Im Prozess gegen 36 Angeklagte wegen Beteiligung an einem Selbstmordanschlag am 10. Oktober 2015 wird heute in Sincan bei Ankara das Urteil gesprochen. 19 der Angeklagten befinden sich in Untersuchungshaft. Seit Dienstag kommen die Nebenkläger zu Wort.
Auch am dritten Tag der letzten Verhandlung ist das Gerichtsgebäude auf dem Gefängniscampus Sincan von Sicherheitskräften umstellt. Die Polizei und die Jandarma haben Wasserwerfer vorgefahren.
Bei dem als „Massaker von Ankara“ bekannt gewordenen Selbstmordanschlag auf eine Friedenskundgebung sind 103 Menschen getötet worden, 500 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. In den vergangenen beiden Tagen haben die Verteidiger der Hinterbliebenen auf die Verantwortung des Staates hingewiesen.
„Wir klagen an“
Auch Überlebende kamen im Gerichtssaal zu Wort. So berichtete Elife Özdoğan: „Als wir zur Kundgebung gingen, gab es in der Umgebung keinerlei Polizei. Wir haben gefragt, warum es keine Durchsuchungen gäbe. Uns wurde gesagt: ‚Wir ziehen nicht in den Krieg, sondern sind für Frieden hier, deswegen gibt es keine Kontrollen. Macht euch keine Sorgen.‘ Im Auto waren meine Schwiegertochter, meine Schwägerin, mein Enkel und ich. Nach der Explosion kam ich ins Krankenhaus. An mir klebten Fleischfetzen. Die Polizei schoss mit Gasgranaten. Wir haben Verletzte gesehen. Mehrere Verletzte starben am Gas der Polizei. Die Polizei hinderte die Krankenwagen am Durchkommen. Mitten auf dem Gelände standen Wasserwerfer. Da der Krankenwagen nicht kam, mussten wir mit dem Taxi fahren. Der Taxifahrer wollte uns nicht mitnehmen. Meine Schwiegertochter, mein Enkel und ich sind in psychologischer Behandlung. Wir klagen an.“
Laizistisches System in der Türkei wird zerstört
Der Nebenklageanwalt Tonguç Cankurt bemängelte, dass es keine ernsthafte Untersuchung des vom IS in Antep organisierten Massakers gegeben habe. Cankurt wies auf die Organisierung des IS in verschiedenen Städten hin und sagte: „In dieser Zeit tauchten in der Presse sehr viele Belege auf, dass sich der IS unter anderem in Adiyaman organisiert. Die Ermittlungen an den verschiedenen Orten verliefen überall auf gleiche Weise im Sande. Das zeigt, dass dahinter ein politischer Wille steht. Auch der damalige Ministerpräsident Davutoğlu hat offen gesagt: ‚Wir können niemanden als potentiell Verdächtigen festnehmen.‘“
Der Anwalt Kazım Bayraktar erklärte, dass er erzählen werde, wie der IS bei seinen Massakern und seiner Organisierung unterstützt worden sei: „Syrien hat sich während des Bürgerkrieges in eine Löwengrube verwandelt. Die politische Macht der Türkei war in dieser Löwengrube mit von der Partie. Es wurde angekündigt, nach Damaskus zu ziehen und in der Umayyaden-Moschee zu beten. Aber die Rechnung des Palasts [gemeint ist Erdoğan] ging nicht auf. Das in Syrien vergossene Blut griff auf die Türkei über. Lassen wir mal diejenigen beiseite, welche die FSA gemeinsam mit den westlichen Staaten legitimierten, die türkische Regierung nutzte diese Chance für eine weitere Gelegenheit. Sie ebnete den Weg für die Organisierung des IS und der al-Qaida in Syrien. Der IS, al-Qaida und al-Nusra wurden per Gerichtsentscheidung in der Türkei als Terrororganisationen klassifiziert. Obwohl diese Organisationen also als Terrororganisationen gelistet wurden, benannte die politische Macht sie nicht als solche. Diese Politik zielte darauf ab, den Aufbau einer laizistischen Verfassung in Syrien zu verhindern. Nun erleben wir, wie damit begonnen worden ist, das laizistische Verfassungssystem in der Türkei zu zerstören.“
„Der Tag der Abrechnung wird kommen“
Bayraktar wies darauf hin, dass der IS sogar Vereine in der Türkei gründen durfte: „Die Türkei ist regelrecht zu einer Autobahn für die Dschihadisten geworden. Der Staat sammelte auf einer Seite Informationen und auf der anderen Seite schaute er weg. Aber beide Vorgehensweisen gehen von einem Zentrum aus. Trotz der Operationen blieben die gesammelten Daten begrenzt. Dahinter steht eine Absicht.“ Der Anwalt berichtete weiter, dass die Personen, die den Anschlag 2015 verübt haben, schon 2012 in einem Protokoll zur Überwachung eines Al-Qaida-Treffens auftauchen und aus den Akten hervorgehe, dass die IS-Zelle trotz Überwachung nicht festgenommen wurde.
Die Staatsanwaltschaft von Antep und die dortigen Richter hätten sich gegen ein Ermittlungsverfahren ausgesprochen, so Bayraktar: „Die Staatsanwälte in Antep spielen sich gegenseitig die Bälle zu. Die Herrschenden benutzen für ihre schmutzigen Spiele Knechte. Alle diese Knechte haben ein Verfallsdatum. Wenn ihr Verfallsdatum abläuft, werden sie in eine Grube geworfen.“
An die Richter appellierte der Nebenklageanwalt: „Sie können sich nicht hinstellen, nur die Schützen verurteilen und dann den Involvierten und der Nebenklage sagen, der Gerechtigkeit wurde genüge getan. Es handelt sich um einen historischen Prozess. Solche historischen Prozesse haben Konsequenzen und werden nicht vergessen. Sie werden archiviert und der Tag wird kommen, an dem abgerechnet wird.“
Die Nebenklageanwältin Ilke Işık sagte: „Wenn es in einem anderen Land ein Massaker gäbe, in das Verantwortliche des Staates verwickelt sind, dann käme das einem politischen Erdbeben gleich. Aber es gibt nach dem Massaker vom 10. Oktober nicht eine einzige Ermittlung gegen eine Dienstperson. Wie kann es sein, dass es bei einem solchen Massaker keine Ermittlungen gibt? Wenn der Gouverneur und die Polizeidirektion diese Kundgebung genehmigen, dann sind sie für ihre Sicherheit verantwortlich. Wir kann es sein, dass keine einzige Person aus dem öffentlichen Dienst verurteilt wird? Wie können wir hier von Gerechtigkeit sprechen? In diesem Verfahren sind von Anfang an bestimmte Personen geschützt worden.“
Massaker als Sicherheitslücke?
Auch die HDP-Abgeordnete Ayşe Acar Başaran war bei dem damaligen Anschlag dabei. Vor Gericht erklärte sie: „Man muss sich die Zeit insgesamt anschauen. Wie Sie wissen, haben am 7. Juni 2015 Wahlen stattgefunden. Die Stimmung in der Türkei hatte sich grundliegend verändert. Der Prozess für eine Lösung der Konflikte in der Türkei wurde beendet. Der erste Schritt in diesem Chaos war der Anschlag auf eine HDP-Kundgebung in Amed am 5. Juni. Dann folgten der Anschlag von Pirsûs (Suruç) und schließlich der Tod dieser 103 Menschen. Was verbindet diese Ereignisse? Die Ahnungslosigkeit der Regierung. Dass der staatliche Geheimdienst darüber keine Informationen hatte, ist in keiner Weise glaubwürdig. Während jeder unserer Schritte überwacht und jede unserer Aktionen von der Polizei umstellt wird, ist die Erklärung eines Massakers im Zentrum von Ankara als Sicherheitslücke vollkommen inakzeptabel. Wie kann es sein, dass nicht einer der Verantwortlichen bei so einem Massaker zurücktritt oder politische Verantwortung übernimmt? Wo waren denn die Verantwortlichen bei der Explosion in Ankara? Wenn es hier im Gericht die Absicht gibt, das Verfahren so schnell wie möglich zu abschließen, dann ist deutlich, dass es hier nur um die Absicht der Regierung geht. In welchem Land kann es solch ein Massaker ohne Konsequenz geben?“