Am 21. Januar 2014 wurde in Rojava eine Autonomie ausgerufen und der Grundstein für die Demokratische Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien gelegt. Der Kanton Cizîrê, der an jenem Tag als erster von drei Kantonen seine Unabhängigkeit etablierte – gefolgt von Kobanê und Efrîn – nahm dieses historische Datum zum Anlass, die klare politische Willensbekundung der Gesellschaft zum Erhalt und zur langfristigen Stärkung des „Projekts Rojava“ zu demonstrieren. Zehntausende Menschen aus der gesamten Region folgten einem entsprechenden Aufruf und strömten am Sonntag nach Qamişlo, um sich anlässlich zehn Jahren Autonomie an einer Demonstration zu beteiligen. Die Devise: „Mit dem Paradigma des revolutionären Volkskrieges die Besatzung zerschlagen und unsere Errungenschaften verteidigen“.
Die Demonstration war ein kleines Spiegelbild des multiethnischen und multireligiösen Bevölkerungsmosaiks von Nord- und Ostsyrien: Kurdinnen und Kurden, Angehörige der Suryoye und der armenischen und arabischen Gemeinschaften beteiligten sich mit ihren Farben und Akzenten an dem gleichermaßen feierlichen wie kämpferischen Marsch, der von der Osman-Sebrî-Kreuzung beginnend zum „12. März“-Stadion führte. Unter den Teilnehmenden waren auch Menschen, die aus Städten wie Dêrik, Hesekê, Girkê Legê, Çilaxa, Til Koçer, Tirbespiyê, Til Hemîs, Dirbêsiyê, Til Temir, Til Birak und Şedadê angereist waren. Handelnde von NGOs, politischen Parteien und den Kantonsräten waren ebenso präsent wie Aktive der Frauen- und Jugendbewegung. Viele von ihnen trugen neben Fahnen der Autonomieverwaltung auch Transparente mit Bildern von Kriegsverbrechen des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien sowie ihren Opfern.
Die erste Rede der Demonstration wurde von Şêro Şero gehalten, Ko-Vorsitzender des Rates der Angehörigen von Gefallenen. „Das Projekt der demokratischen Autonomie war seit ihrer ersten Stunde den Angriffen interner und externer Akteure ausgesetzt“, sagte Şero einleitend. „Doch die Einheit und der gemeinsame Kampf der Völker waren die beste Antwort auf die Angriffe, die darauf abzielten, den Willen des Volkes zu brechen. Wir werden unseren Widerstand auf Grundlage des Ideengebers unserer Revolution, Abdullah Öcalan, entschlossen fortsetzen, um unsere Errungenschaften zu schützen.“
Als nächstes sprach Hikmet Hebil, Ko-Vorsitzender des gesetzgebenden Rates des Kantons Cizîrê. „Dank der Einheit und der Opfer der Völker an das Projekt der demokratischen Autonomie haben wir unsere Errungenschaften bewahrt und unser System aufgebaut. Unser Kampf wird weitergehen, bis die Rechte aller Menschen in diesem Land respektiert werden und ein demokratisches Syrien existiert“, sagte Hebil.
Allgegenwärtig in Nord- und Ostsyrien: Die Gefallenen der Revolution
Henîfe Mihemed vom Frauenkomitees des Zivilrats von Qamişlo musste mehrere Anläufe nehmen, um ihre Ansprache zu halten. Sie wurde mehrfach von der Formel „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) unterbrochen, die von der Menge skandiert wurde. Mihemed wies darauf hin, dass die Revolution von Rojava und ihre Errungenschaften in Gefahr seien. „Die Kräfte, die den Willen des Volkes nicht akzeptieren, die Feinde der Demokratie und der Freiheit, versuchen die Existenz unserer freien Gesellschaft und ihrer emanzipierten Frauen durch Völkermord, Massaker und Besatzung zu beseitigen. Die aktuellen Drohungen und Angriffe des türkischen Besatzerstaates in unseren Regionen sind das Ergebnis dieser mörderischen nationalstaatlichen Mentalität. Es ist die Pflicht aller Frauen, die Revolution zu verteidigen. Erfüllen wir unsere Pflicht, das Vermächtnis der Gefallenen zu schützen.“ Nach weiteren Ansprachen wurde ausgiebig getanzt, bevor die Demonstration anschließend beendet wurde.
Das Projekt Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien
Am 21. Januar 2014 wurde in Rojava nicht nur eine Autonomie ausgerufen, sondern auch ein demokratischer Gesellschaftsvertrag verabschiedet. Dieser bildet die verfassungsrechtliche Grundlage und basiert auf den Grundprinzipien des Demokratischen Konföderalismus. Obwohl Kurd:innen den größten Anteil der Bevölkerung bilden, leben diese mit Aramäer:innen, Armenier:innen, Araber:innen, Turkmen:innen und Tscherkess:innen zusammen. Hinzu kommen zahlreiche Menschen, die vor dem syrischen Regime, islamistischen Milizen oder der türkischen Besatzung geflohen sind. In Rojava ist nicht nur das friedliche Zusammenleben in Bezug auf kulturelle, religiöse und ethnische Hintergründe bedeutsam, sondern auch das dort praktizierte Experiment einer direkten kommunalen Demokratie mit radikaler Ökologie und feministischer Emanzipation.
Das Weltbild
Die Grundlagen der Revolution in Rojava sind Werte des Sozialismus sowie eine Verbindung von Ökologie mit radikaler Demokratie und Feminismus. Es bildet somit eine Alternative zum bestehenden System der kapitalistischen Moderne, das die Natur zerstört, Geschlechter unterdrückt und die Gesellschaften durch Nationalismus und Rassismus spaltet. Hinter der Ausbeutung der Natur steht die gleiche Ideologie wie hinter der Unterdrückung der Frau: eine patriarchale Mentalität von Herrschaft, Hierarchie und Objektivierung. In Rojava sind Frauen Männern gleichgestellt und essentieller Teil des politischen Lebens.
Der Mensch im Verhältnis zur Natur
Die Menschen aus und in Rojava sind überzeugt, dass die ökologischen Probleme unserer Zeit nur mit einer radikaldemokratischen Gesellschaft gelöst werden können, die auf kollektiven Formen des Wirtschaftens beruhen. Die Gesellschaft ist in Räten und Versammlungen organisiert, um bedürfnisorientiert und auf eine ökologische Weise ihre Wirtschaft zu gestalten, jenseits der Logik kapitalistischer Konkurrenz und permanentem Wachstum. So behandelt die Jineolojî (kurdisch: Wissenschaft der Frau, spezifische Form des Feminismus in Kurdistan) explizit ökologische und kollektive Formen des Wirtschaftens. Das gesellschaftliche Wissen über die Zusammenhänge der Natur wird so wieder ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückgeholt.