„Mit dem Geist des Aufstands vom 12. März 2004 werden wir die Besatzung überwinden und den Willen der Völker durchsetzen“ – so in etwa lautete die Losung der Zeremonie für die Toten des Aufstands von Qamişlo, der sich heute zum neunzehnten Mal jährt. Die Gedenkfeier fand auf Einladung der Demokratischen Autonomieverwaltung der Cizîrê-Region und des Zivilrats von Deir ez-Zor im Stadion der Stadt Qamişlo statt und begann mit einer Rede von Remziye Mihemed, der Sprecherin des Dachverbands der Frauenbewegung Kongra Star.
Der „Serhildan von Qamişlo“ gilt als erster Massenaufstand in Rojava und fiel in eine Zeit, in der sich der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein zum ersten Mal jährte und gemeinsame Kabinettssitzungen der Türkei und Syriens stattfanden. Remziye Mihemed bezeichnete den Aufstand als Vorläufer der Revolution von Rojava. „Das kurdische Volk bekundete mit dieser Rebellion seinen Willen für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Denn damals wie heute versuchte das Regime, Feindschaft und Ausgrenzung zwischen den Völkern Syriens zu schüren und seine Mentalität der Spaltung zu festigen.“
Remziye Mihemed | Foto: ANHA
Die Kurdinnen und Kurden begehrten allmählich auf gegen ihre Unterdrückung durch die arabisch-nationalistischen Herrschenden, fuhr Mihemed weiter fort. „Das Regime glaubte, die Brücken unseres aufbegehrenden Volkes zu vernichten und versuchte, seine Macht durch eine Polarisierung der Gesellschaft zu sichern. Doch es ist gescheitert. In Qamişlo wurde der Samen einer Revolution ausgestreut, der schnell auf ganz Rojava übergriff. Ich gedenke aller Opfer mit tiefem Respekt und großer Dankbarkeit. Ihnen haben wir zu verdanken, dass unsere Revolution geboren wurde und nicht nur Rojava sowie Nord- und Ostsyrien verändert hat.“
Das Massaker
Am 12. März 2004 sollte in Qamişlo eigentlich nur ein Fußballspiel zwischen der kurdischen Mannschaft Jihad und der arabischen Mannschaft Fatwa aus Deir ez-Zor stattfinden. Doch es folgte ein blutiges Massaker, das vom syrischen Geheimdienst gezielt geplant und initiiert worden war.
Bereits im Vorfeld der Partie kam es zu Provokationen seitens arabisch-nationalistischer Fans, die antikurdische und pro-irakische Parolen skandierten, ohne dass die Polizei eingriff. Beim Betreten des Fußballstadions wurden die Jihad-Fans dann auf Waffen durchsucht, nicht aber die Anhänger von Fatwa. Im Stadion selbst fuhren die Gästefans aus Deir ez-Zor fort, Parolen wie „Lang lebe Saddam Hussein” und „Wir geben unser Blut für Saddam Hussein” zu rufen und die Kurden als „Verräter” zu beschimpfen. Darüber hinaus wurden Bilder von Saddam Hussein gezeigt. Die Kurden reagierten mit „Lang lebe Kurdistan”.
Als die Stimmung kippte und es schließlich zu Ausschreitungen kam, griffen die Sicherheitskräfte des Regimes gemeinsam mit den arabischen Fans die Kurden im Stadion an. Die Anhänger von Fatwa hatten Steine und Eisenketten mitgebracht, versteckt in ihren Teekannen. Die Bilanz dieses ersten Angriffs: Vier Tote und zahlreiche Verletzte. Die Ausschreitungen weiteten sich auf die gesamte Stadt aus und trotz einer am Abend über Qamişlo verhängten Ausgangssperre gingen zehntausende Menschen auf die Straße. Die Demonstrierenden verbrannten syrische Fahnen, zerstörten Statuen des verstorbenen syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad und setzten die Sicherheitszentrale der Polizei, das Gebäude des syrischen Geheimdienstes sowie den Sitz des Landrates in Brand. Bei diesen Demonstrationen wurden mindestens 30 weitere kurdische Zivilisten getötet, mehr als 1000 wurden verletzt und über 2500 verhaftet.
Geplantes Pogrom
Unter den syrischen Regimesoldaten, die mit scharfer Munition in die Menschenmenge schossen, war auch der damalige Gouverneur von Hesekê. Damaskus verbreitete die These, bei den pogromartigen Gewaltakten habe es sich um eine „spontane Aktion“ der arabischen Fans gehandelt. Dagegen sprach Einiges – unter anderem die massive Bewaffnung der arabischen Fans sowie das Vorhandensein von Saddam-Bildern. Auch die ab Ende 2002 angesichts des sich abzeichnenden Regimewechsels im Irak aufkommenden kurdischen Proteste – beispielsweise eine Demonstration vor dem syrischen Parlament in Damaskus im Dezember 2002 und eine große Aktion am 25. Juni 2003 vor dem Hauptgebäude von UNICEF ebenfalls in Damaskus – sprachen für die Annahme, dass es sich bei dem Massaker von Qamişlo um eine gezielte Provokation des syrischen Geheimdienstes gehandelt hat.
In jenen Tagen nach dem Massaker fasste die Bevölkerung von Rojava den Beschluss, sich fortan umfassend klandestin zu organisieren, um jeden weiteren Angriff des Regimes abwehren zu können. Diese Selbstorganisierung legte den Grundstein für die Revolution von Rojava, die knapp acht Jahre später losbrechen sollte. Als erste große Bewegung zur Organisierung der Gesellschaft gilt die Kongra Star, die am 15. Januar 2005 unter dem Namen „Yekîtiya Star“ gegründet wurde. Viele ihrer späteren Aktivistinnen und Gründungsmitglieder waren im Schatten des Massakers in Qamişlo vom Baath-Regime verfolgt worden, zahlreiche kurdische Frauen verschwanden in den Folterzentren des syrischen Geheimdienstes.
Die Zeremonie im „Stadion der Gefallenen des 12. März“ wurde mit weiteren Redebeiträgen fortgesetzt. Ansprachen gab es unter anderem im Namen des Angehörigenrats von Gefallenen und der Selbstverwaltung, das Programm wird begleitet von kulturellen Beiträgen. Für den Abend ist zudem ein Freundschaftsspiel zwischen den Fußballmannschaften aus Cizîrê und Deir ez-Zor geplant. Auch in anderen Städten in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien wird bei dezentralen Aktionen der Toten des Aufstands gedacht.