Der ehemalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hat sich zuletzt vermehrt kritisch über die AKP unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan geäußert und der Partei vorgeworfen, sich immer weiter von ihren Kernprinzipien zu entfernen. Auch die Absetzung dreier kurdischer Oberbürgermeister*innen der HDP hatte Davutoğlu kritisiert und im Verweis auf die Zeit zwischen den Wahlen am 7. Juni und 1. November 2015 erklärt: „Wenn die Akten zum Antiterrorkampf geöffnet werden, können sich viele Personen nicht mehr in die Öffentlichkeit trauen.“ Im Juni 2015 hatte die AKP bei den Wahlen ihre Alleinherrschaft verloren und die HDP war erstmals ins Parlament eingezogen. Das zuvor beschlossene Dolmabahçe-Abkommen, das den Rahmen für demokratische Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK darlegte, wurde von Erdoğan umgeworfen. Daraufhin wurde der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan vollständig von der Öffentlichkeit isoliert und die Wahlen vom 7. Juni 2015, aus denen die HDP erfolgreich hervorgegangen war, wurden annulliert. In der Zwischenzeit starben bei mehreren verheerenden Anschlägen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) unzählige Menschen - in Pirsûs (Suruç) in der nordkurdischen Provinz Riha (Urfa) wurden am 20. Juli 33 hauptsächlich junge Menschen von einem Selbstmordattentäter getötet, am 10. Oktober 2015 kamen 103 Menschen bei einem terroristischen Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara ums Leben. Am 5. Juni 2015, zwei Tage vor den Parlamentswahlen, kam es auf einer Abschlusskundgebung der HDP in Amed (Diyarbakir) zu zwei Explosionen, bei denen fünf Menschen ihr Leben ließen. Die Andeutung Davutoğlus legt nahe, dass der AKP-Politiker Kenntnis von Informationen zu der blutigen Anschlagsserie hat, die nicht öffentlich gemacht wurden.
Im Rahmen einer Sondersendung im Radiosender Dengê Welat hat sich Murat Karayilan, Mitglied im Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und Oberkommandierender des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel), zu den Aussagen des ehemaligen Ministerpräsidenten geäußert. Wir geben hier übersetzte Auszüge aus dem Gespräch wieder.
„Der kurdische Befreiungskampf befindet sich in einer bedeutsamen Phase. Die Entwicklungen, die wir aktuell durchlaufen sowie solche, die für das kommende Jahr erwartet werden, sind für die Zukunft unseres Volkes, unserer Bewegung und unseres Vorsitzenden entscheidend. Dieser Prozess ist als richtungsweisend und strategisch zu verstehen.
Krieg wird sich intensivieren
Der Kolonialismus hat einen totalen Krieg gegen den kurdischen Befreiungskampf begonnen. Das AKP/MHP-Regime verbindet die Aufrechterhaltung und Stabilität faschistischer Systeme mit der Liquidierung der Befreiungsbewegung und den Errungenschaften des kurdischen Volkes. Trotz einer Reihe von schwerwiegenden Krisen und Schwächen mobilisiert dieses Regime alle Mittel für den Krieg gegen unser Volk, um seine Macht aufrechtzuerhalten und sein faschistisches System zu bewahren. In diesem Sinne wird ein harter Krieg zwischen uns und dem rassenfanatischen kolonialistischen türkischen Staat ausgetragen, der sich in der nächsten Zeit noch intensivieren wird.
Erdoğan hat sich über Davutoğlu hinweggesetzt
Das Dolmabahçe-Abkommen, das als Grundlage für einen demokratischen Friedensprozess dienen sollte, war in der Türkei die letzte Etappe bei dem Vorhaben, die kurdische Frage zu lösen. Doch für seinen Traum von einem Präsidialsystem warf Erdoğan das Abkommen um und erklärte wieder den totalen Krieg. Er tat alles in seiner Macht Stehende, um den Krieg zu fördern, die Gesellschaft zu polarisieren und dem Chauvinismus zu seinem Höhepunkt zu verhelfen. Das ist zusammenfassend das, wovon Davutoğlu gesprochen hat.
Zuerst gingen Bomben auf der HDP-Kundgebung in Amed hoch, danach kam es zum Massaker von Pirsûs und anschließend zum Anschlag in Ankara. Es mag sein, dass IS-Attentäter diese Anschläge verübten, es handelt sich aber um ein geplantes Projekt, von dem Erdoğan Kenntnis hatte.
Das Wichtigste, bei dem sich Erdoğan über Davutoğlu hinwegsetzte, waren die Gewalt in der Phase des Widerstands in den Städten nach Ausrufung der Selbstverwaltung und die Massaker in Cizîr (Cizre). Dazu liegen uns eine Reihe von Dokumenten vor. Wir sind im Besitz von bestimmten Informationen zu diesem Thema“, erklärte Karayilan.
Was geschah 2015 in Nordkurdistan?
Als Reaktion auf die systematische Unterdrückung und Repressionspolitik des türkischen Staates wurde im August 2015 in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert, die den demokratischen Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“ darstellte. Nordkurdistan diskutierte damals schon länger die autonome Organisation im Stil von Kantonen, deren Verständnis die Antithese zur offiziellen Staatsideologie und dem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis bildet. Ankara reagierte mit voller Härte gegen die selbstverwalteten Orte. Der über mehrere Monate andauernden Militärbelagerung in Städten wie Amed, Şirnex (Şırnak), Cizîr und Nisêbîn (Nusaybin) fielen Hunderte Menschen zum Opfer, die genaue Zahl ist noch immer nicht bekannt. Allein in Cizîr kamen mindestens 280 Menschen ums Leben, viele von ihnen in den berüchtigten Todeskellern.
Murat Karayilan äußerte nun dazu: „Als sich HDP-Abgeordnete in Cizîr dafür einsetzten, verletzte Jugendliche aus den Kellern zu evakuieren, befürworteten die dortigen Staatsbediensteten und die Generäle, die diesen Krieg koordinierten, die Bergung der Verletzten. Es wurden sogar entsprechende Vorbereitungen getroffen, aber Erdoğan griff über den türkischen Geheimdienst MIT und dessen Chef Hakan Fidan in diesen Prozess ein und gab zu verstehen, mit der Evakuierung nicht einverstanden zu sein. Die in den Kellern eingeschlossenen Verletzten müssten ‚zermalmt und getötet werden‘, sagte er. Ein Großteil der Menschen in den Todeskellern bestand aus jungen Studierenden, die aus den türkischen Metropolen aufgebrochen waren, um der Bevölkerung von Cizîr zu helfen.
Die Reaktion der Polizei von Erdoğan war diese, dass sie mit Benzin gefüllte PET-Flaschen durch Fenster in die Keller warf. Die Widerstandskämpfer waren hungrig, durstig und verwundet. In der Annahme, dass es sich um Wasser handelte, griffen sie nach den Flaschen. In diesem Moment warfen die Sicherheitskräfte brennende Gegenstände in die Keller, sodass die Menschen verbrannten. Diese Menschen wurden in den Kellern von Cizîr auf die unmenschlichste, berüchtigste und grausamste Weise bei lebendigem Leib verbrannt. Möglicherweise deuten die Worte von Davutoğlu darauf hin.
Wie ich bereits erwähnte, haben wir einige Informationen. Diese Massaker wurden auf Anweisung Erdoğans und mit der Hand des MIT ausgeführt. Der MIT-Chef Hakan Fidan persönlich teilte den Armeegenerälen mit: ‚Der Vorschlag der HDP wurde vom Palast nicht akzeptiert, die Anweisungen sind klar und müssen umgesetzt werden‘. Danach setzte die Armee auch in anderen Städten Kurdistans diese völkermörderische Praxis um; Hunderte Kinder, Jugendliche, Zivilisten wurden ermordet – auf Anweisung Erdoğans.“
Morgen: Wir sind eine ideologische Bewegung, die auf freiwilliger Teilnahme beruht. Wir halten niemanden gegen seinen Willen fest.