Der Tod eines jungen kurdischen Geflüchteten aus Êlih (tr. Batman), der vor zwei Jahren aus der Türkei nach Deutschland floh, offenbart die tiefen Lücken im Asylsystem und die dramatischen Auswirkungen der mangelnden Unterstützung für Geflüchtete. Rojhat, 22 Jahre, der in einer Geflüchtetenunterkunft in Blumberg (Baden-Württemberg) untergebracht war, wurde am 13. Mai erhängt auf dem Campingplatz aufgefunden. Dieser tragische Vorfall ist kein Einzelfall, sondern ein direktes Resultat eines strukturellen Versagens im Umgang mit den psychischen und sozialen Bedürfnissen von Geflüchteten.
Sozialarbeiter:innen reagierten nicht auf Warnungen
Trotz mehrfacher Hinweise von Freund:innen, die auf Rojhats zunehmend bedenklichen psychischen Zustand aufmerksam machten, wurde ihm keine notwendige Unterstützung zuteil. Die zuständigen Sozialarbeiter:innen reagierten nicht auf die Warnungen, obwohl der Bedarf an psychosozialer und medizinischer Hilfe offensichtlich war. In seiner Isolation im Geflüchtetenlager blieb Rojhat nicht nur ohne psychologische und medizinische Betreuung, sondern ihm wurde auch der Zugang zu Sprachkursen und einer Arbeitserlaubnis verwehrt. Diese Perspektivlosigkeit verschärfte seine ohnehin fragile psychische Verfassung.
Zusätzlich erhielt Rojhat einen negativen Bescheid vom Bundesamt für Migration (BAMF), was seine Hoffnungen auf eine gesicherte Zukunft zerstörte und seine psychische Belastung weiter verstärkte. Diese fehlende Unterstützung, sowohl auf institutioneller als auch auf sozialer Ebene, führte zu einem Zustand, der für viele Geflüchtete alltäglich ist: anhaltende Verzweiflung und eine tiefgreifende Krise der Identität und Zukunftsperspektiven.
Rojhat © Familie
„Seit dem Tod von Rojhat erreichen uns erneut verstärkt Nachrichten von Geflüchteten mit Suizidgedanken. Viele der Betroffenen schildern ihre Angst vor drohenden Abschiebungen – insbesondere in die Türkei, wo ihnen Verfolgung, Inhaftierung oder sogar Lebensgefahr drohen. Besonders kurdische Asylsuchende sind betroffen: Sie berichten von systematischen Ablehnungen und sehen sich mit einer besonders niedrigen Anerkennungsquote konfrontiert. Als bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete beobachten wir mit großer Sorge, wie sich strukturelle Ungleichbehandlung und politische Entscheidungen unmittelbar auf das psychische Wohl und die Lebenssicherheit von Schutzsuchenden auswirken.“ (Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete)
Ausgeschlossen und entrechtet: Geflüchtete im deutschen Gesundheitssystem
Die gesundheitliche Versorgung geflüchteter Menschen in Deutschland weist gravierende Defizite auf und verletzt grundlegende menschenrechtliche Verpflichtungen. Durch die Sonderregelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung massiv eingeschränkt. In den ersten 36 Monaten nach der Ankunft beschränkt sich der Anspruch auf medizinische Leistungen auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände – eine klare Unterversorgung im Vergleich zur regulären Gesundheitsversorgung. Auch nach Ablauf dieser Frist bleibt der Zugang zu notwendiger medizinischer und therapeutischer Versorgung häufig unzureichend. Dies liegt unter anderem daran, dass Kosten für Sprachmittlung nicht übernommen werden und medizinisches Fachpersonal oftmals weder über die notwendigen Ressourcen noch über die erforderlichen traumasensiblen Kompetenzen verfügt.
Hürden verstoßen gegen menschenrechtliche Verpflichtungen
Diese strukturellen Hürden stellen nicht nur eine diskriminierende Praxis dar, sondern verstoßen auch gegen zentrale internationale menschenrechtliche Verpflichtungen Deutschlands – etwa aus Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Artikel 12 des UN-Sozialpakts, der UN-Antifolterkonvention (Allg. Bemerkung Nr. 3), Artikel 11 der Europäischen Sozialcharta, Artikel 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 19 der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU sowie Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention. Die Bundesrepublik kommt ihrer Verantwortung zum Schutz der Gesundheit geflüchteter Menschen damit in keiner Weise in angemessenem Umfang nach (vgl. BafF 2024, S. 10).
Institutionell erzeugte Verzweiflung: Psychosoziale Vernachlässigung
Der tragische Tod von Rojhat ist nicht nur ein erschütternder Einzelfall, sondern ein Symptom für die tiefgreifenden strukturellen Mängel im deutschen Asylsystem. Der Mangel an adäquater Unterstützung und die systematische Vernachlässigung der psychischen Gesundheit von Geflüchteten führen immer wieder zu ähnlichen Tragödien.
Laut einer Erhebung der Antirassistischen Initiative (ARI) in Berlin wurden zwischen 1993 und 2018 in Deutschland 288 Suizide von Geflüchteten dokumentiert. In den letzten Jahren stieg diese Zahl auf durchschnittlich etwa 30 Suizide pro Jahr, mit zusätzlich etwa 400 Suizidversuchen und Selbstverletzungen jährlich (vgl. Nowak, Jungle World 2019). Im Jahr 2024 erfassten die sächsischen Behörden 32 Suizidversuche und drei vollendete Suizide unter Geflüchteten, wobei auch Minderjährige betroffen waren. Diese erschreckenden Zahlen verdeutlichen die immense psychische Belastung, der viele Geflüchtete ausgesetzt sind.
Die Belastung wird jedoch nicht nur durch die Fluchterfahrungen verstärkt, sondern auch durch die Entmenschlichung und Isolation, die das Asylsystem mit sich bringt – wie es auch im Fall von Rojhat deutlich wurde. In vielen Fällen erleben Geflüchtete, dass ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen werden, was zu einer tiefgreifenden Verzweiflung führt. Die Entmenschlichung, die durch bürokratische Prozesse verstärkt wird, sorgt dafür, dass Geflüchtete oft als bloße Verwaltungsfälle wahrgenommen werden – ihre Menschlichkeit bleibt außen vor. Dabei wird das grundlegende Menschenrecht auf Gesundheit – verankert unter anderem in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Artikel 12 des UN-Sozialpakts – systematisch untergraben. Der fehlende gleichberechtigte Zugang zur Gesundheitsversorgung stellt somit nicht nur ein strukturelles Versagen dar, sondern auch eine Missachtung völkerrechtlich verankerter Schutzpflichten.
Versagen im Bereich der psychosozialen Versorgung
Besonders dramatisch zeigt sich dieses Versagen im Bereich der psychosozialen Versorgung – einem essenziellen, aber weitgehend vernachlässigten Aspekt der Gesundheitsversorgung. Die belastenden Erfahrungen geflüchteter Menschen sind ein direktes Indiz für das Scheitern des Asylsystems in der Bereitstellung angemessener psychosozialer Unterstützung. Besonders alarmierend ist die unzureichende Versorgung im Gesundheitsbereich, die nicht nur physische, sondern auch psychische Gesundheit gefährdet. Laut dem aktuellen Versorgungsbericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) aus dem Jahr 2024 konnten 2022 lediglich 3,1 Prozent des tatsächlichen psychosozialen Versorgungsbedarfs gedeckt werden. Dies stellt eine dramatische Unterversorgung dar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass etwa 87 Prozent der Geflüchteten in Deutschland traumatische Erfahrungen wie Krieg, Verfolgung oder Folter gemacht haben. Rund 30 Prozent leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen (vgl. ebd., S. 71).
Ein weiteres Problem ist die prekäre Finanzierung der psychosozialen Einrichtungen. Viele Zentren müssen ihre Angebote einschränken oder sogar schließen, was die Versorgungslücke weiter vergrößert. Zudem haben viele Geflüchtete keinen Zugang zu einer Krankenkassenkarte, was sie von einer adäquaten medizinischen Versorgung ausschließt. Sprachbarrieren erschweren den Zugang zu den notwendigen Hilfsangeboten zusätzlich (vgl. BAfF 2024).
Das Versagen der systematischen Erfassung und politischen Verantwortung
Noch erschreckender ist, dass es in Deutschland bislang keine systematische Erfassung von Suiziden oder Suizidversuchen unter Geflüchteten gibt. Laut dem DRK Rheinland-Pfalz (2023) bleibt die Dunkelziffer der Suizide oft im Verborgenen, da diese nicht als Konsequenz eines gescheiterten Systems erkannt oder erfasst werden. Diese fehlende Dokumentation führt dazu, dass politische Entscheidungsträger die Dringlichkeit der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten nicht anerkennen – mit fatalen Konsequenzen.
Der Tod von Rojhat steht exemplarisch für ein Systemversagen, das täglich Leben kostet – leise, oft unbeachtet und doch systematisch. Die steigende Zahl von Suiziden und Selbstverletzungen unter Geflüchteten ist ein unübersehbares Alarmzeichen: Ein System, das Schutz bieten soll, erzeugt stattdessen Isolation, Perspektivlosigkeit und Entwürdigung.
Rojhats Geschichte macht erneut deutlich, was längst bekannt ist – aber immer wieder verdrängt wird: Die psychischen Belastungen geflüchteter Menschen werden systematisch ignoriert, und die dringend benötigte psychosoziale Versorgung bleibt aus.
Es braucht endlich Taten, nicht nur in Bezug auf die Verantwortung der Einrichtungen und den Umgang mit psychisch belasteten Geflüchteten, sondern auch hinsichtlich der strukturellen Bedingungen, die solche Todesfälle nicht nur ermöglichen, sondern institutionell mitverursachen.
Es braucht ein System, das Geflüchtete nicht als verwaltete Zahlen behandelt
„Es ist höchste Zeit, dass Politik und verantwortliche Institutionen die strukturellen Missstände anerkennen und beheben, die zu tragischen Vorfällen wie dem Tod von Rojhat (2025) führen oder von Hogir Alay (2023), Faroq Qaysari (2019), Mustafa Alcali (2007), Faraidun Salam Aziz (2018). Die zunehmende Zahl der Toten, von Suizidversuchen und -opfern unter Geflüchteten ist ein unüberhörbarer Weckruf – sie darf nicht länger ignoriert werden. Es braucht ein System, das Geflüchtete nicht als verwaltete Zahlen behandelt, sondern als Menschen mit Rechten, Würde und Schutzbedürfnissen anerkennt. Psychische Gesundheit ist kein Luxus und keine nachrangige Aufgabe – sie ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Der Schutz dieses Rechts darf weder an fehlenden Ressourcen noch an mangelnder Ausbildung oder politischer Ignoranz scheitern. Dazu gehört auch die dringend notwendige Professionalisierung und kontinuierliche Sensibilisierung des Personals in Geflüchtetenunterkünften. Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet, braucht nicht nur strukturelle Ressourcen, sondern fundierte Kenntnisse im Umgang mit psychischer, traumatischer Belastung und Fluchterfahrungen.“ (Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete)
Quellen:
BAfF (2024). Flucht und Gewalt. BAfF (2024): Psychosozialer Versorgungsbericht Deutschland 2024. https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2024/06/BAfF_VB2024_web_01.pdf (Letzter Zugriff: 18.5.2025).
Deutsches Rotes Kreuz (2023). Eine Handreichung für die Mitarbeitenden Suizidprävention in Unterkünften für geflüchtete Menschen. https://www.drk-rlp.de/fileadmin/Handreichung_Suizidpr%C3%A4vention_in_Unterk%C3%BCnften_f%C3%BCr_gefl%C3%BCchtete_Menschen.pdf (Letzter Zugriff: 18.5.2025).
Karato, Y. (2024). Neuer Versorgungsbericht der BAfF: Geflüchteten steht psychosoziale Unterstützung als Schlüssel für Teilhabe und Integration kaum zur Verfügung. In: https://www.ntfn.de/neuer-versorgungsbericht-der-baff-gefluechteten-steht-psychosoziale-unterstuetzung-als-schluessel-fuer-teilhabe-und-integration-kaum-zur-verfuegung/?utm_source=chatgpt.com (Letzter Zugriff: 18.5.2025).
Nowak, P. (2019). Lieber Suizid als Abschiebung. https://jungle.world/artikel/2019/27/lieber-suizid-als-abschiebung (Letzter Zugriff: 18.5.2025).
Zeit Online (2025). 32 Suizidversuche und drei Suizide Geflüchteter in Sachsen. https://www.zeit.de/news/2025-05/12/32-suizidversuche-und-drei-suizide-gefluechteter-in-sachsen (Letzter Zugriff: 18.5.2025).