Öcalans strategischer Erfolg auf Imrali

Mahmut Şakar äußert sich im Gespräch mit Civaka Azad über seine Erfahrungen als Rechtsanwalt Abdullah Öcalans.

Nach acht Jahren hatten die Anwälte Abdullah Öcalans erstmalig am 2. Mai 2019 wieder Kontakt zu ihrem Mandanten. Ein weiterer Besuch auf der Gefängnisinsel Imrali folgte am 22. Mai. Zuvor waren seit Juli 2011 insgesamt 810 Besuchsanträge abgelehnt worden. Öcalan hält damit den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu anwaltlicher Vertretung. Die Besuche im Mai sind durch einen monatelangen Hungerstreik von Aktivisten und Sympathisanten der kurdischen Bewegung erkämpft worden.

Das Besuchsverbot für das Verteidigerteam wurde am 17. April gerichtlich aufgehoben. Einen Monat später erklärte dann der türkische Justizminister Abdülhamit Gül, dass es keine Einschränkungen für den Anwaltskontakt mehr gebe.

In einer gemeinsamen Erklärung weisen Öcalan und seine drei Mitinsassen auf die dringende Notwendigkeit demokratischer Verhandlungen für die Lösung der Konflikte in der Türkei und im Mittleren Osten hin. Nicht mit Gewalt, sondern durch die »Methode demokratischer Verhandlungen, jenseits jeglicher Polarisierung und Konfliktkultur«, sollen die Probleme und Kriege in der Region angegangen werden, fordern Öcalan und seine Mitgefangenen Hamili Yıldırım, Ömer Hayri Konar und Veysel Aktaş.

Wir sprachen in diesem Zusammenhang mit Mahmut Şakar, einem Zeitzeugen, der die Zeit des internationalen Komplotts, das zur Festnahme Öcalans führte, aktiv miterlebte. Er ist einer der ersten Anwälte, die Öcalan nach seiner Verschleppung aus Kenia am 15. Februar 1999 vertraten. Mahmut Şakar besuchte Öcalan von 1999 bis 2004 regelmäßig auf der Gefängnisinsel Imrali, bis ihm seine Anwaltslizenz entzogen wurde. Zwischen 1992 und 1997 war er als Mitglied und Vorsitzender des Menschenrechtsvereins (İHD) in Amed (Diyarbakır) tätig, danach war er Vorsitzender der HADEP in der Provinz Istanbul und später auch Generalsekretär der HADEP. Seit über zehn Jahren hält er sich als Geflüchteter in Deutschland auf. Hier gründete er gemeinsam mit einigen deutschen Anwälten den Verein für Demokratie und internationales Recht (MAF-DAD e. V.) und ist zurzeit Mitglied des Vereinsvorstands. Als Jurist setzt er sich im Rahmen der Vereinsarbeit weiterhin mit rechtlichen Problemen auseinander, die sich im Spannungsfeld der kurdischen Frage ergeben. Wir hoffen, mit der Veröffentlichung dieses Interviews zu einem besseren Verständnis der Bedeutung Öcalans für die sogenannte kurdische Frage beizutragen.

Im Februar 1999 warst du Teil der ersten Anwaltsgruppe im Prozess gegen Abdullah Öcalan. Kannst du uns von deinen Erfahrungen bei den Treffen mit ihm berichten?

Nachdem Öcalan im Rahmen eines internationalen Komplotts, mit der Hilfe von CIA, Mossad und anderen ausländischen Geheimdiensten, in die Türkei verschleppt worden war, haben wir als eine Gruppe von Anwälten seine Verteidigung übernommen. Zu dieser Zeit war die Atmosphäre von Angst geprägt. Sowohl in der kurdischen Bevölkerung als auch auf politischer Ebene war die Stimmung angespannt. Kurden wurden auf offener Straße gelyncht. Neben den Repressionen des Staates und der Willkür der Polizei gab es Übergriffe durch zivile faschistische und nationalistische Schlägertruppen. Wir Anwälte standen unter einem massiven öffentlichen Druck. Einige traten aus Angst um ihr Leben zurück, andere wurden verhaftet. Der damalige Staatspräsident Demirel zweifelte lauthals daran, dass Öcalan überhaupt einen Rechtsbeistand benötige, da seine Schuld und damit das Urteil bereits feststünden. Mit allen Mitteln wurde versucht, die Bildung einer Anwaltsgruppe zu unterbinden und Öcalan den Zugang zu Anwälten zu verweigern. Innerhalb der kurdischen Gesellschaft hat all dies starke Betroffenheit ausgelöst. Seine Verhaftung und das Ausbleiben von Nachrichten über seinen Verbleib führten zu einem Trauma in der kurdischen Bevölkerung. Er war damals bereits zehn Tage in Haft, bevor seine Anwälte ihn treffen konnten.

Unter diesen Bedingungen bekamen wir als eine Gruppe von Anwälten die Vollmacht der Familie und stellten den Antrag, Öcalan anwaltlich vertreten zu können. Nachdem meine ersten Anträge abgelehnt worden waren, konnte ich ihn schließlich am 26. März 1999 besuchen. Vor meinem ersten Treffen gab es bereits zwei, drei Anwaltstreffen, bis wir ihn dann schließlich zu viert besuchten. Für mich war es natürlich eine äußerst interessante Begegnung. Seine vorgebrachten Gesichtspunkte waren wichtig für mich – sowohl um Herrn Öcalan zu verstehen als auch die Dimensionen des internationalen Komplotts. So sagte er uns: »Ich versuche euch am Leben zu erhalten. Ich versuche mein Volk am Leben zu erhalten. Ich versuche mein Volk wohlbehalten von diesem Ufer ans gegenüberliegende Ufer zu bringen.« Es war eine sehr bildhafte Ausdrucksweise. Wenn ich später von dieser Zeit erzählte, kam mir immer eine moderne Moses-Geschichte in den Sinn, in der ein Anführer seinen eigenen Stamm, seine Gesellschaft vor einer Gefahr schützen will. Mir wurde klar, dass die internationale Staatengemeinschaft, deren Regierungen Öcalans völkerrechtswidrige Verschleppung mindestens duldeten – wenn sie an dem Komplott nicht sogar direkt beteiligt waren –, mit ihrer Haltung die Tür zu einem bevorstehenden Genozid öffnete. Die Gefahr, mit der die kurdische Bevölkerung konfrontiert war, wurde mir durch dieses Treffen bewusst. Es ging Öcalan nicht um seine persönliche Situation, seine Haft oder um sein Überleben. Wichtig war ihm, dass sein Volk sich in ernster Gefahr befand. Er überlegte, was er gegen den drohenden Genozid tun könnte. Dies prägte das erste Treffen und war wichtig für mich, um das internationale Komplott in all seinen Dimensionen zu verstehen.

Mit der Festsetzung Öcalans wurde letztlich versucht, die politischen Erfolge der kurdischen Widerstandsbewegung auszulöschen und die revolutionäre Dynamik in der kurdischen Bevölkerung zu zerstören. Er war sich dessen bewusst, dass die ihm damals drohende Hinrichtung nicht nur auf ihn begrenzt bleiben würde. Er wusste, sie würde mit der Hinrichtung tausender Kurden einhergehen. Das zeigt die Geschichte des kurdischen Widerstands. So waren beispielsweise in Folge des Scheich-Said-Aufstands nicht nur die Anführer ermordet worden, sondern mit ihnen zehntausende Menschen. Im Dersim-Aufstand wurden nicht nur Seyîd Riza und seine Freunde hingerichtet, auch hier folgte die Ermordung Zehntausender. Diese historische Realität war nun wieder eine drohende Gefahr. Öcalan hat es geschafft, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Er beseitigte, was das kurdische Volk bereits als sein Schicksal angenommen hatte. Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass das kurdische Volk im Laufe der Geschichte immer wieder gegen Unterdrückung und die Verleugnung der kurdischen Identität rebelliert hat und infolgedessen die Anführer ermordet und Massaker an der Bevölkerung verübt wurden. Dies ist beim Scheich-Said-Aufstand, Dersim-Aufstand, Zîlan-Massaker und Ararat-Aufstand passiert. Mit dem Widerstand der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) drohte die kurdische Gesellschaft wieder an solch einem kritischen Punkt der Geschichte angekommen zu sein. Herr Öcalan führte uns das vor Augen, damit sich die Geschichte nicht wiederholte. Er hat seine eigene Haltung darauf ausgerichtet, einen Genozid zu verhindern. Ich denke, dass sein Auftreten auf Imrali sowie bei den späteren Verhandlungen damit zusammenhängt. An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass er seit den 1993ern friedliche Lösungsansätze für die kurdische Frage verfolgte.

Es hatte bereits während der Amtszeit des Ministerpräsidenten Turgut Özal indirekte Verhandlungen und Waffenstillstände gegeben. Wenn er nicht 1993 ums Leben gekommen wäre, dann hätte diese Initiative zur friedlichen Lösung Aussicht auf Erfolg haben können. Seit 1993 versucht die Widerstandsbewegung die kurdische Frage auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Auf Imrali hat Herr Öcalan seine Friedensbestrebung zum zentralen politischen Anliegen gemacht. Der eben beschriebenen Gefahr eines Genozids hat er einen neuen Friedensvorstoß entgegengesetzt.

Vor zwanzig Jahren wurde Abdullah Öcalan als PKK-Vorsitzender verschleppt und auf Imrali inhaftiert. Wie würdest du seine Rolle heute bewerten? Welche Veränderungen hat er durchgemacht?

Seit dem Jahr 1999 hatte ich Herrn Öcalan anwaltlich vertreten, regelmäßig auf Imrali getroffen und die Möglichkeit gehabt, in den kritischsten Phasen mit ihm zu diskutieren. Ich bin einer der Anwälte, die ihn mit am häufigsten trafen. Fünf Jahre lang, bis es Ende 2004 verboten wurde. In dieser Zeit präsentierte er, im Rahmen seiner Verteidigung vor Gericht, die These der demokratischen Republik. Im Mittelpunkt stand dabei die Absicht, die türkisch-kurdischen Beziehungen demokratisch neuzugestalten und eine neue türkische Republik ins Leben zu rufen, in der die Kurden als Volk anerkannt werden, und so einen nachhaltigen Frieden zu schaffen.

Um seine Rolle auf Imrali zu verstehen, ist es wichtig, die Zusammenhänge des internationalen Komplotts zu erklären. Die Verschleppung Öcalans ist keine alleinige Sache der Türkei gewesen. Im Zentrum standen die strategischen Interessen verschiedener Staaten, insbesondere der Großmacht USA. Die Türkei war auf das Know-how fremder Geheimdienste angewiesen, die das Komplott organisierten, sie verfügte nicht über die Kraft, eine Operation dieser Größenordnung allein zu stemmen. Dieser Aspekt ist sehr wichtig. Das gemeinsame Interesse bestand darin, Öcalan aus dem Mittleren Osten zu entfernen und die kurdische Dynamik zu zerschlagen, um einen neuen Mittleren Osten nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. So folgte auf das Komplott die Invasion der USA im Irak. Mit der Intervention im Irak wurde von George W. Bush 2004 das »Greater Middle East Project« präsentiert. Ich denke, dass das Komplott gegen Öcalan auch mit dem Ziel zusammenhing, die revolutionären Dynamiken im Mittleren Osten zu beseitigen, um in der Region Fuß fassen zu können. Die darauf folgenden Entwicklungen haben das natürlich noch verdeutlicht. Viele Staaten spielten in diesem Komplott eine Rolle, auch eine Vielzahl von EU-Ländern. Öcalan erklärte, die Rolle der Türkei habe lediglich darin bestanden, ihn aus Kenia in die Türkei zu bringen und den Gefängniswärter zu spielen. Mit der Intervention ausländischer (Groß-)Mächte wurde die kurdische Bewegung schwer getroffen.

Die Politik der Türkei wurde mit einigen Metaphern beschrieben. Es hieß z. B., man wolle »den Kopf vom Körper trennen«. Wenn erst der Kopf vom Körper getrennt wäre, solle dann der Körper zerschlagen werden. Der Kopf war Öcalan und der Körper die kurdische Bevölkerung sowie die kurdische Freiheitsbewegung. Diese Strategie kann einfach erklärt werden: Öcalan wird festgenommen, inhaftiert oder hingerichtet und damit die emanzipatorische Dynamik der kurdischen Gesellschaft nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien, im Irak und dem Iran schrittweise beseitigt. Deshalb ging es beim internationalen Komplott nie allein um seine Verhaftung, sondern um die Absicht, dem kurdischen Widerstand als Ganzes ein Ende zu bereiten. Das war nicht nur die Erwartung des türkischen Staates. Im Rückblick auf die Presse von 1999 lässt sich die Hoffnung erkennen, dass man Öcalan los sei und die Angelegenheit damit beendet wäre. An dem Punkt erläuterte Herr Öcalan, dass vor ihm zwei Wege lägen. Er wollte entweder in einen unbefristeten Hungerstreik treten, der mit seinem Tod enden würde, oder er wollte, angesichts der Gefahr eines Genozids und der Zerschlagung der revolutionären kurdischen Dynamik, eine andere Widerstandsform entwickeln. Er erklärte, dass er den schwierigeren der beiden Wege bevorzuge. Das Schwierigste war es auf Imrali, am Leben zu bleiben. Er sagte, das sei schwieriger als zu sterben: »Zu sterben wäre eine einmalige Befreiung für mich. Ich lebe unter Bedingungen, in denen jeder Tag den Tod für mich bedeutet. Doch ich erlebe das für mein Volk.« Von diesem Punkt an hat er meiner Meinung nach eine Doppelstrategie verfolgt. Er hat es nicht auf diese Weise formuliert, das ist meine eigene Einschätzung.

Bereits bei einem der ersten Treffen stellte er uns Anwälten die Frage: »Soll ich leben oder nicht?« Diese Frage hat uns natürlich sehr überrascht. Wir erklärten, dass wir als seine Anwälte natürlich wollten, dass er lebt. Er sagte: »Ich denke darüber nach, seitdem ich hierhergebracht wurde. Ist es für mein Volk vorteilhafter, wenn ich lebe oder wenn ich sterbe? Ich habe mich noch nicht entscheiden können. Seitdem ich im Flugzeug saß, denke ich darüber nach.« Nach ein paar Monaten teilte er uns dann mit: »Ich habe entschieden zu leben. Wisst ihr, warum? Erstens, wenn ich sterben sollte, wird dieses Komplott nicht aufgedeckt und verstanden werden. Die kurdische Gesellschaft wird ihre Freunde und Feinde nicht erkennen. Mit meinem Leben möchte ich das Komplott mit all seinen Zusammenhängen zum Vorschein bringen. Zweitens, um eine politische Linie zu verfolgen und das Komplott ins Leere laufen zu lassen.« Nachdem er sich auf den Widerstand fokussiert hatte, verfolgte er eine Doppelstrategie. Die von ihm beim Anwaltsbesuch am 2. Mai 2019 benannte »Haltung auf Imrali« ist wahrscheinlich ein Ausdruck dieser Strategie. Wie gesagt, das ist meine eigene Einschätzung, er hat es nicht so formuliert.

Das erste Standbein dieser Strategie ist folgendes: Angesichts der Gefahr von Massakern an der kurdischen Bevölkerung und von wachsendem Chauvinismus und Nationalismus in der Türkei mussten die Forderungen der kurdischen Bewegung reduziert werden. Um den Chauvinismus zu bremsen, den Druck etwas zu mindern und so die Grundlage für einen Kompromiss zu schaffen. So sollte einer friedlichen Lösung der Weg geebnet werden. Das in Öcalans Verteidigungsschriften vorgestellte Projekt der demokratischen Republik legt den Schwerpunkt auf Sprache und Kultur. Darüber hinaus geht es darum, Kanäle für Dialog und Verhandlungen zu öffnen sowie dem türkischen Nationalismus etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Das war ein Versuch ab 1999. Er schrieb das Manifest, rief am 2. August 1999 die Guerilla zum Rückzug auf und auf seinen Appell hin wurden Friedensgruppen aus Europa und den Qendîl-Bergen in die Türkei entsandt. Mit diesen Schritten wollte er den Staat in Richtung einer demokratischen, friedlichen Lösung drängen. Außerdem nahm der Druck auf die kurdische Bevölkerung auf diese Weise ab.

Das zweite Standbein dieser Strategie war, dass Öcalan alle emanzipatorischen Erfolge der kurdischen Gesellschaft schützen wollte. Er wollte eine Friedensperspektive entwickeln und die Grundlage für eine Einigung schaffen. Aber gleichzeitig schützte er die demokratische, kulturelle und politische Entwicklung der kurdischen Gemeinschaft für eine neue, langfristige Linie. Er leitete eine Phase ein, in der die ganze Gesellschaft sowie der politische Arm der Bewegung und auch die Guerilla durchatmen konnten. Er hat die grausame Entschlossenheit des Staates in gewissem Sinne absorbiert, gestoppt sowie eine gemäßigte Stimmung erzeugt. Dabei haben die zentralen Dynamiken der kurdischen Gesellschaft keinen Schaden genommen.

Die kurdische Bewegung war über ihre Fixierung auf den Anführer Öcalan definiert worden. Er wurde festgenommen, doch die kurdische Dynamik erlitt dadurch keinen anhaltenden Schaden. Das ist einer der größten Erfolge Öcalans nach 1999. Das ist meines Erachtens zur zentralen Haltung auf Imrali geworden. Er hat die Gewalt des Staates reduziert, den Weg zum Dialog geöffnet und die gesellschaftlichen, politischen sowie kulturellen Entwicklungen geschützt. Das ist ein unglaublicher strategischer Erfolg. Öcalan wusste, dass der Körper beseitigt werden sollte und es diesen zu schützen galt. Die staatliche Politik zielte darauf ab, den Kopf vom Körper zu trennen. Doch der Kopf war so stark, dass er nicht erlaubte, den Körper zu zerlegen.

Öcalan hat auf Imrali seine Strategien und seinen Politikstil weiterentwickelt. In den vergangenen zwanzig Jahren hat er sich schrittweise zur Schlüsselfigur für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei gemacht. Das hat er durch seine intellektuellen Leistungen und seine philosophischen Arbeiten bewerkstelligt. Er schuf einen ideologischen Rahmen für das gemeinsame Zusammenleben. Sein bedeutendster Beitrag dazu ist meines Erachtens die Theorie der demokratischen Nation, die er in seinen letzten Verteidigungsschriften darlegt. Seine Position, den Nationalismus abzulehnen und die demokratische Nation in den Vordergrund zu rücken, ist meines Erachtens ein Meilenstein für die kurdische Gesellschaft. In seiner letzten Verteidigungsschrift erklärt Öcalan, dass der wichtigste Aspekt des vierzigjährigen Widerstands in der Umsetzung der Theorie der demokratischen Nation liege. Ich denke, dieses Konzept ist für die linke Theorie und den sozialistischen Kampf ein Schlüsselbeitrag, der die im Sozialismus fehlende, kritische Herangehensweise an die Nation um die Theorie der demokratischen Nation ergänzt. Die Früchte dieses Bestrebens sehen wir nun in Rojava (im Aufbau der Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens). Das von Öcalan seit 1999 aufgebaute Paradigma wird dort in die Praxis umgesetzt.

Außerdem hat Herr Öcalan in seinen Schriften eine ernsthafte Selbstkritik der PKK formuliert. An zentralen Punkten wie z. B. Staat, Gewalt, Nationalstaat und Nationalismus hinterfragt er seine eigene Praxis und entwickelt neue Ansätze. Als Alternative zum klassischen Nationalstaatsmodell hat er die Theorie der demokratischen Nation ausgearbeitet und damit den eigenen Nationalismus überwunden, mit der legitimen Selbstverteidigung durchbricht er die Gewaltspirale, dem Nationalstaatsmodell setzt er den Konföderalismus entgegen. Er hat Gegenvorschläge und damit schrittweise ein neues Paradigma entwickelt. Dies hat ihn für breite gesellschaftliche Kreise, auch außerhalb der kurdischen Gemeinschaft, geöffnet. Öcalan wurde als PKK-Vorsitzender auf Imrali inhaftiert und ist nun, zwanzig Jahre später, durch seine friedenspolitische Schlüsselrolle und das Konzept des demokratischen Konföderalismus zu einer Führungspersönlichkeit für die Völker im Mittleren Osten geworden, die nach Freiheit und Selbstbestimmung streben.

Seine Antwort auf das Komplott ist äußerst ideologisch und philosophisch. Deswegen sage ich immer, dass er zwar im Jahr 1999 beseitigt wurde, um den Einfluss der Kurden im Mittleren Osten zu schwächen, er aber Jahre später mit seinen Gedanken, Konzepten und schließlich der Rojava-Revolution in den Mittleren Osten zurückgekehrt ist. Als Parteiführer hat er Syrien verlassen und mit dem sogenannten Dritten Weg ist er als Vordenker einer freien, multiethnischen, multireligiösen und basisdemokratischen Gesellschaft zurückgekehrt. Daher müssen die zwanzig Jahre auf Imrali auch als Zeit des Widerstands betrachtet werden. Natürlich ist es für ihn persönlich auch eine Phase der Isolation und Repression – ein Leben unter Folter –, aber politisch muss man diese Zeit als Widerstandsphase sehen, in der sich die kurdische Bewegung und die Gesellschaft neu strukturiert haben. So wurden vor allem nationalistische Bestrebungen in der Gesellschaft unwichtiger und das Interesse der kurdischen Gesellschaft am gemeinsamen Zusammenleben der Völker wurde vertieft. Außerdem wurde die kurdische Identität durch Abdullah Öcalan auch international auf die Agenda gesetzt.

Abdullah Öcalan wird häufig über seine Rolle als politischer Führer definiert. Doch insbesondere in der Zeit auf Imrali hat er eine unglaubliche gedankliche Schärfe erreicht. Dies versuchte er in seinen Verteidigungsschriften zum Ausdruck zu bringen. Die Rolle des politischen Anführers hat er hinter sich gelassen. Es war selbstverständlich, dass es ihm auf Imrali nicht mehr möglich sein würde, eine klassische politische Führungsrolle zu übernehmen. Es ist ein vom Staat kontrolliertes Dasein. Über eintausend Soldaten bewachen die Insel. Es war klar, dass er keine klassische politische Repräsentation ausüben könnte, doch er hat sich in die Rolle eines strategischen Anführers gebracht. Mit seinem Denken hat er die Völker umarmt. Er hat alternative Formen der Politik entwickelt. Wenn jemand die Kapazität hat, solches im Gefängnis zu bewerkstelligen, was wird er dann wohl draußen können? Er hatte schon vorher Kritiken am Realsozialismus verfasst und nach Alternativen gesucht. Doch er konnte das alles erst richtig auf Imrali zum Ausdruck bringen.

Unter den Bedingungen einer zwölf Quadratmeter großen Zelle hat er eine neue politische Kultur, ein neues politisches Bewusstsein, eine neue politische Strategie und damit ein neues Paradigma entwickelt. An einem Ort, der wie kein anderer unter der Kontrolle des Staates steht, hat er ein nichtstaatliches Regierungs- und Gesellschaftsmodell entwickeln können, das die Völker der Region ebenso wie die kurdische Bewegung inspiriert. Er hat eine Widerstandsform entwickelt, die den vom Staat kontrollierten Raum überwindet. Ich denke, das ist auch eine der originellsten Seiten Öcalans. Denn dieser Punkt wird oft falsch verstanden. Einige vermuten nämlich hinter jedem Vorstoß von ihm den türkischen Staat. Das ist ein Denken, das den Staat übertrieben heiligt, ihn über alles stellt und meint, er kontrolliere jede kleinste Zelle des Individuums und seines politischen Handelns. Selbstverständlich herrscht der Staat physisch vollständig über Imrali. Doch ich kann sagen, dass Öcalan mit der Sympathie und dem Vertrauen von Millionen Menschen sowie den politischen Kräften, die gemeinsam mit ihm agieren, mithilfe einer Politik, die nicht den Staat zum Adressaten hat, und einer spannungsgeladenen Beziehung zum Staat einen neuen Raum für politische Agitation geschaffen hat.

Wie bewertest du die Wahrnehmung Abdullah Öcalans in Europa und im Besonderen in Deutschland?

Politik, wie wir sie kennen, ist als westliches Produkt entstanden. Politische Parteien, aber auch der Sozialismus sind als eurozentrische Gedankensysteme entwickelt worden. Phänomene wie der Personenkult, also auch der Faschismus, sind als Teil der westlichen politischen Kultur entstanden. Hier wurde immer versucht, Politikformen jenseits der eigenen vom eigenen spezifischen Standpunkt aus zu verstehen. Ich denke, dass dieser Denkansatz einer der entscheidenden Gründe für die fehlerhafte Auseinandersetzung mit der kurdischen Sache ist. Die unterschiedliche Bedeutung von politischer Partei und politischer Führerschaft in Europa und im Mittleren Osten, insbesondere bei der kurdischen Gesellschaft, konnte nicht verstanden werden. Zum anderen denke ich, dass nicht ernsthaft der Versuch unternommen wurde, die kurdische Bewegung zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit der Thematik verläuft für gewöhnlich über bestimmte Denkmuster und Schablonen. Oft habe ich mitbekommen, wie die PKK als stalinistisch deklariert und beiseitegeschoben wurde. Das ist meines Erachtens eine ganz und gar orientalistische Herangehensweise. Man selbst wird als Zentrum der Welt betrachtet, das gilt auch für die europäische Linke. Alle anderen revolutionären Dynamiken werden durch die eigene Brille bewertet. Dies sind sehr arrogante Ansätze, die ich ablehne. Wirklich linke, sozialistische Ansätze müssen darauf beruhen, Bewegungen wirklich zu verstehen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass viele linke Bewegungen in Europa die kurdische Freiheitsbewegung und die PKK über die türkische Linke kennen gelernt haben. Die türkische Linke ist der kurdischen Bewegung von Anfang an mit nationalistischen Reflexen begegnet. Wichtige Strömungen der türkischen Linken sind unter Einfluss des Kemalismus entstanden und damit wurde die kemalistische Wahrnehmung von Kurden im Namen der Linken auch in Europa reproduziert. Das ist meine allgemeine Beobachtung. Wichtiger ist jedoch, dass die Transformation der PKK häufig nicht wahrgenommen wird. Die PKK ist nicht mehr die Partei von 1993, Öcalan ist nicht mehr die Person von 1993 oder 1999. Es ist eine Bewegung entstanden, die sich tagtäglich erneuert und weiterentwickelt. Sie begann mit realsozialistischen Einflüssen, hat sich aber heute vollständig vom Realsozialismus gelöst und einen neuen linken Ansatz entwickelt. Wie hat es die PKK geschafft, dass aus ihrem Widerstand eine Freiheitsbewegung mit Millionen von Anhängern entstanden ist, während alle linken Bewegungen, auch die in der Türkei, zerfallen sind? Eine Antwort darauf können die besagten Kreise nicht geben. Oder darauf, wie es die PKK im Mittleren Osten, wo es im Zuge des »Arabischen Frühlings« eine Vielzahl sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Umbrüche gab, in Rojava geschafft hat, ein neues, ausstrahlendes Gesellschaftssystem aufzubauen.

Abschließend kann ich sagen, dass der Blick der europäischen Linken auf die kurdische Bewegung und die PKK entweder von der Kriminalisierung durch die Bundesregierung geprägt ist oder die Herangehensweise von Kreisen, die der türkischen Staatsdoktrin anhängen, übernommen hat. Ein eigener origineller Blick oder ein eigenes Bestreben zu verstehen ist nicht wirklich vorhanden. Die Erwartung auf kurdischer Seite ist ein ernsthaftes Bemühen um ein richtiges Verständnis. Wenn sie erklären wollen, wie eine Bewegung mit vierzigjähriger Widerstandserfahrung zunehmend internationaler wird, immer mehr Völker miteinschließt und Politik in immer größerem Maßstab beeinflusst, müssen sie das Bestreben haben zu verstehen. Mit der Rojava-Revolution hat sich in dieser Hinsicht etwas getan. Doch die Auseinandersetzung ist immer noch sehr unzureichend. Insbesondere die Person Öcalan wird in der kurdischen Gesellschaft völlig anders wahrgenommen. Die Perspektiven in Europa und damit auch in Deutschland sind sehr von Vorurteilen geprägt und unterscheiden sich somit oft von der kurdischen Realität.

Wie bewertest du den ersten Anwaltsbesuch auf Imrali nach acht Jahren? Abdullah Öcalan ruft dazu auf, dass seine Sieben-Punkte-Erklärung von allen Kreisen diskutiert werden soll. Wie schätzt du die gegenwärtige Phase ein?

Öcalans Erklärung an die breite Öffentlichkeit ist bedeutend. Bei näherem Hinsehen kann man die Spuren des von ihm seit zwanzig Jahren verfolgten politischen Ansatzes erkennen. Er betrachtet die Politik als Lösungsweg, als die Kunst, eine Lösung zu finden. Er sieht die Politik als einen Weg, um abseits von Krieg Lösungen zu entwickeln, und möchte dieses Ziel wirksam verfolgen. Er legt einen Ansatz dar, der die gesellschaftliche Spaltung überwindet und sich Verhandlungen sowie die Bereitschaft zum Kompromiss zur Grundlage nimmt. Einmal mehr schlägt er der Türkei, Rojava und Syrien diesen demokratischen Weg vor.

Die Deklaration zeigt, dass Herr Öcalan erstens eine konstante Widerstandslinie verfolgt. Im dreißigminütigen Gespräch mit seinem Bruder am 11. September 2016 sagte er mit Verweis auf 2013: »Ich stehe immer noch auf dieser Seite des Verhandlungstisches und bin immer noch bereit.« Wann immer er es zur Sprache bringen kann, erklärt er seine Bereitschaft, einen Beitrag zu einem demokratischen Lösungsweg zu leisten, und betont, bei diesem Thema gedanklich vorbereitet zu sein. Seit dem Ende der Friedensverhandlungen und der Aufkündigung des Dolmabahçe-Abkommens von 2015 durch den heutigen Staatspräsidenten Erdoğan hat die kurdische Bevölkerung eine neue Welle staatlicher Repression und hemmungsloser Gewalt erleiden müssen. In den Jahren 2016 und 2017 wurden wieder kurdische Städte im Südosten der Türkei durch das Militär zerstört, noch immer herrscht der Ausnahmezustand und die Gesellschaft im Land ist tief gespalten. In Efrîn findet eine, von Ankara aus initiierte, ethnische Säuberung statt. Diese Entwicklungen haben einmal mehr deutlich gemacht, dass Isolation und Krieg zu keiner Konfliktlösung führen können. Die Erfahrungen der letzten vier Jahre zeigen einmal mehr, dass man mit einer Politik, die sich Krieg und Gewalt zur Grundlage nimmt und den Dialog ablehnt, keinen Frieden schaffen kann. Öcalan greift einmal mehr ein und betont die Notwendigkeit einer friedlichen, demokratischen Lösung.

Zweitens wird das Hauptmerkmal der von Öcalan seit zwanzig Jahren entwickelten politischen Praxis deutlich: Seine Worte richten sich an die gesamte Gesellschaft. Zwar hat er sich natürlich auf Imrali von Zeit zu Zeit mit Vertretern des türkischen Staates getroffen. Als er 1993 noch in Freiheit war, hatte er bereits erklärt: »Ich suche einen Gesprächspartner. Der Staat soll jemanden beauftragen, damit wir das Problem lösen können.« Er war Gesprächen mit dem Staat gegenüber immer aufgeschlossen. Er wollte den Konflikt auf dem Verhandlungsweg lösen. Das versucht er seit 1993. Während seiner Zeit auf Imrali gab es die Osloer Gespräche und die Friedensverhandlungen zwischen 2013 und 2015. Aber sein eigentlicher Adressat ist immer die Gesellschaft als Ganzes, mit ihrer Zivilgesellschaft und den politischen Parteien. Deswegen gibt es immer wieder Aufrufe an z. B. die CHP, die HDP, an intellektuelle und andere zivilgesellschaftliche Kreise. Wenn es eine demokratische, friedliche Lösung geben kann, dann durch die aktive Beteiligung dieser Gruppen. Es sind zwei verschiedene Dinge, mit dem Staat zu verhandeln oder die politische Strategie nur auf den Staat zu stützen und als Grundlage allen Handelns zu nehmen. Öcalans Vorgehensweise ist eine Politik, die gemeinsam mit der Gesellschaft betrieben wird. Eine Politik, die für die Gesellschaft und mit der Gesellschaft gemacht wird. Entscheidend für den Erfolg seiner Sprache des Friedens und seiner Lösungsorientierung ist die Partizipation der fortschrittlichen Kreise an solch einem demokratischen Lösungsweg. Das gilt auch auf der internationalen Ebene. Zum Beispiel sollten sich alle fortschrittlichen Gruppen in Europa gegen die türkische Regierung positionieren, die die Sprache der Gewalt gewählt hat, und den demokratischen Lösungsweg einfordern und stärken.

Diese Position wird gegenwärtig von der Sieben-Punkte-Erklärung Öcalans repräsentiert. Im Zentrum dieser Erklärung steht das Bestreben, eine Lösung jenseits von Krieg und ohne Polarisierung, durch Kompromisse, zu erreichen. Das kann nur unter Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen funktionieren. Öcalans Appell richtet sich an alle Völker, politischen Parteien, die Zivilgesellschaft, Intellektuelle, aber auch an Regierungskreise, die für eine demokratische Lösung und den Verhandlungsweg offen sind. Die Aussagen Öcalans nur auf staatliche Politik zu reduzieren ist einer der entscheidenden Fehler, der den Politikstil Öcalans aushebelt, der auf der gesellschaftlichen Kraft fußt. Die Demokratie wird als partizipativ aufgefasst, daher hat Öcalan bereits in seinen ersten Verteidigungsschriften die Formel »Staat plus Gesellschaft« entwickelt. Ich denke, über diese Formel kann Öcalan am besten verstanden werden. Im Zentrum seiner Vorstellung vom Staat steht die Gesellschaft. Und je weiter der demokratische Raum ausgedehnt wird, umso mehr wird der Staat geschwächt. Der despotische Regimecharakter des Staates wird somit zurückgedrängt, je mehr die Gesellschaft an den Entscheidungen beteiligt ist. Die Gesellschaft muss diese Beteiligung allerdings aktiv einfordern und darf nicht darauf warten, dass der Staat ihr diese Kompetenzen überträgt. Es ist eine Einladung an alle, die gesellschaftlichen Konflikte und den Krieg in der Türkei auf demokratischem, friedlichem Wege zu lösen. Es ist ein Aufruf, der zeigt, dass sich Öcalan seine Hoffnung und seinen Glauben an Frieden bewahrt hat. Dieser Aufruf muss richtig verstanden und beantwortet werden.

So sollten auch die politischen Parteien und die zivilgesellschaftlichen Gruppen in Deutschland ihre Bedenken zur Seite schieben und die Türkei auf der Grundlage des Sieben-Punkte-Plans zwingen, Schritte einzuleiten. Das gemeinsame Anliegen der kurdischen und der türkischen Bevölkerung sind Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dazu kann jeder Einzelne einen Beitrag leisten; auf politischer Ebene wäre eine neue, gemäßigte Sprache ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Aus: Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019