Die Demokratische Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat internationale Organisationen aufgefordert, die von der Türkei und ihren dschihadistischen Hilfstruppen in Efrîn (Afrin) begangenen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu untersuchen und den Rückzug der Besatzungstruppen einzufordern. Anlass des Appells ist der sechste Jahrestag des völkerrechtswidrigen Einmarschs der Türkei in die kurdische Region im Nordwesten Syriens.
„Die Lage in Efrîn ist ein Schandfleck auf dem Gewissen der Welt“, mahnte die DAANES am Samstag in einer Mitteilung. Der Ort symbolisiere das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, die Werte der Menschlichkeit zu verteidigen. Doch ohne die Befreiung von Efrîn und anderer besetzter Gebiete in Syrien könne es keine Lösung für das kriegsgeplagte Land geben. Internationale Akteure, in erster Linie Menschenrechtsorganisationen, die Vereinten Nationen und NGOs müssten endlich anerkennen: „Die Efrîn-Frage ist das Problem eines Volkes, das einer Massenverfolgung ausgesetzt ist, die vielfach als Völkermord bezeichnet wurde. Diese Verfolgung beinhaltet Tötungen, Vertreibung, demografischen Wandel, Beschlagnahmung des Eigentums der angestammten Bevölkerung, Entführungen und die Zerstörung der Natur und des historischen Erbes von Efrîn.“
Darüber hinaus ist die DAANES der Ansicht, dass eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt werden sollte, die die Ereignisse in Efrîn von Kriegsbeginn bis heute untersucht. Es müsse sichergestellt werden, dass die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen in der Region, die nicht nur von Truppen des NATO-Staates Türkei, sondern auch von dschihadistischen Gruppierungen, die Ankara unter dem Dach des Milizverbands „Syrische Nationalarmee“ (SNA) vereint hat, verübt werden, vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen werden, fordert die DAANES.
Der Krieg gegen Efrîn
Unter dem zynischen Namen „Operation Olivenzweig“ startete die Türkei am 20. Januar 2018 aus kolonialistischem Selbstverständnis heraus einen Angriffskrieg gegen den bis dahin selbstverwalteten Kanton Efrîn, bis der Ortskern der gleichnamigen Kantonshauptstadt am 18. März 2018 schließlich eingenommen wurde. Bei diesem Angriffskrieg bediente sich die Türkei der Unterstützung dschihadistischer Milizen, die durch den türkischen Staat ausgebildet, ausgerüstet und finanziert werden, und setzte unter anderem auch deutsche Waffen – wie etwa Leopard 2-Panzer ein. Offiziell, um sich selbst zu verteidigen, hat die türkische Regierung zusammen mit ihren islamistischen Verbündeten relativ schnell Fakten in Efrîn geschaffen:
* Bis zu 400.000 Menschen, darunter zehntausende Binnenflüchtlinge, wurden vertrieben. Die meisten von ihnen leben bis heute in Zeltstädten im benachbarten Kanton Şehba
* Über 7.000 Zivilistinnen und Zivilisten wurden entführt; das Schicksal von etwa der Hälfte ist unbekannt
* Hunderte Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, wurden allein bei den Luftangriffen in den ersten Wochen der Invasion getötet, Tausende weitere wurden verletzt. Bis heute hält das Morden an: allein die Zahl der in den Folterkellern der Besatzungstruppen getöteten Menschen liegt aktuell im mittleren vierstelligen Bereich. Die Dunkelziffer dürfte allerdings weit höher liegen. Nahezu täglich kommt es in Efrîn zu Entführungen und sogenannten Festnahmen durch Besatzungstruppen.
* Mehr als 80 Prozent der Häuser der ursprünglichen Bevölkerung Efrîns wurden beschlagnahmt. Angesiedelt wurden überwiegend islamistische Familien, die aus anderen syrischen Gebieten und arabischen Ländern stammen. Darüber hinaus findet in Efrîn ein von der Türkei massiv betriebener Siedlungsbau statt, in den „Hilfsorganisationen“ aus Katar, Kuwait und Palästina involviert sind.
*Auch die Natur Efrîns blieb von der Unterdrückung der Besatzungstruppen nicht verschont. Diese massive Umweltzerstörung ging einher mit verheerenden ökonomischen Auswirkungen auf die Region und ihre Menschen. Seit der Besatzung wurden etwa eine Million Bäume abgeholzt und als Brennholz verkauft, ein Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche Efrîns wurde in Brand gesteckt.
* Mindestens 105 archäologische Stätten wurden geplündert, auf einigen historischen Siedlungshügeln, die zuvor planiert worden sind, haben die Besatzungstruppen militärische Stützpunkte errichtet.
* Mindestens 64 der Schulen Efrîns sind im Zuge des Überfalls zerstört oder umgewandelt worden – einschließlich der Universität Efrîn. In den von der Besatzung wiedereröffneten Schulen wurde Kurdisch und Aramäisch vom Lehrplan gestrichen – alleinige Unterrichtssprachen sind Türkisch und Arabisch. Darüber hinaus ist das islamische Rechtssystem (Scharia) Pflichtfach in allen Einrichtungen – das gilt auch für Kinder, die Minderheiten angehören.
*Christliche, ezidische, alevitische Gotteshäuser wurden unter Schirmherrschaft türkischer Behörden in Moscheen verwandelt. Die Namen der meisten Straßen, Plätze, öffentlichen und historischen Orte Efrîns sind mit den Namen von türkischen und islamischen Persönlichkeiten ausgetauscht und insbesondere nach solchen benannt worden, die Verbrechen gegen das kurdische Volk begangen haben.
Efrîn ist einem von langer Hand geplanten Prozess der Umsiedlung und Umerziehung unterworfen worden. Bis heute hält dieser Zustand an. Die Tatsache, dass die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft zur völkerrechtswidrigen Invasion syrischen Territoriums nur verhalten ausfielen, hat den türkischen Staat zu weiteren Angriffskriegen gegen die Region ermutigt. Mit der sogenannten „Operation Friedensquelle“, die im Oktober 2019 begann, besetzte die Türkei auch die Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad), wo sie ihre Vertreibungspolitik ungehindert fortsetzt. Auch der hybride Krieg gegen die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien stößt international auf taube Ohren.
Strafanzeige in Karlsruhe gegen Verbrechen in Efrîn
Kurz vor dem sechsten Jahrestag der türkischen Besetzung von Efrîn hat die Berliner Menschenrechtsorganisation ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) am Donnerstag zusammen mit „Syrians for Truth and Justice“ (STJ) bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe Klage gegen die Verantwortlichen des Terrorregimes in Efrîn eingereicht. Anklagegrund: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip können solche Verbrechen auch in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden.