Durch Gefängnisarchitektur, Abschottung und Kommunikationsverbote versucht der türkische Staat, die zehntausenden politischen Gefangenen zu isolieren. Doch die Gefangenen wehren sich gegen das verordnete Schweigen. Ein Projekt, das darauf abzielt, die Isolation der Gefangenen zu durchbrechen, ist das Social-Media-Projekt Rojeva Zindanan, was auf Deutsch etwa „Tagesordnung der Gefängnisse“ bedeutet. Müslüm Aslan ist einer der Redakteure von Rojeva Zindanan und berichtet im ANF-Interview über seine Arbeit, die Stimmen aus den Gefängnissen nach außen zu tragen.
Können Sie uns etwas über die Social-Media-Accounts berichten, die unter dem Namen Rojeva Zindanan veröffentlicht werden?
Diejenigen, die sich um diese Accounts kümmern, sind entweder Menschen, die eine bestimmte Zeit in Haft waren, oder Angehörige von Gefangenen. Daher kennen wir die mentale Situation und die Probleme, mit denen Gefangene konfrontiert sind. Da wir täglich, systematisch und kurzfristig mit den Gefangenen in Kontakt stehen, sind uns ihre Alltagsprobleme bekannt. Wir fühlen mit ihnen und möchten unsere Aufgaben in diesem Sinne erfüllen. Unter dem Namen Rojeva Zindanan haben wir in jedem virtuellen Medium, das viele Menschen erreicht, Konten eingerichtet. Wir sind auf all diesen Kanälen rund um die Uhr aktiv.
Welche Absicht verfolgen Sie damit? Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Vor den Ausgangssperren (2015) habe ich die Fotos, die wir hatten, auf einem Konto hochgeladen, das ich unter dem Namen Rojeva Zindanan eröffnet hatte. Es ging darum, sicherzustellen, dass diese Fotos nicht verloren gehen und dass diese Arbeit fortgesetzt wird. Ich wollte, dass die Menschen, wenn sie die Gesichter der Gefangenen sehen, sich an ihre Verantwortung gegenüber den Gefangenen erinnern. Im Laufe der Zeit begannen die Familien anderer Gefangener, uns Fotos ihrer Angehörigen zu übermitteln. So wuchs unser Archiv und Album stetig an und wurde zu einem digitalen Ort, an dem die Fotos von Gefangenen aus fast allen Gefängnissen zusammengeführt wurden. Mit der Zeit erhielten wir immer mehr Nachrichten von Menschen, die nach Adressen von Inhaftierten fragten oder wissen wollten, wie man zu welchem Gefängnis gelangt, oder von Familienangehörigen, die Probleme in den Gefängnissen der Öffentlichkeit mitteilen wollten. Dieser Account war also nicht nur ein Ort, um Fotos zu teilen, sondern er hat die Rolle übernommen, die Stimmen der Gefangenen und ihrer Familien über die Mauern hinweg in die Öffentlichkeit zu tragen.
Da die Erwartungen und Anforderungen an uns stetig wuchsen, wurden die Aufgaben immer anspruchsvoller und überstiegen die Möglichkeiten einer einzelnen Person. Aus diesem Grund habe ich meine Ideen und Gedanken mit Gleichgesinnten und Bekannten in ähnlichen Situationen geteilt und um Unterstützung gebeten. So haben wir ein Team gebildet, das rund um die Uhr online ist. Unsere Verantwortung besteht darin, auf eingehende E-Mails, Nachrichten und Fragen so gut wie möglich zu antworten. Das Konto existiert bereits seit der Zeit vor den Ausgangssperren, also vor dem Prozess der Ausrufung der Demokratischen Autonomie. In Zeiten, in denen wir unsere Aufgabe am weitesten vorangebracht hatten, wurden unsere Konten immer wieder aufgrund von Angriffen durch Systemtrolle, Faschisten und Meldekampagnen geschlossen. Gegen uns wurden Dutzende Verfahren wegen Propaganda (für eine Terrororganisation) und Beleidigung des Präsidenten eingeleitet. Dennoch haben wir weitergemacht, wo wir aufgehört haben, und immer wieder von neuem begonnen.
Was sind Ihre Aktivitäten? Wie kommunizieren Sie mit den Familien der Gefangenen?
Fast alle, die uns auf diesem Weg begleiten, sind Angehörige von Gefangenen. Sie geben uns die Informationen weiter, die sie entweder bei den wöchentlichen Besuchszeiten oder per Telefon von den Gefangenen selbst erhalten. Wir durchsuchen Zeitungen und Nachrichten-Websites und veröffentlichen alles, was über die Gefängnisse berichtet wird, unter Angabe der Quelle. Die meisten Nachrichten, die wir veröffentlichen, haben wir jedoch als konkrete Informationen vorliegen und basieren nicht auf Hörensagen oder Medienberichten.
Wir fungieren als Bindeglied und Brücke zwischen den Gefangenen und ihren Familien. Das macht uns keineswegs müde, im Gegenteil, wenn wir ihre Stimmen mit Zeitungen, Menschenrechtsorganisationen oder Abgeordneten teilen, erfüllt uns das mit Erleichterung und der Freude, etwas bewirkt zu haben. Wir sind die erste Anlaufstelle, um darüber zu berichten, ob ein Telefongespräch mit den Angehörigen stattgefunden hat oder ob es Probleme gab. Diese Rolle hat uns dazu gebracht, immer sorgfältiger, verantwortungsbewusster und aufmerksamer zu arbeiten. Unsere Quelle sind, wie bereits erwähnt, die Angehörigen, die ständig in Kontakt mit den Gefangenen stehen.
Was ist Ihr Ziel? Wie viel davon können Sie umsetzen?
Anfangs hatten wir Schwierigkeiten, Journalist:innen oder Fernsehsender zu finden, die wir kontaktieren konnten, wenn wir eine Nachricht erhielten. Im Laufe der Zeit stellten wir fest, dass viele Journalist:innen unserem Konto folgten. Wir haben Kontakt aufgenommen und Kontaktdaten gesammelt, um im Bedarfsfall sofort und schnell mit ihnen kommunizieren zu können. Wir haben die Journalist:innen nach Regionen eingeteilt und auch Kontaktnummern erfasst. Wir nutzen alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, um mit unseren Nachrichten Zeitungen, Menschenrechtsorganisationen, das Parlament, Ausschüsse und die interessierte Öffentlichkeit zu erreichen. Allerdings müssen wir feststellen, dass wir dies nicht ausreichend schaffen. Von Zeit zu Zeit kommt es zu Unterbrechungen und Verzögerungen.
Wie vermitteln Sie die Nachrichten, die aus dem Gefängnis kommen, weiter?
Es ist unsere Aufgabe, jede Nachricht, die uns über die Vorkommnisse in den Gefängnissen erreicht, an die Öffentlichkeit zu bringen. Wir haben keine einzige Nachricht vergessen oder aus Verantwortungslosigkeit verloren. Wir haben alle Nachrichten veröffentlicht, egal ob es sich um einfache, große oder kleine Botschaften handelt. Dabei haben wir auch keine Unterscheidung in Bezug auf die Dringlichkeit gemacht. Wir haben immer wieder mit verschiedenen Gruppen gesprochen und um Unterstützung gebeten, um Lösungen zu finden und die Anliegen an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten. Wir legen Rechenschaft darüber ab, wie ernsthaft wir mit all dem umgegangen sind oder nicht, wie viel wir erreicht haben oder nicht. Wir suchen ständig nach Möglichkeiten und bemühen uns, durch diese Form der Rechenschaftspflicht ein besseres, reichhaltigeres und fehlerfreies Vorgehen zu entwickeln.
Was können Sie zur Situation der vielen kranken Gefangenen sagen?
Es gibt Hunderte von kranken Gefangenen. Dutzende politische Gefangene haben ihr Leben im Gefängnis verloren oder sind kurz vor ihrer Freilassung aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung verstorben. Es handelt sich um Menschen, die keine Hände oder Füße mehr haben, Menschen mit Verletzungen, bei denen Schrapnelle nicht entfernt werden können, und Gefangene, die von Sehverlust bedroht sind. Es gibt Menschen, die trotz ihrer nachgewiesenen Haftunfähigkeit nicht freigelassen werden. Es gibt politische Gefangene, die an Demenz leiden und sich nicht selbst versorgen können. Ihr Zustand ist äußerst ernst. So ernst, dass es bei kranken politischen Gefangenen nicht ausreicht, in einer Pressemitteilung ein paar Sätze über sie zu sagen, ohne weitere Verantwortung zu übernehmen. Es gibt keine starken, organisierten und regelmäßig produktiven Massenbewegungen, die sich dieser Situation wirklich annehmen und Verantwortung übernehmen. Eine solche Bewegung wurde nicht geschaffen. Mit anderen Worten: Wann haben führende Persönlichkeiten und Organisationen einen ernsthaften Aufruf für Apê Dedo (Emin Özkan) getätigt oder etwas unternommen, um die Situation dieses kranken Gefangenen zu verbessern, oder gar kontinuierliche Aktivitäten durchgeführt, um etwas konkretes für ihn zu erreichen? Bei der Situation der kranken Gefangenen geht es nicht um Mitleid. Sie bitten niemanden um Mitleid. Stattdessen ist ihre aufrechte Haltung und Opferbereitschaft ein Befehl für die Menschen draußen. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, Bereichen und Institutionen sollten das wissen. Die Gefangenen sind aufmerksam und erwarten keine symbolischen Handlungen. Sie warten auf Schritte von Massen, die Ergebnisse erzielen können.
Welches ist Ihrer Meinung nach das gravierendste Problem, mit dem die Gefangenen in den Gefängnissen konfrontiert sind? Was könnte die Lösung sein?
Die Probleme in den Gefängnissen sind zahlreich. Eine der Strafen, die der Staat den Familien und den Gefangenen auferlegt, besteht darin, Gefangene mit Familien in Mêrdîn nach Tekirdağ oder Edirne zu verlegen oder Gefangene mit Familien in Edirne in ein Gefängnis in Mêrdîn oder Amed zu schicken. Die Gefangenen werden an die am weitesten von ihren Familien entfernten Orten gebracht. Die Ausgaben für Strom und Wasser sind ohnehin exorbitant, was den Gefangenen zusätzlich belastet. Selbst das Finanzieren einer Briefmarke ist ein Problem. Die Zeiten für den Hofgang, die Einschlusszeiten, die Besuchsdauer, das Sprechen von Kurdisch am Telefon, das Tanzen im Gefängnis oder sogar das Grüßen anderer Gefangener stellen Probleme dar. Zuviel zu lesen ist ein Problem, zu wenig zu lesen ebenso. Ein Brief auf Kurdisch, ein Buch oder ähnliches werden ebenfalls zu Problemen gemacht. Das Alphabet reicht nicht aus, um all diese Probleme aufzuzählen.
Es scheint, als ob versucht werde, das Leben im Gefängnis zur Hölle zu machen. Wenn man jedoch zwei Hauptprobleme benennen müsste, wären es die Situation der kranken Gefangenen und die willkürliche Verhängung rechtswidriger Strafen, die zur Aussetzung der Entlassung zum Ende der Haftzeit führen.
Mögliche Lösungen könnten sein, den Gefangenen die Möglichkeit zu geben, in Gefängnissen in der Nähe ihrer Familien zu bleiben, um ihre sozialen Bindungen aufrechtzuerhalten. Es wäre wichtig, die Kosten für Strom, Wasser und andere Grundbedürfnisse zu senken, um die finanzielle Belastung der Gefangenen zu verringern. Zudem sollte die Kommunikation mit der Außenwelt erleichtert werden, beispielsweise durch die Bereitstellung von Briefmarken oder die Erlaubnis, die eigene Sprache am Telefon zu sprechen. Es wäre auch wichtig, die Rechte der Gefangenen zu respektieren und willkürliche Strafen zu vermeiden, um Gerechtigkeit im Strafvollzug zu gewährleisten. Eine angemessene medizinische Versorgung und Unterstützung für kranke Gefangene wäre ebenfalls von großer Bedeutung. Es ist klar, dass eine umfassende Reform und ein respektvoller Umgang mit den Rechten der Gefangenen erforderlich sind, um die gravierenden Probleme in den Gefängnissen anzugehen und eine menschenwürdige Haftumgebung zu schaffen. Wenn wir beides zusammenfassen, dann wird das Leid und die Qual in den Gefängnissen draußen von einem Schatten der Furcht, des Individualismus, der vielfältigen Agenda verborgen und mit einem Mantel des Schweigens bedeckt. So können die Gefängnisverwaltungen ihre Praktiken ganz offen umsetzen.
Fassen wir es wie folgt zusammen: Die Quelle und Ursache der Probleme in den Gefängnissen ist das System und seine Verwaltung, die durch das Schweigen der Gesellschaft vollkommen rücksichtslos geworden sind. Willkür und Folter in den Gefängnissen nehmen angesichts des Schweigens der Gesellschaft zu. Sie haben gefragt, was das größte Problem in den Gefängnissen ist. Das Leid und die Qual der Gefangenen wird durch das Schweigen der Gesellschaft befördert. Die Menschen in den Gefängnissen erleben diese Probleme jeden Moment und kämpfen ohnehin dagegen. Aber die Front, die sie stützt und ihnen Kraft gibt, sollte ihre eigenen Probleme analysieren, ohne Zögern an die Menschen, denen sie viel schuldig ist, denken und sich auf eine Lösung fokussieren. Diese Auseinandersetzung sollte nicht nur auf verbale oder formale Aspekte konzentriert sein, sondern das Ziel verfolgen, konkrete Ergebnisse zu erzielen.
Möchten Sie noch etwas hinzufügen?
Wir würden uns wünschen, dass die Medien, mit der wir immer in regem Kontakt und Informationsaustausch stehen, dieser Lage gegenüber aufmerksamer werden. Es geht auch darum, dass wir erwarten, dass sie uns als Quelle für die Nachrichten angeben. Es ist immer wieder ärgerlich für uns, wenn wir sehen, dass wir, wenn wir digitale Medien um Unterstützung bitten, wie irgendein normaler Social-Media-Account behandelt werden. Von Zeit zu Zeit möchten wir gesammelte Erklärungen abgeben, die Nachrichten aus dem Gefängnis enthalten. Dafür erwarten wir von unserer Presse die nötige Sensibilität und Unterstützung, den Raum und die Gelegenheit, um uns Gehör zu verschaffen.