Die Ko-Sprecherin der HDP-Kommission für Recht und Menschenrechte, Nuray Özdoğan, und die Anwält:innen Cenk Yiğiter und Çiğdem Kozan gaben am Dienstag auf einer Pressekonferenz in der Parteizentrale in Ankara Einschätzungen zum Prozessverlauf im sogenannten „Kobanê-Verfahren“ ab. In dem Verfahren werden 108 Angeklagte, darunter der ehemalige Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP), im Zusammenhang mit den Protesten vom 6. bis 8. Oktober 2014 während des IS-Angriffs auf Kobanê terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt. 21 Angeklagte befinden sich im Gefängnis.
Özdoğan bezeichnete das Verfahren als politischen Schauprozess, der sich nicht nur gegen die HDP richte, sondern gegen alle Kreise, die der Partei nahestehen: „Die herrschende Regierung fährt fort, die Politikerinnen und Politiker der HDP, die sie als Bedrohung für sich selbst ansieht, mit erfundenen und fabrizierten Beweisen zu inhaftieren. Es werden weiterhin vermeintliche Beweismittel fabriziert. Dieser Prozess wird von denen geführt wird, die sich von Krieg und Konflikten ernähren, gegen diejenigen, die das demokratische, freiheitliche Leben verteidigen, für das die HDP steht und politisch kämpft. Gleichzeitig sind wir Zeugen eines politisch motivierten Massenprozesses, der den Charakter faschistischer Zeiten zeigt. Wie Sie wissen, begannen die Ermittlungen mit einem Tweet, der angeblich vom Twitter-Account der HDP gesendet wurde. Der Tweet zielte darauf ab, das Recht auf Leben von Frauen und Kindern zu schützen, die vom Völkermord durch den IS bedroht waren. Das zeigt eigentlich deutlich, auf welcher Seite diejenigen stehen, die diesen Prozess führen.
Die Tatsache, dass Menschen, die ihr Leben verloren haben, zu einem Teil des politischen Kalküls der Regierung gemacht wurden, und dass die wahren Umstände ihres Todes und die Verantwortlichen für ihren Tod nicht ermittelt wurden, ist ebenfalls ein schmerzliches Bild. Man kann nicht sagen, dass es sich bei diesem Verfahren, das von einem Mitglied der Justiz geleitet wird, das angeblich der Kopf einer Bande innerhalb der Justiz ist, um ein Gerichtsverfahren handelt. Alle Verfahren in dieser Akte sind politisch und haben keinen rechtlichen Charakter. Es wird ein Prozess geführt, in dem das Recht auf Verteidigung aufgehoben wird, die Verteidigung zeitlich begrenzt ist, Beweise nach den Launen des Gerichts und des Staatsanwalts erörtert werden, Beweise hinter verschlossenen Türen vorgelegt werden und Anwältinnen und Anwälte versuchen, unter Bedrohung und Druck für das Recht einzutreten. Wir glauben, dass die Prozesse, die von denen geführt werden, die ihre Roben als Deckmantel für sich selbst benutzen, nichts mit Recht und Gerechtigkeit zu tun haben."
Yiğiter: Es geht um Rache
Rechtsanwalt Cenk Yiğiter fasste seine Einschätzung wie folgt zusammen: „Wir haben diesen Prozess von Anfang an als eine Verschwörung definiert. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um eine Verschwörung gegen die HDP und ihre Politikerinnen und Politiker handelt, aber das ist noch nicht alles. Dieser Prozess ist ein Prozess, in dem die roten Linien des modernen Rechts und des modernen Prozessrechts in jeder Phase offen und eklatant verletzt werden. Die Verschwörung ist in Wirklichkeit eine Verschwörung gegen das Gesetz. Es ist eine Verschwörung gegen die Verfassung und die Idee der Menschenrechte. Es handelt sich um einen Racheakt, und obwohl die HDP betroffen ist, befinden wir uns in einem Prozess, in dem die Rechtssicherheit aller Bürgerinnen und Bürger gefährdet ist.“
Yiğiter wies darauf hin, dass es bereits ein Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu dem Aufruf der HDP vom 6. Oktober 2014 gibt: „Die Große Kammer des EGMR hat ein Urteil zu diesem Fall gefällt. Sie sagt, dass diese Aufrufe völlig im Rahmen der politischen Meinungsäußerung lagen. Es bestehe kein kausaler Zusammenhang zwischen diesen Aufrufen und den schweren Gewalttaten am 7. und 8. Oktober. Um das Urteil des EGMR zu umgehen, erklären sowohl der Staatsanwalt als auch das Gericht in ihren Urteilen, dass es Beweise gebe, die der EGMR nicht untersucht und nicht kennt. Bei diesen Beweisen handelt es sich lediglich um Zeugenaussagen, um die Aussagen geheim gehaltener Zeugen. Nichts davon stützt sich auf konkrete Informationen und Beobachtungen. Es handelt sich nicht einmal um eine Behauptung, sondern weitgehend um eine Spekulation. Das Gericht behandelt diese Zeugen als Sachverständige."
Kozan: „Wir definieren es als Feindstrafrecht“
Seine Kollegin Çiğdem Kozan wies darauf hin, dass die Zeugenaussagen während des Prozesses widerlegt wurden, und sagte: „Die Zeuginnen und Zeugen haben Aussagen gemacht, die vollständig auf Lügen basieren. Wir möchten auch zum Ausdruck bringen, dass das Gericht sein Verhalten fortsetzt, wie zum Beispiel seine irregulären Feststellungen und die Nichtbeantwortung unserer Fragen an die Zeugen. Wir definieren dies als feindliches Strafrecht. Eine Verhandlung mit Zeugen zu führen, deren Aussagen man nicht trauen kann, ist feindliches Recht.“ Die widersprüchlichen Zeugenaussagen würden vom Gericht herangezogen, um die Untersuchungshaft der Angeklagten zu rechtfertigen. Dabei picke das Gericht sich die gewünschten Aussagen heraus.
„Das Gericht urteilt über die HDP, die politischen Inhalte der HDP, über Oppositionelle, Kurdinnen und Kurden und über Frauen. Es ist sich selbst bewusst, dass es einen politischen Prozess führt. In einem solchen rechtswidrigen Verfahren ist es notwendig, das der Prozess von breiten Kreisen beobachtet wird“, erklärte die Rechtsanwältin und rief zur Prozessbeobachtung auf.