In der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien ist am 12. Dezember ein neuer Gesellschaftsvertrag in Kraft getreten. Die PYD-Politikerin Foza Yûsif war an dem Entwurf beteiligt und hat sich im ANF-Interview zu der Entstehungsgeschichte und dem Inhalt des am Dienstag in drei Sprachen bekannt gegebenen Vertrags geäußert.
Die Diskussionen über den Gesellschaftsvertrag begannen eigentlich schon 2014. Warum haben Sie bis heute gewartet oder warum hat es so lange gedauert?
Der Gesellschaftsvertrag wurde 2014 in der Region Cizîr zum ersten Mal verabschiedet. Die autonome Verwaltung war gerade erst gegründet worden und einige Gebiete waren noch nicht vom IS befreit worden, so dass sie nicht in den Vertrag einbezogen werden konnten. Aus diesem Grund war es notwendig, die alte Fassung zu überarbeiten und alle Kantone in Nord- und Ostsyrien einzubeziehen. Auf dieser Grundlage beschloss die Versammlung von Nord- und Ostsyrien im Jahr 2021, eine Kommission einzusetzen. Die Kommission bestand aus 158 Personen, davon waren 50 Prozent Frauen. In der Kommission sollten alle Völker, Glaubensrichtungen, Institutionen und Sektoren vertreten sein. Anschließend wurde eine kleinere Kommission gewählt, die einen Entwurf ausarbeitete. Die 158-köpfige Kommission brachte den Entwurf nach der Diskussion in die Bevölkerung. In den sieben Kantonen wurde er mit der Bevölkerung diskutiert und mit deren Meinungen angereichert. Diese Diskussion wurde auch mit Institutionen und Organisationen geführt. Auch wir haben viele Sitzungen abgehalten. Es gab jedoch immer wieder Sicherheitsprobleme aufgrund der Angriffe auf Nord- und Ostsyrien, so dass die Arbeit manchmal unterbrochen werden musste. In der vergangenen Woche ist die große Kommission erneut zusammengetreten. Vier Tage lang wurde debattiert, wobei die Vorschläge aus der Öffentlichkeit berücksichtigt wurden. Nach der Fertigstellung haben wir den Entwurf dem Rat von Nord- und Ostsyrien zur Genehmigung vorgelegt.
Warum war ein Gesellschaftsvertrag notwendig und welche Änderungen werden im System vorgenommen?
Wir repräsentieren 30 Prozent des syrischen Territoriums. In diesem Gebiet leben Menschen aus vielen Völkern. Wir haben eine Gesamtbevölkerung von fünf Millionen. Für ein soziales und politisches Leben war ein gemeinsamer Gesellschaftsvertrag notwendig. Bisher stützten sich viele Kantone auf den bereits bestehenden Vertrag, der aber zu eng gefasst war. Der Gesellschaftsvertrag ist vor allem für die Autonomieverwaltung wichtig, damit sie ihre Arbeit demokratischer ausüben kann. Die Rolle der Räte wurde konkretisiert, sie werden nun aktiver sein. Die Bevölkerung wird stärker an den Versammlungen und an den Entscheidungsprozessen beteiligt sein; sie wird die Rolle der Überwachung und Kontrolle übernehmen. Es wird keine Zentralisierung, keine Bürokratie und keine Abkopplung vom Volk geben. Auf der Grundlage demokratischer und freiheitlicher Prinzipien wird es zu sehr gravierenden Veränderungen kommen.
Auf welche Art von Mentalität stützt sich der Gesellschaftsvertrag, worauf basiert er?
Er stützt sich auf der Grundlage einer demokratischen Nation auf Demokratie, die Freiheit der Frauen und ein ökologisches Leben. Wir haben sowohl von dem Paradigma von Abdullah Öcalan als auch von weltweiten Erfahrungen mit demokratischen Verträgen profitiert. Natürlich wurde auch das kulturelle und soziale Erbe der Region genutzt. Wir haben viel gelesen und recherchiert und all das als Ressourcen für unsere Gesellschaft genutzt, um gerechter und demokratischer zu leben.
Sie sagten, dass die große Kommission zu 50 Prozent aus Frauen bestand. Gibt es konkrete Artikel, die die Rechte von Frauen garantieren?
Die Garantie der Frauenrechte ist in den allgemeinen Grundsätzen, in den Rechten und Freiheiten sowie im gesellschaftlichen System enthalten. Der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien wurde rechtlich als eine besondere Sektion des Abkommens anerkannt. Innerhalb des Rechtssystems organisieren sich Frauen in spezifischer Form. Die Vertretung von Frauen und ihre Rechte sind in allen Artikeln des Abkommens konkret definiert und in besonderen Artikeln garantiert. Es wurden auch neue Artikel aufgenommen, um in Zukunft einen Gesellschaftsvertrag für Frauen zu schaffen.
Warum haben Sie den Gesellschaftsvertrag nicht in Form eines Referendums in die Bevölkerung gebracht?
Eigentlich wollten wir ein öffentliches Referendum durchführen, aber die aktuelle politische Situation lässt das nicht zu. Es gibt zu viele Drohungen und Angriffe. Wir haben sehr viele und große öffentliche Versammlungen abgehalten und bis zum letzten Tag Meinungen eingeholt. Alle Artikel und Klauseln wurden einzeln diskutiert. Sie wurden einer nach dem anderen gelesen, und es wurden Meinungen eingeholt.
Was ist Ihr Hauptziel mit dem Gesellschaftsvertrag?
Unser wesentliches Ziel ist es, eine demokratische, freiheitliche und ökologische Gesellschaft zu schaffen. Der Hauptgrund für die derzeitige Krise in Syrien ist das Fehlen einer demokratischen Verfassung, die alle Völker und Rechte einbezieht. Wir wollen ein Beispiel für die Lösung aller Probleme in Syrien geben. Der Gesellschaftsvertrag soll eine Grundlage für die Schaffung einer demokratischen Verfassung sein, die die Rechte der syrischen Bevölkerung garantiert. Wir sagen, dass er ein alternatives Modell zu der Lösungsunfähigkeit und der Verzweiflung in Syrien und in der gesamten Region sein kann. Der Gesellschaftsvertrag ist ein neuer Meilenstein für alle Völker und Frauen.