ehemalige HDP-Abgeordnete und Bürgermeister:innen sowie alle Mitglieder des zentralen HDP-Vorstands von 2014. Allein für Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft Ankara bis zu 15.000 utopische Jahre Haft.
Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”
Dutzende Tote, hunderte Verletzte
Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.
EGMR wertet Aufruf als politische Rede
Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Vergangenen Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert das Urteil.
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