Historischer Aufruf von Abdullah Öcalan

In einer Videobotschaft bekräftigt der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan seine Überzeugung, durch demokratische Politik einen gesellschaftlichen Frieden zu erreichen. Die angekündigte Waffenabgabe der PKK betrachtet er als historischen Gewinn.

Erstes Video seit 1999

Im aktuellen türkisch-kurdischen Dialog, der seinen Anstoß im Aufruf Abdullah Öcalans für Frieden und eine demokratische Gesellschaft nahm, werden in dieser Woche weitere Schritte erwartet. Als einen davon veröffentlichen wir einen neuen Aufruf des kurdischen Repräsentanten, diesmal im Videoformat. Es ist seit 1999 die erste Botschaft von Öcalan in Bild und Ton, die die Öffentlichkeit erreicht.


ANF dokumentiert nachfolgend den Appell in deutscher Übersetzung:

Werte Genossinnen und Genossen,

Ich betrachte es als meine ethische Pflicht, Euch angesichts der aktuellen Lage unserer kommunalistischen Bewegung noch einmal mit einem umfassenden, erläuternden und gleichzeitig kreativen Schreiben Auskunft zu geben – seien es die erreichten Entwicklungen, die konkret gelebte Situation, bestehende Probleme oder mögliche Lösungswege.

1. Ich stehe weiterhin hinter dem Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft vom 27. Februar 2025.
2. Dass Ihr mit dem 12. Auflösungskongress der PKK inhaltlich umfassend und positiv darauf geantwortet habt, werte ich als eine historische Resonanz.
3.  Der erreichte Punkt ist von außerordentlichem Wert und historischer Dimension. Besonders hervorheben möchte ich auch die Mühen jener Genoss:innen, die in vermittelnder Funktion Brücken geschlagen haben – ihr Beitrag ist von gleichem Wert und verdient höchsten Respekt.
4. Als Ausdruck dieses gesamten Prozesses habe ich ein Manifest der Demokratischen Gesellschaft verfasst, das ich als historisch einstufe. Es ersetzt inhaltlich das rund 50 Jahre alte Manifest „Der Weg der Revolution Kurdistans“. Ich bin überzeugt, dass es nicht nur für die kurdische Gesellschaft, sondern auch für die Region und globale Kontexte tiefgreifende Relevanz besitzt – als ein Beispiel für gelungene politische Manifesttradition.
5.  Ich möchte deutlich hervorheben, dass all diese Entwicklungen aus den Gesprächen hervorgegangen sind, die ich auf Imrali geführt habe. Dabei wurde größtmögliche Sorgfalt darauf verwendet, dass diese auf der Grundlage freier Willensbildung stattfanden.
6.  Der erreichte Status verlangt nach nächsten, konkreten Schritten in die Praxis. Es ist von zentraler Bedeutung, anzuerkennen, dass wir uns in einem historischen und entscheidungsprägenden Prozess befinden. Diese Erkenntnis gilt es zu festigen und konsequent umzusetzen.

a) Die PKK-Bewegung, deren Grundlage in der Leugnung der Existenz und im Ziel eines eigenen Nationalstaates lag, sowie die darauf aufbauende Strategie des nationalen Befreiungskampfes, sind beendet worden. Die Existenz des kurdischen Volkes wurde anerkannt – das zentrale Ziel ist damit erfüllt. In diesem Sinne hat das Projekt seinen historischen Auftrag erfüllt. Alles darüber Hinausgehende würde in bloße Wiederholung und politische Sackgassen führen.
Auf dieser Grundlage wird der Prozess umfassender Kritik und Selbstkritik fortgeführt.

b) Da Politik kein Vakuum duldet, muss die entstandene Leere durch das Programm „Frieden und demokratische Gesellschaft“ – auf Basis demokratischer Politik, Rechtsstaatlichkeit und strategischer Kohärenz – gefüllt werden. Wir sprechen hier von einem historischen und schicksalhaften Prozess.

c) Eine freiwillige Entwaffnung und die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission auf Grundlage des Gesetzes sind für den Prozess entscheidend. Dabei ist es essenziell, sich nicht in „wer zuerst?“–Debatten zu verlieren. Ich bin überzeugt, dass diese Schritte erfolgreich sein werden. Ich sehe die Ernsthaftigkeit und vertraue dem Prozess.

d) Dementsprechend wird nun versucht, zu noch praktischeren und konkreteren Schritten überzugehen, die als Schlüssel zur Lösung dienen können. Zu den zentralen Vorschlägen, die ich in diesem Zusammenhang unterbreite, gehören:

1. Das Ziel von Frieden und einer demokratischen Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn alle auf Grundlage einer positiven und integrativen Perspektive handeln. Die PKK hat sich von ihrem nationalstaatlichen Ziel und der damit verbundenen Kriegsstrategie verabschiedet und ist als Organisation zu einem Abschluss gekommen. Nun ist es unsere Aufgabe, diesen historischen Punkt weiterzutragen.

2.  Es ist als folgerichtig und notwendig zu betrachten, dass die freiwillige Niederlegung der Waffen sowohl gegenüber dem Parlament (TBMM) und einer gesetzlich zu verankernden Kommission als auch gegenüber der breiten Öffentlichkeit in transparenter Weise vermittelt wird. Nur so lassen sich bestehende Zweifel ausräumen und die Ernsthaftigkeit des gegebenen politischen Versprechens glaubwürdig unter Beweis stellen. Die Einrichtung eines institutionalisierten Mechanismus zur Entwaffnung stellt in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Schritt zur Vertiefung des begonnenen Transformationsprozesses dar. Der Übergang von einer auf bewaffnetem Widerstand basierenden Phase hin zu einer Phase demokratischer Politik und rechtsstaatlicher Ausgestaltung vollzieht sich dabei nicht unter Zwang, sondern ist Ausdruck einer bewussten und historischen Entscheidung. Diese Entwicklung darf nicht als Verlust, sondern muss als substanzielle Errungenschaft gewertet werden. Die notwendigen Schritte zur Ausgestaltung der Waffenniederlegung werden definiert und zügig in die Praxis überführt

3.  Die im Parlament vertretene DEM-Fraktion wird – gemeinsam mit weiteren relevanten politischen Akteuren – ihren Beitrag zum Gelingen dieses historischen Prozesses leisten.

4. Was meine eigene Freiheit betrifft, die in sämtlichen Beschlussfassungen als unverzichtbare Bedingung verankert wurde, so sei erneut betont: Ich habe meine Freiheit niemals als bloß individuelles Anliegen verstanden.
Aus philosophischer Perspektive kann die Freiheit des Einzelnen nicht losgelöst von der Freiheit der Gesellschaft gedacht werden. Denn nur in dem Maße, in dem sich das Individuum befreit, wird auch die Gesellschaft frei – und umgekehrt. Es ist selbstverständlich, dass dieser Haltung weiterhin treu geblieben wird.

Ich glaube nicht an die Macht der Waffen, sondern an die Kraft der Politik und des gesellschaftlichen Friedens. Auch Euch rufe ich auf, diesen Grundsatz in die Tat umzusetzen.

Die jüngsten Entwicklungen in der Region bestätigen mit aller Deutlichkeit sowohl die historische Bedeutung als auch die Dringlichkeit des eingeschlagenen Weges.

Ich möchte betonen, dass ich mit großem Interesse und wacher Erwartung jede Form von Kritik, Vorschlag und konstruktivem Beitrag zum Prozess entgegensehe. Denn ich bin überzeugt: Die daraus hervorgehenden Debatten werden nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch im regionalen und globalen Maßstab die Kräfte der Demokratischen Moderne auf eine neue theoretische, strategische und taktische Entwicklungsstufe heben. Bereits jetzt werden dafür vorbereitende Schritte unternommen. In diese Vorbereitung bringe ich Überzeugung, eine klare Entschlossenheit und Leidenschaft ein.

Mein Aufruf für die kommende Zeit lautet daher: Lasst uns die Phase, die durch die Kongressbeschlüsse und die in diesem Schreiben formulierten Ideen geprägt ist, gemeinsam weitertragen – auf der Grundlage von Erfolg und politischer Klarheit.

Mit bleibendem solidarischem Gruß und herzlicher Verbundenheit.

19. Juni 2025
Abdullah Öcalan