Demokratische Nation - Die Neudefinition der Gesellschaft

Im fünften Band seines Werkes „Manifest der demokratischen Zivilisation” stellt Abdullah Öcalan das Konzept der „Demokratischen Nation” vor, welches zugleich die ideologische Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung darstellt.

Eines der dringlichsten Probleme des Nahen und Mittleren Ostens ist die kurdische Frage. Die Perspektive Abdullah Öcalans und der kurdischen Freiheitsbewegung versteht sich allerdings nicht bloß als Lösung des ‚kurdischen Knotens‘, sondern bietet sich zugleich auch als Weg für die weiteren festgefahrenen politischen Probleme der Region an.

Diese Perspektive sieht nicht die klassische Methode, die Errichtung eines kurdischen Nationalstaats für die Region vor, denn die Errichtung neuer Grenzen bringt nur neue Probleme mit sich. Das Alternativkonzept Öcalans hierzu heißt Demokratische Nation, ein Konzept, welches als strategisches Ziel ein friedliches und demokratisches Zusammenleben der Völker formuliert. Dabei darf man den Begriff der Nation in der Demokratischen Nation nicht missverstehen. Dieses Konzept basiert nämlich weder auf einer Nationalität, einem Volk oder einer Ethnizität noch auf einer Klasse, einer Religion oder einer Sprache.

Wichtigstes Charakteristikum einer Nation ist nach Öcalan der gemeinsame Geist. Und während beim klassischen Nationenbegriff der Nationalismus diesen gemeinsamen Geist ausmacht, ist es in der Demokratischen Nation eben die Demokratie. Die Demokratie ist somit im Konzept Öcalans zugleich Dach und Bindeglied aller Menschen und Gruppen innerhalb der Demokratischen Nation. Auch Öcalans Demokratieverständnis darf nicht fälschlicherweise mit der hiesigen bürgerlichen Demokratie gleichgesetzt werden. Demokratie ist bei ihm weitaus mehr als der periodische Gang zur Wahlurne.

Im Folgenden wird das Konzept der Demokratischen Nation, welches zugleich die ideologische Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung darstellt, mit den Worten Abdullah Öcalans vorgestellt:

Als Demokratische Nation begreifen wir eine Gesellschaft, die durch den freien Willen des freien Individuums und der gesellschaftlichen Gruppen geschaffen wurde. Der gemein­same Wille des freien Individuums und der gesellschaftlichen Gruppen, eine gemeinsame Nation zu bilden, ist das Bindeglied der Demokratischen Nation. Das nationalstaatliche Verständnis begreift als Merkmale einer Nation eine gemeinsame Sprache, einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Geschichte. Wir akzeptieren diese Definition nicht als allgemeingültig. Es gibt nicht die eine „richtige“ Definition der Nation. Die nationalstaatliche Sicht auf den Nationenbegriff, die auch der Realsozialismus adoptiert hatte, ist das genaue Gegenteil der Demokratischen Nation. Insbesondere Stalin beharrte zu seiner Zeit auf diesem Nationenbegriff, was schließlich unter anderem auch ein Grund für das Ende der Sowjetunion war. In der kapitalistischen Moderne ist dieser Nationenbegriff noch weiter ausgereift. Aber solange dieses Verständnis der Nation nicht überwunden wird, sind nationale Fragen weiterhin dazu verdammt, in einer Sackgasse zu landen. Allein die Tatsache, dass seit über 300 Jahren nationale Fragen gestern wie heute grundlegende Konfliktursachen darstellen, rührt aus diesem fehlerhaften Nationenverständnis. Nationen, die diesem Nationenverständnis verfallen sind, sind zu einem Schicksal innerhalb der vier Wände ihrer nationalstaatlichen Grenzen verurteilt.

Sie sind umzingelt und verunstaltet durch nationalistische, religiöse, sexistische und positivistische Ideologien. Das nationalstaatliche Modell stellt somit für die gesellschaftlichen Gruppen nichts als eine Unter­drückungsfalle dar. Der Begriff der Demokratischen Nation verkehrt dieses Verständnis. Er bricht mit einem Verständnis von strikten nationalstaatlichen Grenzen, dem Verständnis einer Nation, die auf einer Sprache, einer Kultur, einer Religion und einer Geschichte beruht. Die Demokratische Nation basiert auf Pluralismus, der Freiheit und der Gleichberechtigung gesellschaftlicher Gruppen, die ein Leben in gegenseitiger Solidarität führen.

Eine demokratische Gesellschaft kann nur mit einem solchen Nationenverständnis realisiert werden. Bei einer nationalstaatlichen Gesellschaft hingegen liegt es in ihrer Natur, dass sie der Demokratie gegenüber verschlossen ist. Und der Nationalstaat an sich ist weder in globaler noch in lokaler Hinsicht natürlich. Er stellt vielmehr die Verneinung des Natürlichen dar. Denn die Schaffung einer einheitlichen Gesellschaft mit einem einheitlichen Bürger ist gleichbedeutend mit dem Tod des Menschen. Demgegenüber ermöglicht die Demokratische Nation den Wiederaufbau der globalen und lokalen Natürlichkeit. Sie ermöglicht die Entfaltung der gesellschaftlichen Realität. Alle übrigen Definitionen der Nation bewegen sich irgendwo in der Mitte zwischen den beschriebenen zwei Auffassungen des Nationenbegriffs.

Auch wenn die verschiedenen Definitionen des Nationenbegriffs breitgefächert sein mögen, kann man in ihnen doch eine Gemeinsamkeit hervorheben. Diese Gemeinsamkeit drückt sich in dem gemeinsamen Geist einer Nation aus. Das bedeutet, eine Nation besteht aus einer Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Geist [eine gemeinsame Mentalität] teilen. Die gemeinsame Sprache, Religion, Kultur, Geschichte, der gemeinsame Markt und die gemeinsamen politischen Grenzen können Träger dieses gemeinsamen Geistes sein. Sie müssen es aber nicht. Sie sind also nicht zwangsweise bestimmend für den Nationenbegriff. Das bestimmende und zugleich dynamische Merkmal ist allein die gemeinsame Geis­teshaltung. Während bei der staatlichen Nation der Nationalismus bestimmend ist für den gemeinsamen Geist, sind es bei der Demokratischen Nation die Freiheit und die gegenseitige Solidarität.

Der Körper der Nationen ist die Demokratische Autonomie

Allerdings wäre die Beschränkung der Nation auf den gemeinsamen Geist lückenhaft. Genauso wenig wie der Geist ohne Körper existieren kann, ebenso wenig kann die Nation das. Der Körper derjenigen Nationen, die mit dem nationalis­tischen Geist behaftet sind, äußert sich im Staat. Eben wegen ihres Körpers werden diese Nationen auch als Staatsnationen bezeichnet. Der Körper der Nationen, die allerdings freiheitlich und solidarisch sind, ist die Demokratische Autonomie. Die Demokratische Autonomie bedeutet, dass das Individuum und die Gesellschaft sich mit ihrem eigenen Willen verwalten. Man kann auch von einer demokratischen Leitung oder demokratischen Autorität sprechen.

Der Begriff der Nation steht in einer Tradition mit Begriffen wie Clan, Stamm, Volksstamm, Volk bzw. Nationalität und wird zumeist über Ähnlichkeiten in der Sprache und der Kultur charakterisiert. Im Gegensatz zum Clan oder Stamm ist der Nationenbegriff umfassender, wodurch zugleich die bindenden Merkmale der Mitglieder dieser Nation lockerer gefasst sind. Die nationale Gesellschaft ist mehr ein Phänomen der Gegenwart und ihr Bindeglied ist das Teilen eines gleichen Geistes. Es ist also ein Phänomen, welches auf geistiger Ebene existiert und somit abstrakt und nicht greifbar ist. Wir können dies auch als kulturelle Auffassung des Nationenbegriffs verstehen. Soziologisch wäre eine Umschreibung vermutlich richtiger. Trotz unterschiedlicher Klassen, Geschlechter, Hautfarben, Ethnien und gar Nationalitäten reicht ein gemeinsamer Geist, eine gemeinsame kulturelle Welt aus, um Teil derselben Nation zu sein. Um diesen komplexen Nationenbegriff greifbarer zu machen, kann man ihn auch auf Unterkategorien wie die Staatsnation, Rechtsnation, Militärnation oder ökonomische Nation unterteilen. Diese genannten Unterkate­gorien gehören allesamt zu den machtzentrierten Nationen. Die kapitalistische Moderne fordert und fördert diese Art der Nationen. Denn nur eine mächtige Nation kann einen großen Markt, Ausbeutung und Imperialismus produzieren. Diese Nationen darf man nicht als die alleinige Art von Nation begreifen. Denn diese Nationen stehen ausschließlich im Dienste des Kapitals. Und der Ursprung für die Probleme ist ohnehin hierin zu suchen.

Der Nationenbegriff, der sich von Unterdrückung und Ausbeutung abgrenzt, ist die Demokratische Nation. Diese Nation kommt der Freiheit und der Gerechtigkeit am nächs­ten. Er ist quasi das ideale Nationenverständnis für alle Gesellschaften auf der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit.

Der Grund, weshalb sich die kapitalistische Moderne und die in ihrem Dienst befindlichen Sozialwissenschaften nicht des Begriffs der Demokratischen Nation annehmen, ist ideologischer Natur. Denn die Demokratische Nation begnügt sich nicht allein mit einem gemeinsamen Geist und einer gemeinsamen kulturellen Welt. Sie beabsichtigt zugleich, alle ihre Mitglieder an ihren demokratisch-autonomen Strukturen teilhaben zu lassen. Diese Art von Selbstverwaltung ist maßgeblich für die Demokratische Nation. Und dies ist zugleich der Grund, warum sie als Alternative zum Nationalstaat zu verstehen ist. Anstelle von staatlicher Leitung kommt die Demokratische Leitung, was eine bedeutende Möglichkeit in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit darstellt. Bisher wurde die Nation von der liberalen Soziologie entweder mit einer staatlich gewordenen Gesellschaft oder einer Gesellschaft, die dies beabsichtigt, gleichgesetzt. Die Tatsache, dass auch der Realsozialismus diese Definition unkritisch übernommen hat, zeigt die Macht dieser liberalen Soziologie.

Die alternative Moderne, welche die Demokratische Nation mit sich bringt, ist die Demokratische Moderne. Die theoretische Grundlage der Demokratischen Moderne, und somit auch der Demokratischen Nation, ist eine antimonopolistische Wirtschaft, eine mit der Umwelt ausgeglichene Ökologie und eine sowohl der Umwelt als auch dem Menschen gegenüber freundliche Technologie.

Der Einwand, dass eine Nation über ein gemeinsames Territorium und einen gemeinsamen Markt verfügen müsse, ist nicht haltbar. So hat die jüdische Nation beispielsweise lange Zeit ohne eigenes Land fortexistiert. Obwohl sie über keinen eigenen nationalen Markt verfügte, waren ihre Angehörigen auf den Weltmärkten oft äußerst einflussreich.

Es steht außer Frage, dass für Staatsnationen ein staatliches Territorium und ein eigener Markt wichtige Mittel für die Kapitalakkumulation sind. Für die Expansion staatlicher Territorien und des Marktes wurden die blutigsten Kriege der Menschheitsgeschichte geführt. Das Territorium ist als Eigentum und der Markt als Ort der Profitrealisierung von großer Bedeutung. Für die Demokratische Nation haben allerdings Land und Markt eine andere Bedeutung. Das Land wird als wertvoll angesehen, weil es für den nationalen Geist und die nationale Kultur eine große Chance bedeutet. Doch durch den Fetisch des „Vaterlandes“ erhebt die kapitalistische Moderne das Land über die Gesellschaft. Zweck dessen ist die Kapital­akkumulation. Dies ist sicherlich keine gesunde Bewertung des Landes und man sollte es nicht übertreiben. Das Motto „Alles für das Vaterland“ ist ohne Zweifel ein faschistisches Verständnis. Es wäre gesünder zu sagen „Alles für eine freie Gesellschaft, für eine Demokratische Nation“. Aber auch das sollte nicht in eine Art Götzenkult ausarten. Der wichtigste Grundsatz muss stets das Ziel eines wertvollen Lebens bleiben. Das Land ist dabei bloß ein Mittel und nicht das Ideal.

Während die Staatsnation stets eine homogene Gesellschaft anstrebt, besteht die Demokratische Nation aus verschiedensten Kollektiven. Die Unterschiedlichkeiten werden hierbei als Reichtum angesehen. Das Leben an sich besteht aus diesen Unterschiedlichkeiten. Deshalb ist der Nationalstaat, der alle Menschen aus einem Guss haben will, eigentlich auch die Verneinung des Lebens. Ihr Endziel ist der „Robotermensch“. Ihr Weg führt also in eine Art Nihilismus. Wohingegen der Bürger der Demokratischen Nation einfach unterschiedlich ist, weil er seine Unterschiedlichkeit aus den Unterschieden der verschiedenen Gemeinschaften nimmt. Selbst das Vorhandensein von Stämmen wird als ein Reichtum der Demokratischen Nation angesehen. Die gemeinsame Sprache ist sicherlich, genau wie die Kultur, von großer Bedeutung für die Nation. Sie ist aber keine zwingende Bedingung. Verschiedensprachige Menschen können Teil derselben Nation sein. So wenig wie jede Nation einen eigenen Staat benötigt, genauso wenig benötigt sie eine eigene Sprache. Verschiedene Sprachen und Dialekte können auch als Reichtum einer Nation begriffen werden. Demgegenüber versucht der Nationalstaat strikt eine einzige Sprache durchzusetzen. Sie gewährt der Vielsprachigkeit, vor allem wenn es darum geht, dass diese auch noch zu Amtssprachen werden sollen, sehr wenig Spielraum.

Die gefährlichste Form der Nation hingegen ist diejenige, die mit dem Geist der militaris­tischen Nation verseucht ist

Dort, wo die Demokratische Nation sich nicht entfalten kann und der Nationalstaat die Probleme nicht in den Griff bekommt, wird versucht, einen Kompromiss zu finden, der sich im Rechtsstaat äußert. Die Lösung, bei der vom verfassungsrechtlichen Bürger gesprochen wird, ist nichts als der Rechtsstaat. In den Verfassungen werden hinsichtlich der Bürgerschaft in der Regel keine rechtlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Ethnien oder Nationalitäten gemacht. Allein die ethnische Zugehörigkeit verschafft keine besonderen Rechte. Diese Art der Nation ist vor allem in Europa verbreitet. Während bei der Demokratischen Nation die autonome Selbstverwaltung maßgebend ist, sind es beim Rechtsstaat die Rechte des Einzelnen. Beim Nationalstaat hingegen ist die Herrschaft an sich bestimmend. Die gefährlichste Form der Nation hingegen ist diejenige, die mit dem Geist der militaris­tischen Nation verseucht ist. Auf den ersten Blick scheint diese Form der Nation die Mächtigste von allen zu sein. Aber in der Realität ist sie diejenige, die am unerträglichsten für das Leben ist, weil sie stets den Menschen Aufgaben auflastet und dem Faschismus Tür und Tor öffnet. Eine Kategorie, die dem Nationalstaat nahekommt, ist die ökonomische Nation. In den USA, Japan und gar Deutschland, also Nationen, in denen die Ökonomie absolute Priorität hat, herrscht dieses Nationenverständnis vor. In der Vergangenheit war dieses Verständnis in Europa noch bestimmender. Der Versuch, eine sozialistische Nation zu schaffen, wurde oftmals gewagt. Man kann aber nicht sagen, dass es besonders erfolgreiche Versuche waren. Diesem Nationenverständnis begegnen wir zum Teil in Kuba. Aber dieses Nationenverständnis verkümmerte zu einem leicht abgewandelten Abbild des nationalstaatlichen Verständnisses. An die Stelle des privatwirtschaftlich-kapitalistischen Nationalstaates wurde ein staatskapitalistischer Nationalstaat gesetzt.

Wichtig bei der Theoriebildung der Nation ist, dass diese nicht vergöttlicht wird. Die kapitalistische Moderne hat an die Stelle der traditionellen Glaubensdogmen die Vergöttlichung des Nationalstaates gesetzt. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Wenn wir die nationalistische Ideologie als Religion des Nationalstaates begreifen, dann ist der Nationalstaat selbst deren Gott. Dem Staat ist es somit gelungen, das Göttlichkeitsverständnis des Mittelalters, gar der Frühzeit, in sich zu vereinen. Die Entwicklung verläuft vom „Menschenkönig“ über den „Gottkönig“ hin zum göttlichen Nationalstaat am Ende des Mittelalters. Gleichzeitig werden auch die Begriffe Nation, Vaterland und Markt vergöttlicht. Zweck dessen ist die Etablierung der hegemonialen Ideologie der kapitalistischen Moderne, um unbegrenzte Kapitalakkumulation zu legitimieren und zu gewährleisten. Und diese moderne Religion hat auch ihre eigenen Pflichten und Rituale: Sie wiederholt permanent ihre grundlegenden Losungen von einer Nation, einer Sprache, einer Fahne und einem Heimatland. Ihre Symbole sind allgegenwärtig und werden uns permanent vor Augen geführt, sodass wir fast schon allergisch auf andere Symbole reagieren. Der nationale Chauvinismus wird auf jeglicher Veranstaltung, vor allem auf sportlichen und kulturellen, grenzenlos in die Höhe getrieben. Diese Rituale haben letztlich denselben Sinn wie die Rituale anderer Religionen. Sie sollen die Profite der Herrschaftsmonopole verschleiern oder sie vergöttlichen und somit legitimieren. Nur wenn wir all diese verschleiernden Elemente des heutigen Nationalstaates entlarven und begreifen, können wir die Wahrheit hinter der gesellschaftlichen Wirklichkeit besser verstehen.

Die Demokratische Nation ist am ehesten von all diesen Krankheiten befreit. Nur im Rahmen der Demokratischen Nation kann auch der Nationenbegriff soziologisch richtig aufgearbeitet werden. Es ist auch wichtig, die Funktion des Staates nicht zu überhöhen und über die Gesellschaft zu setzen. Der Staat muss in seiner Funktion beschränkt sein, im Dienste der Gesellschaft als technisches Mittel begriffen werden. Nur in dieser Form können die nationale Gesellschaft und der Staat sinnvoll koexistieren. Die Demokratische Nation überhöht auch nicht die Leitungsfunktion. Auch sie ist ausschließlich auf den Dienst für das alltägliche Leben beschränkt. Wenn jeder die Notwendigkeiten erfüllt, kann man auch als einfacher Beamter eine Leitungsfunktion übernehmen. Diese Aufgabe ist zwar sehr wertvoll, sie wird aber nicht als heilig angesehen.

Das Verständnis von der nationalen Identität ist ein offenes. Es handelt sich nicht um eine geschlossene Gruppe, wie beispielsweise bei der Zugehörigkeit zu einer Religion. Jeder kann Mitglied einer oder mehrerer Nationen sein. Diese Nationen können auch ineinander übergehen. Die Demokratische Nation kann in diesem Sinne auch mit dem Rechtsstaat ko­existieren, vorausgesetzt man einigt sich. Das Heimatland, die Fahne, die Sprache können sicherlich wertvoll sein, aber sie sind nicht heilig. Die Heimatländer können ebenso sehr ineinander übergehen oder friedlich nebeneinander existieren wie die Sprachen oder die Fahne. Diese friedliche Koexistenz ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine historische Notwendigkeit. Mit all diesen Besonderheiten kann die Demokratische Nation zur starken Alternative des Nationalstaates werden, welcher wiederum zu nichts anderem als dem kriegstreibenden Mittel der kapitalistischen Moderne verkommen ist. In der Tradition und auf dem Erbe der vergangenen Revolutionen der Menschheitsgeschichte kann die Demokratische Moderne durch die Demokratische Nation, eine kommunale Ökonomie und eine ökologische Industrie ein Meilenstein auf dem Weg zu einer neuen Revolution im 21. Jahrhundert werden.

Die ökonomisch-sozialen Einheiten der Demokratischen Nation sind die Kommunen. Diese Einheiten agieren in ökonomischer Hinsicht nicht nach dem Primat der Profitmaximierung, sondern stets im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Es gibt einen Markt, aber die Möglichkeit von Monopolbildung wird von vornherein strikt eingegrenzt. Der Maßstab dafür ist die ethische Kontrolle der Gesellschaft. Die ethischen und politischen Werte der Gesellschaft haben Vorrang vor dem positiven Recht. Bei der Lösung gesellschaftlicher Fragen gelten die Kriterien der direkten Demokratie.

Die Freiheit des Individuums und der Gesellschaft hängen zusammen mit der Synthese aus wissenschaftlichem Bewusstsein, künstlerischem und ethischem Bewusstsein sowie dem Verständnis von politischer Kunst. Das Maß der Freiheit des Individuums wiederum steht in direktem Verhältnis zur Freiheit der kommunalen Einheit, in der es existiert. Eine Loslösung von der Gesellschaft kommt nicht der Freiheit gleich.

Die Demokratische Nation ist diejenige Form von Nation, die kein Individuum ohne Kommune und Verantwortungsbereich lässt

Ein weiteres wichtiges Standbein der Demokratischen Nation ist die Kommunenökonomie. Genauso wie der Monopolismus Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung ist, ebenso sehr ist die kommunale Ökonomie Grundlage der Wirtschaft der Demokratischen Nation. Die Demokratische Nation und die Demokratische Moderne bauen auf der kommunalen Ökonomie auf. Wir müssen an dieser Stelle nicht zu sehr auf die Kommunenökonomie eingehen. Je nach den Bedürfnissen können diese Kommunen, angefangen von einer einzelnen Familienkommune bis zu einer Vielzahl von Kommunen, innerhalb der Demokratischen Nation ausgeweitet werden. Landwirtschaftliche Kommunen und Kommunen von kleinen Fabriken sind an erster Stelle als Beispiel anzuführen. Hinzu kommen Kooperativen mit den verschiedensten Zielen, Gesundheitskommunen und Bildungsarbeit betreibende Kommunen. Wichtig ist, dass die Kommunen nicht von vornherein gebildet werden, sondern dass sie je nach den verschiedenen Bedürfnissen mit der jeweiligen Zielsetzung gegründet werden.

Ziel sollte sein, dass kein Individuum ohne zugehörige Kommune bleibt. Die Demokratische Nation ist diejenige Form von Nation, die kein Individuum ohne Kommune und Verantwortungsbereich lässt. Ein Individuum, das zu keiner Kommune gehört, gleicht einem kranken, entfremdeten Individuum. Auf der Erde, auf der sich die Gesellschaft in Form von Kommunen entwickelt hat, schlägt nun der Nationalstaat mit seinem zerstörerischen Industrialismus und seinem Drang nach endloser Kapitalakkumulation Wurzeln. Um dem entgegenzuwirken, braucht es die Revolution der Demokratischen Moderne mit ihrer Demokratischen Nation, der kommunalen Ökonomie und der ökologischen Industrie. Dies wäre eine der größten Revolutionen in Richtung einer demokratischen, gleichberechtigten und friedlichen Gesellschaft. Die Demokratische Nation und die kommunale Ökonomie werden selbstverständlich nicht die Technologie und Industrie an sich negieren.

Ganz im Gegenteil, diese Moderne wird die Wissenschaft und die Technologie weiter fördern. Hier kommt dann auch der wahre Zweck der Industrie für die Gesellschaft wieder zum Vorschein. Denn die Industrie und die Technologie sind nur insofern wertvoll, als dass sie für die Gesellschaft als Ganzes von Nutzen sind. Die moralische und politische Leitung muss selbstverständlich diesen Nutzen zunächst einmal prüfen und bestimmen. Insgesamt liegt es also nicht im Interesse der kommunalen ökologischen Ökonomie, den Industrialismus und die Industrie zu verleugnen oder zu vernichten. Sondern sie sollen das Leben in der Demokratischen Moderne vervollständigen.

Die Ökonomie wird zu keinem Bereich mehr, in dem endlos Kapital akkumuliert werden kann

Die Waffen der Demokratischen Moderne gegen die drei Waffen der kapitalistischen Moderne, also die endlose Kapitalakkumulation, den Nationalstaat und den Industrialismus, sind die Demokratische Nation, die Kommune und die Ökologie. Die Demokratische Moderne bezweckt hierdurch nicht allein, die barbarischen Auswirkungen des Kapitalismus auf die Gesellschaft zu beschränken, sondern die Kontrolle der Gesellschaft über die Ökonomie wiederherzustellen. Der Inhalt der ökonomischen Autonomie gleicht dadurch weder dem Privat- noch dem Staatskapitalismus. Ihr Inhalt stellt die demokratische Wirtschaft auf der Basis einer ökologischen Industrie und der kommunalen Wirtschaft dar. Die Grenzen, die der Industrie, dem wirtschaftlichen Aufschwung, der Technologie und dem Privateigentum gesetzt werden, sind diejenigen Grenzen, welche die ökologische und demokratische Gesellschaft schützen. Es gibt keinen Platz für Industrie, Technologie, wirtschaftlichen Aufschwung und Verstädterung, die der Ökologie und der demokratischen Gesellschaft zum Nachteil gereichen. Die Ökonomie wird zu keinem Bereich mehr, in dem endlos Kapital akkumuliert werden kann. Innerhalb der ökonomischen Autonomie wird die Kapitalakkumulation auf ein Minimum begrenzt. Das Diktat der Kapitalakkumulation wird gebrochen, aber dies bedeutet nicht, dass der Markt, der Handel, die Vielfalt an Produkten und das Konkurrenzverhalten per se verboten werden. Der Finanzmarkt wird nur in dem Maße aufrechterhalten, als dass er zum Nutzen der Gesellschaft ist. Die Möglichkeit allerdings, „das Geld arbeiten zu lassen“, also Geld ausschließlich durch Geld zu verdienen, wird als die primitivste Form der Ausbeutung angesehen und innerhalb der ökonomischen Autonomie verboten werden.

Für die Demokratische Moderne ist die „heiligste Arbeit“ der Natur- und Umweltschutz

Zu den wertvollsten Arbeitstätigkeiten werden der Naturschutz und die Bewaldung der Umwelt gehören. Die Förderung dieser Tätigkeit würde allein ausreichen, um über riesige Zeiträume hinweg Arbeitslosigkeit zu unterbinden. Für den Kapitalismus ist die „heiligste Arbeit“ dort zu suchen, wo die Profitspanne am größten ist. Für die Demokratische Moderne ist hingegen die „heiligste Arbeit“ der Natur- und Umweltschutz. Denn ohne Kapitalismus und Industrialismus kann die Gesellschaft problemlos fortexistieren, aber ohne Erde und Bäume funktioniert dies nicht. Ohnehin wurzelt die systemische Arbeitslosigkeit darin, dass der Kapitalismus die Menschen von ihrer Erde, ihren Dörfern und ihren Wäldern entwurzelt hat. Für den Kapitalismus ist die Arbeitslosigkeit eine Notwendigkeit, um über ein Heer billiger Arbeitskräfte zu verfügen.

Deshalb wird die Arbeitslosigkeit durch das System permanent künstlich reproduziert. Eine Rückkehr zum ökologischen Leben würde demgegenüber nicht nur der Arbeitslosigkeit ein Ende bereiten, sondern auch der krebsgeschwürartigen Verstädterung ein Ende setzen. So würde das ökologische Leben auch die Stadt retten. Die Verstädterung, welche die Städte wie einen Tumor wuchern lässt, ist eine krebsartige Krankheit. Die Krebserkrankung einzelner Menschen entsteht ohnehin nicht selten durch dieses städtische Leben, genauso wie eine Vielzahl anderer Krankheiten. Deswegen ist die Rück­besinnung auf die eigene Erde, die Bewaldung und die ökologische Landwirtschaft nicht nur eine Lösung für die Arbeitslosigkeit, sondern auch das Gegengift für eine Vielzahl städtischer Krankheiten.

Es handelt sich bei dem Besprochenen um eine wirtschaftliche Organisierung, die der Natur des Menschen am nächsten kommt. In der Kommune gibt es keinen Platz für Arbeit, die nicht im Sinne der Gesellschaft ist und aus Zwang getätigt werden muss. Wir sprechen von einer Art des Lebens, die in der Menschheitsgeschichte stets als heilig und erstrebenswert angesehen wurde. Die ökonomische Autonomie ist das Rück­grat der Demokratischen Nation und somit ebenso bedeutsam wie die Selbstverteidigung der Gesellschaft. Genauso wenig wie die Gesellschaft ohne ihre Selbstverteidigung fortexistieren kann, ebenso wenig kann sie es ohne ihre ökonomische Autonomie, den Schutz ihres Bodens, der Bewaldung ihrer Umwelt und einer ökologischen und auf der Kommune basierenden Ernährung. Wenn die Gesellschaft die Kontrolle über ihre Ökonomie verliert, ist sie zum Niedergang verurteilt. Eine vollständige ökonomische Unabhängigkeit mag zwar eine unerreichbare Utopie sein, aber die Möglichkeit einer Ökonomie, bei welcher der gegenseitige Nutzen im Vordergrund steht und die interne Autonomie der Einheiten weitgehend garantiert wird, ist eine reale Möglichkeit unserer Gegenwart.

Dem Monismus und Nationalismus der Nationalstaaten kann allein durch den Geist der Demokratischen Nation Einhalt geboten werden

Es ist offensichtlich, dass die kapitalistische Moderne mit ihrem globalen Kapital schädlich und gefährlich für das Individuum und die Gesellschaft ist. Demgegenüber stellt die Demokratische Moderne eine Alternative dar, die den Ausweg aus wiederkehrenden wirtschaftlichen Krisen, Arbeitslosigkeit und Hungersnot aufzeigt. Die Theorie der Demokratischen Nation zeichnet den Lösungsweg hin zur Demokratischen Moderne. Die Demokratische Nation stellt auch den Gegenentwurf zur Theorie der Nationalstaaten dar, welche die Kulturen dieser Welt einem Metzger gleich in kleine Stücke schneiden und voneinander separieren. Die Demokratische Nation versucht demgegenüber die Möglichkeit einer freien und demokratischen Ganzheit dieser Kulturen aufzuzeigen. Dem Monismus und Nationalismus der Nationalstaaten kann allein durch den Geist der Demokratischen Nation Einhalt geboten werden. Selbst die türkische Welt, zersprengt vom Balkan über den Kaukasus bis hin nach Zentralasien, kann diesen Zustand, der gekennzeichnet ist durch das Anhimmeln des Nationalstaates und die gegenseitige Zermürbung aufgrund einer orientalistisch-positivistischen Weltauffassung, allein mithilfe der Demokratischen Nation überwinden. Nur durch diese Theorie können die Turkvölker sich auf eine gleichberechtigte, demokratische und freie Weise vereinen. Der Geist der Demokratischen Nation kann den passenden Rahmen für eine gemeinsame Perspektive der verschiedensten Kulturen der Region bis nach Zentralasien und Indien ermöglichen. Gegen die Katastrophen des Nationalstaates ist die Demokratische Nation die Garantie für Gleichberechtigung, Freiheit und demokratisches Leben. Sie ist das neue Paradigma eines freiheitlichen Auswegs aus dem permanenten Chaos.

Selbstverständlich braucht die Demokratische Nation einen Körper, in dem sie Ausdruck findet. Diesen Körper bezeichnen wir als die Demokratische Autonomie. Man kann die Demokratische Autonomie im engeren und im weiteren Sinne definieren. Im weiteren Sinne ist die Demokratische Autonomie der Ausdruck der Demokratischen Nation. Die Demokratische Nation kann wiederum in verschiedene Dimensionen, wie die kulturelle, ökonomische, soziale, rechtliche und weitere, unterteilt werden. Im engeren Sinne stellt die Demokratische Autonomie die politische Dimension der Demokratischen Nation dar. Man könnte die Demokratische Autonomie in diesem Sinne auch als Demokratische Autorität oder Demokratische Verwaltung bezeichnen. Man kann sich die Demokratische Autonomie nicht ohne Selbstverwaltung vorstellen. Jegliche Form der Nation verfügt über eine eigene Verwaltung. Verfügt sie darüber nicht, stellt sie auch keine Nation dar.

In der Demokratischen Nation kann sich der Bürger als freies Individuum entfalten. Der Bürger des Nationalstaates hingegen stellt ausschließlich den Sklaven der kapitalistischen Moderne dar. Der kapitalistische Individualismus findet seinen Gott im Nationalstaat und ist unbedingter Sklave dieses Gottes. Der Bürger der Demokratischen Nation ist demgegenüber der Ausdruck des freien Individuums. Aber ebenso sehr wie der Bürger der Demokratischen Nation frei ist, so sehr ist er auch kommunal. Der Bürger findet seine individuelle Freiheit in der Freiheit seiner gesellschaftlichen Kommune wieder. Diejenigen, die kein kommunales Leben führen, können auch ihre Individualität nicht zum Vorschein bringen.

Die Kommunen selbst können äußerst unterschiedlich sein. Es gibt sie in jedem erdenklichen Lebensbereich. Das Individuum kann dabei auch Teil mehrerer Kommunen sein. Wichtig ist dabei nur, dass seine Begabungen und Interessen innerhalb der Kommune die Möglichkeit zur Entfaltung finden. Es kann an denjenigen Kommunen partizipieren, in denen es diese Möglichkeit für sich entdeckt. Mit seiner Partizipation trägt das Individuum aber zugleich auch eine moralische Verantwortung gegenüber seiner Kommune. Die Moral bedeutet in diesem Zusammenhang also Respekt und Verbundenheit gegenüber dem kommunalen Leben. Die Kommune wiederum schützt und stärkt ihre Mitglieder. Die moralische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft ist ohnehin integraler Bestandteil der menschlichen Geschichte.

Der demokratische Charakter einer Kommune kann auch im Begriff der politischen Kommune oder Gemeinschaft zum Ausdruck kommen. Eine Kommune, die nicht demokratisch ist, kann auch nicht politisch sein. Und eine Kommune, die nicht politisch ist, kann wiederum nicht frei sein. Es besteht demnach ein enges Band zwischen dem demokratischen, dem politischen und dem freien Charakter einer Kommune. Deswegen muss die Demokratische Nation zunächst einmal das Individuum und die Kommune, auf denen sie aufbaut, auf diese Weise definieren. Es gibt zwei Voraussetzungen für die Demokratische Nation. Diese wären das freie Individuum und die Realisierung des freien Individuums im Prozess der demokratischen Politik innerhalb seiner Kommune.

In unserem Zeitalter gibt es zwei Möglichkeiten, die politische Gesellschaft zur Nation werden zu lassen. Der traditionelle kapitalistische Weg, der über den Nationalstaat führt und gekennzeichnet ist durch die nationalistische und religiöse Politik der kapitalistischen Moderne, sagt aus, dass eine Gesellschaft, die über keinen Staat verfügt, oder deren Staat sich im Verfallsprozess befindet, sofort zu einem neuen Nationalstaat geführt werden muss. Der zweite Weg der Nationenwerdung führt über den Weg der Demokratischen Nation. Die Tatsache, dass der Nationalstaat zum gegebenen Zeitpunkt keine Probleme der Gesellschaft mehr löst, sondern sie permanent vermehrt und vergrößert, macht die Alternative der Demokratischen Nation noch dringender. Die Demokratische Nation zwingt sich auf, sei es durch Reformen oder durch Revolutionen. In der Aufstiegsphase des Kapitalismus drängte sich der Nationalstaat auf, in seiner Niedergangsphase ist es die Demokratische Nation. In der Phase der Umsetzung der Demokratischen Nation kommt es im sozialen Leben zu großen Umbrüchen. Das traditionelle Leben der kapitalistischen Moderne wird grundlegend in Frage gestellt. Die vorherige Gesellschaft wird in ihren Grundfesten erschüttert.

Die Demokratische Nation beruht weder auf Staat noch auf Herrschaft

Zunächst einmal bedeutet die Demokratische Nation das Beharren auf der Gesellschaft. Sie ist die Alternative zur Verneinung der Gesellschaft. Sie stellt sich der Auslöschung der Gesellschaft durch die Herrschaft und den Staat entgegen. Sie verkörpert die freie und gerechte Gesellschaft gegen die aktuelle Gesellschaft, welche Ungerechtigkeit und Sklaverei am laufenden Band produziert. Die Demokratische Nation ist somit Voraussetzung für ein gesundes gesellschaftliches Leben. Sie schafft praktisch die Gesellschaft neu, die durch den Nationalstaat ausgelöscht worden ist. Und nur einer gesunden Gesellschaft kann ein gesundes Individuum entspringen. Das Individuum erreicht dadurch seine mentale und geistige Gesundheit, was wiederum seine Resistenzkraft gegen physische Krankheiten ebenfalls stärkt.

Das Bildungsverständnis der Demokratischen Nation zielt auf die Erziehung des freien Bürgers ab. Dies beruht zugleich auf der Überzeugung, dass die Entwicklung des Individuums und die Entwicklung der Gesellschaft in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Die Demokratische Nation ist diejenige Nation, in der die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst ist und sich selbst verteidigt. In der Schaffung der Demokratischen Nation spielt die Befreiung der Frau eine ganz besondere Rolle. Denn die Befreiung der Frau ist gleichbedeutend mit der Befreiung der Gesellschaft. Und die befreite Gesellschaft ist die Demokratische Nation.

Die Demokratische Nation beruht weder auf Staat noch auf Herrschaft. Das Volk wird zur Nation, indem es sich politisiert. Es ist aber auch nicht allein die Politisierung. Das Volk organisiert zugleich auch seine Selbstverteidigung, seine ökonomische, rechtliche, soziale, diplomatische und kulturelle Ökonomie. Und das alles, ohne zum Staat zu werden oder herrschaftliche Institutionen aufzubauen. Es organisiert dies alles allein auf Basis des Aufbaus seiner Demokratischen Nation. Wenn wir der kapitalistischen Moderne Glauben schenken wollen, dann steht lediglich der Nationalstaat alternativlos zur Auswahl. Und dieser Nationalstaat gibt sich zwar gemäß ihrer liberalen Ideologie als säkular, das ist er aber nicht. Ganz im Gegenteil, er ist derselbe theokratische Staat des Mittelalters mit nationalstaatlicher Lackierung. Um es mit Hegels Worten zu sagen: Der Nationalstaat ist die absolute Form der Göttlichkeit, der mit der Französischen Revolution auf die Erde niedergekommen ist. Das ist eine sehr treffende Umschreibung. Je genauer wir unter die Schale des Nationalstaates schauen, desto deutlicher werden wir darunter die Gottheiten der Frühzeit und des Mittelalters wiedererkennen. Wenn wir die Wirklichkeit des Kerns des Nationalstaates nicht auf diese Weise richtig begreifen, werden wir auch nicht in der Lage sein, nationale und gesellschaftliche Probleme richtig zu verstehen und zu lösen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Lösung der Demokratischen Nation ist diejenige Lösung, die einen gerechten, freien und friedlichen Weg aus dem Chaos der kapitalistischen Moderne aufzeigt. Diese hat schon zu lange, und zwar seit mehr als vierhundert Jahren, ihre Nationalstaaten sich bekriegen lassen und somit die Gesellschaften zerstückelt und in ein Meer aus Blut getränkt.


Der Text ist eine Übersetzung aus dem fünften Band des Werkes „Manifest der demokratischen Zivilisation”.