Nordostsyrien 2020: Ideologische Angriffe und Widerstand

2020 war ein Jahr, in dem vor allem die ideologischen Angriffe auf die Revolution von Nord- und Ostsyrien zugenommen haben. Auch auf militärischer und politischer Ebene wird die selbstverwaltete Region bedroht.

Für Nordostsyrien hat das Jahr 2020 im Schatten der Besatzung von Girê Spî und Serêkaniyê begonnen. Im Verlauf des Jahres kam es zu weiteren sehr vielseitigen ideologischen und konventionellen Angriffen. Die Revolution der Völker von Nord- und Ostsyrien war neben militärischen, politischen und diplomatischen Angriffen auch ideologischen Attacken ausgesetzt, mit denen sie aus der Spur gebracht werden sollte. Angriffsziele sind nach wie vor die Vorstellung einer „demokratischen Nation“ und die Strategie des „Dritten Wegs“. Viele dieser ideologischen Angriffe konnten abgewehrt werden.

Auf diplomatischer, politischer und militärischer Ebene standen folgende Themen 2020 in Nordostsyrien im Vordergrund:

Kurdische Einheit: Partnerschaft oder Aufteilung?

Das ganz Jahr über fanden - auf Initiative der QSD und vermittelt von den USA und Frankreich - Gespräche über eine Einheit zwischen den kurdischen Parteien in Rojava und dem vom türkischen Staat kontrollierten ENKS („Kurdischer Nationalrat“) statt.

Am 19. Mai wurde von 25 in der Selbstverwaltung vertretenen politischen Parteien das „Bündnis für eine geeinte Nation Kurdistan“ (PYNK) gegründet. Am 17. Juni erklärten PYNK und ENKS in Qamişlo, dass ein Konsens im Rahmen des Dihok-Abkommens von 2014 (Leitung, Partnerschaft, Sicherheit und Verteidigung) erreicht worden ist.

Nach häufigen Besuchen in Hewlêr und Ankara lehnte der ENKS muttersprachlichen Unterricht auf Kurdisch und das genderparitätische System der Doppelspitze ab und wollte eine Aufteilung von Rojava durchsetzen. Die Gespräche gerieten dadurch mehrfach ins Stocken.

Diplomatische Arbeit: Nicht auf der gewünschten Ebene

Trotz der von der Corona-Pandemie verursachten Hindernisse haben die Selbstverwaltung und der Demokratische Syrienrat (MSD) ihre diplomatischen Kontakte im In- und Ausland auch in diesem Jahr fortgesetzt.

Vertreterinnen und Vertreter Nordostsyriens haben Gespräche in Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Libanon, dem Irak und mit weiteren Ländern im Mittleren Osten geführt, in acht europäischen Ländern wurden Vertretungen gegründet.

Im Verlauf des Jahres haben Abordnungen aus Schweden, Belgien, Frankreich, den USA, Österreich, Albanien, Finnland, Usbekistan, Tadschikistan und weiteren Ländern Nord- und Ostsyrien besucht. Delegationen aus Nordostsyrien sind in zahlreiche Länder in Europa, Asien und Amerika gereist. Außerdem haben diverse Online-Sitzungen und Gespräche stattgefunden.

Am 31. August hat eine Abordnung des MSD in Moskau eine Absichtserklärung über eine strategische Zusammenarbeit zur politischen Lösung der Syrien-Krise mit der Partei des Volkswillens Syriens unterzeichnet und sich anschließend mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow getroffen.

Der MSD hat nach mehreren Versammlungen in Nord- und Ostsyrien eine Konferenz durchgeführt.

Caesar Act: Gesetz des Wirtschaftskrieges

Am 17. Juni ist der Caesar Act, mit dem Syrien wirtschaftlich angegriffen wird, von den USA in Kraft gesetzt worden. Anfang 2020 war ein US-Dollar 500 Syrische Lira wert, gegen Jahresende bereits knapp 3000.

Die EU hat am 17. Februar Sanktionen gegen acht syrische Geschäftsleute und zwei Einrichtungen verhängt. Die USA haben am 18. März den Verteidigungsminister des syrischen Regimes auf die Sanktionsliste gesetzt. Im Rahmen des Caesar Act wird das Gesetz in erster Etappe gegen 39 Personen und Einrichtungen angewandt, darunter auch Staatschef Baschar Assad und seine Frau Esma. Am schwersten getroffen wurde jedoch die Bevölkerung Syriens.

Bei den US-Sanktionen ist eine halbjährliche Erneuerung vorgesehen. Am 22. Dezember wurden zwei regierungsnahe Personen, neun Firmen und die syrische Zentralbank auf die Sanktionsliste gesetzt.

Gespräche über Syrien: Von einer Lösung weit entfernt

Auf internationaler Arena sind auch in diesem Jahr die Gesprächsreihen für eine politische Lösung der Syrien-Krise erfolglos fortgesetzt worden. Zwischen Russland und dem türkischen Staat haben 16 Treffen stattgefunden, zwischen den USA und der Türkei 19 und zwischen den USA und Russland zwei.

Im Januar hat ein Gipfeltreffen zwischen England, Deutschland, Frankreich und dem türkischen Staat stattgefunden, ein zweiter Gipfel in dieser Besetzung folgte im März als Videokonferenz. Im UN-Sicherheitsrat wurde im Verlauf des Jahres in elf Sitzungen über Syrien beraten. Im Astana-Format – Russland, Iran, Türkei – fanden zwei Treffen zu Syrien statt, das erste im April, das zweite im Juli.

Verfassungsgespräche ohne kurdische Beteiligung

Aus dem als Ergebnis der Astana-Gespräche zwischen Russland, Iran und Türkei gegründeten Verfassungskomitee sind die Kurden und die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien als Vertreterin von fünf Millionen Menschen ausgeschlossen.

Das in Sotschi zusammengestellte und nach Genf transferierte Verfassungskomitee hat 2020 vier Mal getagt. Die vom türkischen Staat protegierten Dschihadistengruppen haben die Bedingung einer „Übergangsregierung“ laut Beschluss 2254 des UN-Sicherheitsrats zuletzt nicht mehr zur Sprache gebracht.

Idlib: Sowohl Rückzug als auch Truppenkonzentration

Idlib ist im Syrien-Krieg zum gordischen Knoten geworden. Auch 2020 fanden heftige Gefechte statt, das syrische Regime und seine Unterstützer haben ihr Ziel jedoch nicht gänzlich erreicht.

Zum Jahreswechsel hat das syrische Regime seine Operationen in Idlib mit russischer und iranischer Unterstützung intensiviert und konnte die Kontrolle über Maaret al-Numan, Seraqib, die Schnellstraße M5 und mehrere Gebiete im Westen von Aleppo gewinnen.

Im Februar wurde die türkische Armee von russischen und syrischen Kampfbombern angegriffen. Dutzende Soldaten der türkischen Armee kamen ums Leben, acht Beobachtungsposten der Türkei wurden vom syrischen Regime eingekesselt.

Der türkische Staat rief die NATO um Hilfe an. Als die erhoffte militärische Unterstützung nicht kam, machte er sich auf den Weg nach Moskau. Am 5. März ließ Putin Erdogan und sein Kabinett zunächst vor der Tür warten. Dann mussten sich die Gäste aus der Türkei zu Fuße von Katharina der Großen aufstellen und es wurde eine Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet.

Gegen Ende des Jahres zog sich das Erdogan-Regime, das zuvor den Abzug der syrischen Armee von seinen Stützpunkten gefordert hatte, von acht Beobachtungsposten zurück. In den vom türkischen Militär kontrollierten Gebieten sind jedoch über sechzig Militärbasen errichtet worden.

Dschihadisten-Transfer: Von der Türkei in die Welt exportiert

Der türkische Staat hat aus den Dschihadisten, die gegen die Kurden und die anderen Völker Syriens jede Form von Kriegsverbrechen begehen, eine für die ganze Welt bedrohliche Waffe gemacht. Im Verlauf dieses Jahres sind Tausende Dschihadisten aus Syrien nach Libyen und Arzach (Berg-Karabach) transferiert worden.

Noch nicht bestätigten Angaben zufolge sind Dschihadisten aus Syrien nach Kaschmir, Katan und in den Sudan entsendet worden.

Anschläge auf Stammesvertreter: Kurdisch-arabisches Bündnis im Visier

Die Angriffe, mit denen das kurdisch-arabische Bündnis als Hefe der Revolution zerstört werden soll, haben 2020 einen Gipfel erreicht. Im Juli sind vor allem in Deir ez-Zor zahlreiche Anschläge auf führende Persönlichkeiten aus arabischen Stämmen verübt worden.

Die arabischen Stämme sind dagegen auf die Straße gegangen und haben ihre Stimmen erhoben. Damit wurde die Intrige, hinter der der türkische Staat, das syrische Regime und islamistische Gruppen stehen, unterlaufen.

Demografische Veränderung: Fortgesetzte Türkisierung

Der türkische Staat hat den demografischen Wandel in den von ihm besetzten Gebieten um Efrîn, Dscharablus, al-Bab, Azaz, Serêkaniyê und Girê Spî auch in 2020 vorangetrieben. Mitglieder dschihadistischer Gruppen und ihre Angehörigen sind vor allem in Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê angesiedelt worden.

Unter turkmenischem Namen sind zahlreiche Dschihadisten ins Grenzgebiet gebracht worden, um einen „turkmenischen Gürtel“ in der Region zu installieren.

Efrîn: Kriegsverbrechen ohne Unterbrechung fortgesetzt

In Efrîn hat der türkische Staat sein schmutziges Vorgehen auf die Spitze getrieben: Demografische Veränderung, Mord, Körperverletzung, Entführung, Folter, Vergewaltigung, Plünderung von historischen Stätten und Gräbern, Abholzung von Olivenbäumen und Plünderung von Oliven standen auch 2020 auf der Tagesordnung.

Im Verlauf des Jahren wurden Dutzende Menschen getötet oder verletzt, darunter auch Minderjährige, Frauen und Alte. 805 Frauen wurden verschleppt, 54 Frauen getötet. Im Mai sind elf Frauen in einem Gefängnis der Dschihadisten gefunden worden.

Hunderte Menschen sind für Lösegeld entführt worden. Verschleppte Personen sind schwer gefoltert worden, mindestens vier Personen wurden zu Tode gefoltert.

Historische Stätten wie Girê Istêr, Girê Cirnas, die Grabstätte von Şêx Mihemed, Girê Dêrsiwan, Til Eqreb und Siros wurden zerstört, auch Friedhöfe wurden von den Besatzern angegriffen.

Die in der Region verbliebenen Kurden wurden das ganze Jahr über gewaltsam zur Flucht gedrängt. Im ezidischen Haus in Efrîn ist ein Korankurs eingerichtet worden.

Mindesten 36.000 Olivenbäume sind im Verlauf des Jahres gefällt worden, Efrîns Oliven und das produzierte Olivenöl wurden vom türkischen Staat geplündert.

Türkische Besatzungsangriffe dauern an

Der türkische Staat und die von ihm kontrollierten Dschihadisten-Gruppen haben vor allem Şehba, Minbic, Ain Issa, Kobanê, Til Temir, Zirgan und Dêrik weiter angegriffen. Bei den mit Killerdrohnen und schweren Waffen durchgeführten Angriffen sind Dutzende Zivilisten getötet worden, darunter auch Frauen und Kinder.

HRE: Die Kinder Efrîns setzen ihre Aktionen fort

Die Befreiungskräfte Efrîns (HRE) haben das ganze Jahr über Aktionen vor allem in Efrîn, aber auch in Azaz, Mare, al-Rai und al-Bab durchgeführt.

Nach HRE-Angaben sind bei insgesamt 144 Aktionen 302 Dschihadisten und türkische Soldaten getötet worden, über 300 Mitglieder der Besatzungstruppen wurden verletzt.

Operationen gegen den IS: Der Antiterrorkampf der QSD geht weiter

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben das ganze Jahr über Operationen gegen Schläferzellen des IS durchgeführt. Mit Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition haben zwei umfassende Operationen als „Offensive zur Beendigung des Terrors“ stattgefunden:

Vom 4. bis 10. Juni wurden 150 Dörfer durchkämmt und 110 IS-Verdächtige festgenommen. Bei der zweiten großen Operation vom 17. bis 21. Juli wurden elf IS-Verdächtige gefasst.

In Hesekê, Deir ez-Zor und Raqqa wurden bei 25 weiteren Operationen 68 IS-Verdächtige festgenommen.

IS-Familien: Von der internationalen Gemeinschaft ignoriert

In Nordostsyrien befinden sich weiterhin Zehntausende internierte IS-Mitglieder und ihre Familienangehörigen. Die Selbstverwaltung wird mit diesem Problem allein gelassen. Die internationale Gemeinschaft unternimmt nichts, um die Islamisten vor Gericht zu stellen. Die Selbstverwaltung hat im Oktober 631 aus Syrien stammende IS-Verdächtige freigelassen, für die sich ihre Stämme verbürgt haben.

Seit 2014 sind 7000 IS-Verdächtige aus Syrien vor den Volksverteidigungsgerichten im Autonomiegebiet angeklagt worden. 2020 sind 200 Kinder und 29 Frauen ausländischer Staatsangehörigkeit an ihre Herkunftsländer übergeben worden.

In Camps in Nordostsyrien befinden sich immer noch über 49.000 Minderjährige. Etwa 21.000 stammen aus Syrien, 20.000 aus dem Irak und 8000 aus anderen Ländern.

Schwarze Propaganda gegen Rojava: Partnerschaft zwischen PDK und Türkei

Zeitgleich zu dem feindlichen Vorgehen des türkischen Staats gegen Nord- und Ostsyrien hat auch die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) in diesem Jahr feindliche Propaganda gegen Rojava betrieben. Die PDK versucht einerseits über den ENKS, die Errungenschaften der Revolution zunichte zu machen. Auf der anderen Seite greift sie in Absprache mit der Türkei Rojava an.

Mesrûr Barzanî, Ministerpräsident der Autonomieregion Südkurdistan, hat im Dezember gegenüber dem US-Beauftragten für Syrien, Joel Rayburn, behauptet, die militärische Unterstützung für die QSD im Kampf gegen den IS lande bei der PKK. Einen Tag später hat Serbest Lezgîn, ebenfalls PDK-Mitglied, im Namen des Peschmerga-Ministeriums erklärt, die YPG hätten die Peschmerga angegriffen. Die YPG haben diese Behauptung dementiert.

Daraufhin hat Ministerpräsident Barzanî die Stationierung von US-Truppen im Grenzgebiet zwischen Rojava und Başûr (West- und Südkurdistan) gefordert.

Wasserversorgung gekappt: Der Feind an der Quelle

Neben seinen militärischen, politischen und diplomatischen Tätigkeiten, der schwarzen Propaganda und der Agentenanwerbung hat der türkische Staat auch Wasser als Waffe in Nord- und Ostsyrien genutzt. Im Sommer wurde der Zufluss des Euphrat reduziert. Die Wasserversorgung von Hesekê ist das ganze Jahr über etliche Male gekappt worden, weil sich das zuständige Wasserwerk Elok in der türkischen Besatzungszone bei Serêkaniyê befindet. Betroffen sind 1.200.000 Menschen im Großraum Hesekê. Internationale Appelle an den türkischen Staat waren wenig erfolgreich, seit einem Monat ist die Wasserversorgung wieder unterbrochen.

Covid-19: Erfolgreicher Kampf trotz fehlender Möglichkeiten

Wie der Rest der Welt ist auch Nordostsyrien von der Corona-Pandemie betroffen. Die erste Infektion in Syrien wurde am 22. März in Damaskus festgestellt. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat im Zuge der Pandemie-Bekämpfung erstmalig in ihrer Geschichte eine Ausgangssperre erlassen.

Bisher sind rund 8000 Infektionen festgestellt worden, über 270 Menschen sind nach einer Infektion verstorben.