Vater von Anschlagsopfer wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt

Mustafa Doğan hat vor vier Jahren bei einem Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara seinen Sohn verloren. Weil er das Urteil gegen die Hintermänner kritisierte, wurde er wegen „Präsidentenbeleidigung“ angeklagt.

Am 10. Oktober 2015 kamen 103 Menschen bei einem terroristischen Anschlag auf eine Friedenskundgebung in der türkischen Hauptstadt Ankara ums Leben. Mehr als 500 Menschen wurden verletzt. Zu der Kundgebung hatten die Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der linke Gewerkschaftsbund KESK unter dem Motto „Arbeit, Frieden, Demokratie“ aufgerufen. Die Demonstrant*innen forderten das Ende der Angriffe des türkischen Militärs auf die kurdische Zivilbevölkerung. Es handelt sich um den schwersten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei und fand zu einer Zeit statt, in der der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan sein Ein-Mann-Regime aufbaute. Am 30. Oktober 2014 wurde im Nationalen Sicherheitsrat der Plan zur Niederschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung beschlossen. Eines der darauffolgenden Massaker war der Anschlag von Pirsûs (Suruç) am 20. Juli 2015, bei dem 33 junge Aktivist*innen von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt wurden.

Für beide Attentate machte die Regierung die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) verantwortlich. Die Täter gehörten einer islamistischen Zelle aus Semsûr (Adıyaman) an, die auch für den Anschlag am 5. Juni 2015 in Amed (Diyarbakir) verantwortlich ist. 

Fast drei Jahre nach dem Attentat wurden im vergangenen August neun Angeklagte zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Gericht in Ankara sprach sie der vorsätzlichen Tötung schuldig. Sie sollen als Hintermänner an der Vorbereitung des doppelten Selbstmordanschlags mitgewirkt haben. Die Angehörigen der Anschlagsopfer hatten im Laufe des Prozesses jedoch immer wieder kritisiert, dass die genauen Umstände nie aufgeklärt worden seien.

Mustafa Doğan hat beim Anschlag von Ankara seinen Sohn Güney verloren. Nach der Urteilsverkündung im Prozess gegen die Hintermänner hatte Doğan das Urteil scharf kritisiert und war anschließend im Gerichtssaal zusammengebrochen. Damals sagte Doğan: „Wir haben kein Vertrauen in die Justiz dieses Landes. Der mörderische Staat muss uns Rechenschaft abgeben. Die Mörder unserer Angehörigen sind diejenigen, die an der politischen Macht sind. Der Mörder ist die Regierung der AKP, es ist der Faschist Erdoğan.“ Wegen dieser Äußerungen muss er sich ab Dienstag wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts verantworten. Nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft habe Doğan mit seiner Kritik die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten. Es handele sich um „herabwürdigende Bemerkungen“, mit denen ein Staatspräsident „gedemütigt“ wurde. Äußerungen wie diese seien nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Bei seiner staatsanwaltlichen Anhörung hatte Mustafa Doğan angegeben, sich an die ihm zum Vorwurf gemachten Äußerungen nicht zu erinnern. Er habe tiefen Schmerz bei der Urteilsverkündung empfunden, gab Doğan zu Protokoll. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu vier Jahre Haft.