Es ist Sonntag, der 21. Januar 2024. In Deutschland gehen Hunderttausende gegen Faschismus und für den Erhalt der Demokratie auf die Straße. In Nord- und Ostsyrien gehen Tausende gegen den türkischen Faschismus auf die Straße. Und für die Demokratische Selbstverwaltung, die an diesem Tag ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Sie sammeln sich unter anderem im Stadion in Qamişlo.
Es ist ein Tag, an dem die Menschen hier für und gegen vieles demonstrieren. Gestern war der Jahrestag des Einmarsches der türkischen Armee in Efrîn 2018. Vor zwei Jahren gab es einen großen Ausbruchsversuch von IS-Gefangenen aus einem Gefängnis bei Hesekê, am 26. Januar 2015 wurde Kobanê befreit. Vor zwei Tagen wurde die Frauenrechtsaktivistin Zelal Zagros in Kerkûk brutal ermordet und die Angriffe auf die Infrastruktur der Selbstverwaltung dauern an – jeden Tag ein paar Einschläge. Diese Liste könnte unendlich weitergeführt werden.
Einige Menschen hier sagen, dass sie müde sind, erschöpft. Vom Kämpfen. Davon immer wieder Tote zu betrauen, Mangel zu erleben und wenig Gehör zu bekommen. Aber sie sind dann trotzdem wieder da, an solchen Tagen im Stadion in Qamişlo, dem Ort des „Aufstands von Qamişlo“, der den „Samen der Revolution von Rojava“ ausstreuen sollte.
Sie gehen nicht fort von hier, tun Erdogan und seinen NATO-Verbündeten diesen Gefallen nicht. Sie bereiten nicht den Boden dafür, dass Faschisten – türkische und andere Söldner, Hamas-Leute, hier angesiedelt werden können.
Der Efrîn-Kreisel in Qamişlo. 58 Tage lang leisteten Bevölkerung und Verteidigungskräfte Widerstand gegen den Angriffskrieg der Türkei, die sich der Unterstützung dschihadistischer Milizen und deutschen Waffen bediente, um die kurdische Region einzunehmen | copyleft: Nûdem Derya
Es beschäftigt mich sehr, dass die Demonstrationen in Deutschland an diesem Wochenende so massiv sind. Ich freue mich darüber und versuche einmal mehr zu verstehen, was der Zustand der Zivilgesellschaft dort ist. Gegen Faschismus bedeutet gegen jeden Faschismus, nicht allein gegen den der AfD und einige Mitglieder der sich so nennenden Werteunion. Also auch gegen den der „Grauen Wölfe“ in Deutschland, gegen radikale Islamisten, die in den Moscheen Hass predigen, gegen radikale Religiöse aller Art, die den Menschen Gleichheit absprechen.
Doch auf den Demos laufen vielfach die politischen Kräfte und Führungsfiguren ganz vorne, die DITIB fördern und die Zusammenarbeit als gelungene Integration feiern. Diejenigen, die Aufnahmezentren für Geflüchtete außerhalb Europas etablieren wollen, die Ezid:innen in den Irak abschieben und Antifaschist:innen wie Lina E. oder die Angeklagten im Rondenbarg-Verfahren für ihre aufrechte Haltung einsperren (wollen). Trotzdem schreien sie weiter laut – in Talkshows und draußen auf der Straße – dass das mit diesem Geheimtreffen und der geplanten Deportation von „Nichtdeutschen“ nun einen Schritt zu weit ginge.
Bedeutet gegen Faschismus sein nicht auch gegen Krieg einstehen? Gegen Armut, menschenunwürdige Lebensbedingungen, Vertreibung, Feminizid?
Die, die da vorne marschieren, die liefern Waffen nach Saudi-Arabien, tun nichts für eine Beendigung des Ukraine-Russland-Krieges, für eine Waffenruhe in Gaza. Sie nehmen hin oder sind sogar verbündet mit denen, die in Zeiten der Krise die größten Gewinne einfahren; Großkonzerne, Milliardäre, Waffenhersteller. Sie sehen es als unvermeidbar an, dass Zehntausende unschuldige Menschen (in Gaza meist minderjährig) fliehen und sterben. Für sie ist es eine Frage der Abwägung, mit Moral, mit Antifaschismus, ist das unvereinbar.
Die Rolle von fortschrittlichen Kräften in Deutschland, von Menschen mit Moral und Gewissen muss es in solchen Phasen sein, all diese Themen miteinander zu verbinden. Sie müssen die Energie, die da draußen pulsiert aufnehmen und deutlich machen, dass die Angriffe hier in Nord- und Ostsyrien, die Eskalation im gesamten Mittleren Osten, in einer Linie stehen mit den Plänen der AfD und anderen Faschisten. Dass ein Einstehen gegen Faschismus das Tragen einer Friedensfahne notwendig macht, ein Statement gegen Erdogan und Putin erfordert, eine Demilitarisierung der Gesellschaft statt einer Diskussion zur Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Hier, im Herzen der Demokratischen Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien, glauben wir daran, dass die Kraft der Zivilgesellschaft groß ist, vieles (er)schaffen und den Faschismus bekämpfen kann. Hier können wir seit über zehn Jahren sehen, wie sich eine vielethnische Gesellschaft selbst verwaltet – inmitten eines Krieges um globale Vormachtstellung. Mit der Vorreiterinnenrolle der Frauen wird hier jeden Tag weiter aufgebaut, ein neuer Baum gepflanzt.
Auch wenn Gas, Wasser, Benzin und Öl knapp sind, so sind die Herzen doch weit offen und die Hoffnung reicht über den Horizont hinaus. Bis nach Europa und in die ganze Welt.
* Nûdem Derya ist nicht der richtige Name der deutschen Internationalistin, die diesen Meinungsartikel verfasst hat. Sie möchte anonym bleiben und schreibt deshalb unter einem Pseudonym.