12. März 2004: Der Aufstand von Qamişlo
Am 12. März 2004 brach in Qamişlo ein Aufstand aus, der schnell auf ganz Rojava übergriff. Zeitzeugen berichten von den Geschehnissen und der damaligen politischen Atmosphäre.
Am 12. März 2004 brach in Qamişlo ein Aufstand aus, der schnell auf ganz Rojava übergriff. Zeitzeugen berichten von den Geschehnissen und der damaligen politischen Atmosphäre.
Am 12. März 2004 wurden bei vom syrischen Baath-Regime organisierten Auseinandersetzungen nach einem Fußballspiel in Qamişlo 32 Kurden getötet. Nach diesem Massaker brach ein Aufstand aus, der sich in ganz Rojava und sogar in Aleppo und Damaskus ausbreitete. Der „Serhildan von Qamişlo“ gilt als erster Massenaufstand in Rojava und fiel in eine Zeit, in der Saddam Hussein im Irak gestürzt wurde und gemeinsame Kabinettssitzungen der Türkei und Syriens stattfanden.
Gegenüber ANF haben sich Augenzeugen der damaligen Vorfälle geäußert. Xelîl Yûsif hat bei dem Massaker seinen Sohn verloren und ist später durch die erlittene Folter erblindet. Welîd Çolî ist Mitarbeiter des Euphrat-Zentrums für strategische Studien und war damals im Fußballstadion. Çinar Salih, die ebenfalls im Euphrat-Zentrum arbeitet, hat sich zu den politischen und soziologischen Hintergründen des Massakers und des daraufhin ausgebrochenen Aufstands geäußert.
Çinar Salih: Auch in Syrien hat der Nationalstaat eine hasserfüllte Bürgertypologie hervorgerufen. Nach dem Sturz von Saddam Hussein im Irak sollte sie irgendwo zur Explosion gebracht werden und dieser Ort war das Stadion von Qamişlo. Es gibt jedoch noch eine andere Stelle, die verdächtig war. In der Regierungszeit von Baschar al-Assads Vater war zwischen Syrien und der Türkei das Abkommen von Adana unterzeichnet worden. Damit wurde Syrien fast zu einer Provinz der Türkei gemacht. Syrien hatte seine Tore dem türkischen Staat und der Erdogan-Regierung weit geöffnet. Auch damit wurde eine bestimmte Grundlage vorbereitet.
Xelîl Yûsif: Mein Sohn Ehmed war damals 25 Jahre alt. Am 12. März kam er mit einem Freund zu der Stelle, an der ich als fliegender Händler arbeitete. Er sagte, dass er zum Spiel ins Stadion geht.
Welîd Çolî: Auch ich war einer derjenigen, die zum Spiel gingen. Normalerweise ging ich nicht oft ins Stadion, aber an dem Tag hatte ich mich mit einem Freund für das Spiel verabredet. Aus Versehen benutzten wir denselben Eingang wie die aus Deir ez-Zor angereisten Fans. Dadurch sahen wir sie aus der Nähe. Sie verhielten sich sehr aggressiv und sprühten geradezu vor Hass. Alle hatten Thermosbehälter dabei. Was das drin war, erfuhren wir natürlich erst später.
Welche Atmosphäre herrschte am 12. März?
Çinar Salih: Damals herrschte eine Bedrängnis in Syrien, die ansatzweise mit der Situation im Irak vergleichbar war. Syrien war umklammert, blockiert, isoliert. Die Regierung wollte diese Blockade durchbrechen und die Beziehungen mit dem Ausland verbessern. Die Türkei wurde als wichtiges Standbein des internationalen Systems betrachtet. Über die Türkei sollten Verbindungen hergestellt werden. In dieser Atmosphäre fand der 12. März statt. Es waren Vorbereitungen getroffen worden. Die Kurden sind schwach, niemand steht hinter ihnen, wir können sie schlagen und zerbrechen. Über diese Einstellung war eine Gemeinsamkeit herzustellen.
Parolen für Saddam
Xelîl Yûsif: Es kamen Busse mit vielen Menschen in die Stadt. Sie streckten ihre Köpfe aus den Bussen und riefen Parolen für Saddam. Sie beschimpften die Kurden. Ihre Gesichter, ihr Verhalten, alles strahlte Zorn aus.
Welîd Çolî: Kurz nachdem wir unsere Plätze im Stadion eingenommen hatten, wurden Steine auf uns geworfen. Sie riefen chauvinistische Parolen und beschimpften die Kurden und ihre Werte. Sie riefen: „Es lebe Saddam!“ Es kam sofort zu Auseinandersetzungen.
Die ersten drei Todesopfer
Xelîl Yûsif: Als ich zum Mittagessen nach Hause kam, bekam ich einen Anruf. Mir wurde gesagt, dass es im Stadion zu Auseinandersetzungen gekommen ist und drei Personen zu Tode getrampelt worden sind. Ich ging sofort zum Stadion. Es war eine Atmosphäre wie am Jüngsten Tag.
Welîd Çolî: Die Steine, die auf uns geworfen wurden, waren in den Thermosbehältern, von denen ich erzählt habe, ins Stadion gebracht worden. Messer, Knüppel, sie hatten alles dabei. Die Qamişlo-Fans waren völlig unvorbereitet. Sie wollten nur das Spiel sehen. Bei dem Gedränge, das nach den Steinwürfen entstand, kamen drei Personen ums Leben. Die Polizei war vor Ort, aber sie griff nicht ein.
Xelîl Yûsif: Ich ging ins Stadion, um nachzusehen, was dort los war. Es regnete Steine. Sie hatten von den Gleisen einen Haufen Steine gesammelt und mitgebracht. Damit griffen sie an. Ich sagte Ehmed, dass er nach Hause kommen soll. Er antwortete, dass die Kurden beschimpft worden sind und er nicht weggeht.
Geht es um die Kurden, lösen sich die Widersprüche auf
Çinar Salih: Weil die kurdische Frage im Zentrum vieler Probleme im Mittleren Osten steht, lösen sich viele bestehende Widersprüche auf, wenn es um die Kurden geht. Zum Beispiel wird die Trennung schiitisch-sunnitisch aufgehoben. Diese Erfahrung haben wir in diesen Jahren gemacht.
Welîd Çolî: Als wir das Stadion verließen, sahen wir, dass sich die Menschen aus Qamişlo dort versammelt hatten. Die Bevölkerung wollte lediglich, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Stattdessen begann die Polizei, auf die Menschenmenge zu schießen.
Xelîl Yûsif: Mir wurde gesagt, dass Ehmed vielleicht schon nach Hause gegangen ist. Daraufhin ging ich auch nach Hause, aber dort war er nicht. Ich machte mich wieder auf den Weg zum Stadion. Im Sammeltaxi sagte ein anderer Fahrgast, dass ein junger Mann erschossen worden ist. Er beschrieb den Toten und ich erinnere mich, dass ich geschrien habe: „Mein Sohn!“. Der Fahrer drehte sich zu mir um und sagte: „Hunderttausende Menschen sind auf der Straße, woher willst du wissen, dass es sich ausgerechnet um deinen Sohn handelt.“ Wir fuhren weiter, wurden jedoch überall mit gezogenen Waffen zum Umkehren gezwungen. Als ich zu unserem Haus in Hilêliyê zurückkehrte, saß dort ein staubbedeckter Jugendlicher aus meiner Verwandtschaft. Als ich ihn fragte, was mit ihm los ist, kam er in jämmerlichem Zustand zu mir und sagte weinend: „Wir haben Ehmed verloren.“
Wie hätte ich wissen können, dass diese Kugel meinen Sohn getroffen hat und diese einzige Kugel einen Aufstand von Dêrik über Serêkaniyê bis nach Efrîn, Aleppo und Damaskus auslöste…
Welîd Çolî: Am nächsten Tag sollten die Toten beerdigt werden. Der Staat verhängte eine Ausgangssperre, aber das führte nur zu noch größerer Wut und die Menschen strömten auf die Straßen. Und dort wurden sie angegriffen. Insgesamt wurden 32 Menschen getötet, Hunderte wurden verletzt. In ganz Rojava und auch in Damaskus, Aleppo und anderen Städten gingen Kurden unabhängig von ihrer politischen Einstellung auf die Straßen und forderten Rechenschaft.
Politische Parteien spielten keine Rolle
Çinar Salih: Dieser Aufstand überraschte den Staat. Es war zur Gewohnheit geworden, dass Menschen ständig erschossen und getötet werden und alle dazu schweigen. Dieser Aufstand war jedoch nicht organisiert. Keine Partei oder politische Kraft war dazu bereit. Auch in den anderen Teilen Kurdistans war ein solcher Reflex aus dem „kleinen Süden“ [frühere Bezeichnung für Rojava] nicht erwartet worden. Die politischen Parteien spielten keine ernste Rolle bei diesem Aufstand. Einige Parteien spielten sogar eine negative Rolle. Das Besondere war die natürliche Organisierung der Bevölkerung gegen die Unterdrückung, die bei diesem Aufstand auftrat.
Welîd Çolî: Diese Vorfälle haben einige Tage angedauert. Danach wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Es begannen die Verhaftungen und Folterungen. Einige überlebten die Folter nicht. Die Kurden konnten sich nicht mehr frei bewegen. Später begann die Zeit des wirtschaftlichen Drucks. Die Menschen wurden zunehmend ärmer und konnten ihren Lebensunterhalt nicht mehr aufbringen. Daher begann die Arbeitsmigration in die Metropolen. Das ging bis 2011 so weiter.
Kerker, Hunger, Entwürdigung
Çinar Salih: Es kam einem großen Aufstand, aber er wurde gebrochen, weil es keine Unterstützung gab. Eigentlich müssen wir uns vor allem ansehen, was danach geschehen ist. Die Gefängnisse füllten sich. Aus jeder Familie kam mindestens ein Mensch ins Gefängnis. Die Menschen wurden entwürdigt. Viele zogen in die Städte. In Rojava sollten keine Kurden mehr übrig bleiben. Auch in den Städten Syriens hatten es die Menschen sehr schwer. Für ein Stück Brot mussten sie alles tun. Es wurde versucht, ihnen die Würde zu nehmen.
Der Staat hatte nach dem 12. März große Angst vor dem Bewusstsein und der gesellschaftlichen Ethik der Kurden. Deshalb musste er sie auseinandertreiben. Vielleicht nahm er sich auch ein Beispiel an dem Vorgehen der Türkei in Nordkurdistan. Es waren die Tage, in denen Erdogan sich mit der Assad-Familie traf. Die Kurden sollten aufgerieben werden, indem sie ins Gefängnis gesteckt wurden, hungern mussten und in die Metropolen getrieben wurden. Vor Jahren hatte der türkische Staat die Strategie festgelegt, dass in den kurdischen Städten im Norden höchstens zehn Prozent der Bevölkerung aus Kurden bestehen soll. Das gleiche wurde nach dem 12. März auch hier versucht.
Sogar Beerdigungen wurden angegriffen
Xelîl Yûsif: Wir machten uns mit vielen Menschen auf den Weg, um die Toten zu beerdigen. Auch dort wurden wir angegriffen, viele junge Menschen kamen ums Leben. Die Gefängnisse waren voller Kurden. Die Jugendlichen wurden in die Gefängnisse in Hesekê und Damaskus gesteckt. Tage später, als die Trauerzeit vorbei war, wollte ich meinen Stand in der Innenstadt aufbauen. Der Muhaberet [syrischer Geheimdienst] hielt unser Auto auf der Straße an. Sie wollten die Ausweise kontrollieren. Ich holte meinen Ausweis aus der Tasche und überreichte ihn. Weil ich dabei eine Zigarette in der Hand hatte, wurde ich auf den Boden geworfen und geschlagen. Fünf oder sechs Leute traten gegen meinen Kopf und sagten, dass sie Ball spielen. Ich verlor das Bewusstsein. Später verschlechterten sich meine Augen und ich wurde blind.
Feuer der Rache
Çinar Salih: Man muss ganz deutlich sagen, wenn es die Rojava-Revolution nicht gegeben hätte und die Dinge so weiter gegangen wären, würde es heute vielleicht nichts Kurdisches mehr geben. Aber die Revolution hätte vielleicht noch erfolgreicher verlaufen können, wenn es den 12. März nicht gegeben hätte. Denn die Revolution wurde von denen gemacht, die nach 2004 noch übrig waren.
Es war so weit gekommen, dass die Menschen nicht einmal zwei der Farben Gelb, Rot, Grün im gleichen Moment zeigten, weil sie dafür verhaftet und gefoltert werden konnten. Aber innerlich spürten die Menschen das ständig brennende Feuer der Rache. Dieses Feuer ist nie erloschen.