Temelli: Auch in Idlib geht es um die kurdischen Errungenschaften

Die Syrienpolitik der Türkei setzt darauf, von den Konflikten zwischen den Großmächten zu profitieren. Die einzige Sorge der türkischen Regierung ist die Zerstörung der kurdischen Errungenschaften, so der HDP-Vorsitzende Sezai Temelli.

Auf der Fraktionssitzung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat sich der Ko-Parteivorsitzende Sezai Temelli am Dienstag in Ankara zu aktuellen politischen Themen geäußert.

Zerschlagungsplan

Temelli begann seine Rede mit der Schilderung eines kürzlich erfolgten Besuchs in Cizîr (Cizre, Provinz Şirnex/Sırnak) und erinnerte daran, dass in der Stadt am 7. Februar 2016 189 Menschen in Kellern getötet wurden, in die sie während der „Ausgangssperre“ geflüchtet waren: „Zu dem Mord an diesen 189 Menschen ist niemals ermittelt worden, niemand wurde dafür belangt. Von dieser Regierung haben wir auch nichts anderes erwartet. Aber wir haben die Menschen nicht vergessen, die dort ihr Leben verloren haben, und wir werden sie niemals vergessen. Warum hat diese Katastrophe in den Kellern von Cizîr stattgefunden? Weil diese Regierung einen Plan hatte: Den Zerschlagungsplan. Die Umsetzung dieses Plans begann mit der Totalisolation [Abdullah Öcalans] am 5. April 2015. Anschließend folgten die Massaker in Amed (Diyarbakir), Pirsûs (Suruç) und Ankara. Und so ging es weiter.“

Das gesamte Land zerschlagen

„Die Pläne der Regierung haben das gesamte Land zerschlagen“, sagte Temelli und fuhr fort:

„Die mit der Totalisolation begonnene Rechtslosigkeit ist zum Normalzustand geworden. Überall gibt es Unrecht und Gesetzlosigkeit. Das Rechtssystem, die Justiz sind zerschlagen worden. Städte sind zerstört und zerschlagen worden. Mit der Aufhebung der parlamentarischen Immunität ist die demokratische Politik zerschlagen worden. Der größte Schlag gegen die demokratische Politik fand am 4. November 2016 [Festnahmen Dutzender HDP-Politiker*innen, darunter die Parteivorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş]. Mit den Zwangsverwaltern ist der gesellschaftliche Frieden zerschlagen worden.“

Temelli hielt ein Foto hoch und sagte weiter: „Wenn man sich umschaut, sieht man deutlich, wohin diese Regierung das Land gebracht hat: Der Zwangsverwalter, der in unserer Kreisstadt Hezex (Idil) ernannt worden ist. An einer Seite ein Jandarma-Kommandant, an der anderen der Polizeidirektor. Das ist das Bild der heutigen Türkei. Ein solches Foto lässt sich nicht einmal in den Archiven des Militärputsches vom 12. September [1980] finden. So sieht die Realität des Landes aus. Das ist der Erfolg des Zerschlagungsplans. In diesem Land gibt es nichts mehr, was als demokratische Politik bezeichnet werden könnte. Es gibt nichts mehr, was man gesellschaftlichen Frieden nennen könnte.“

Nachbarschaftswächter: Dorfschützersystem in den Städten

Zu der geplanten Neuregelung der Befugnisse von Sicherheitsdiensten in Einkaufszentren und Stadtvierteln, die von Präsident Erdoğan als Parallelstruktur zu den bestehenden Sicherheitsdiensten aufgebaut werden, erklärte der HDP-Vorsitzende: „Die Regierung will das gesamte Land unter ihre Disziplin zwingen und das soll mit dem Nachbarschaftswächter-Gesetz geschehen. Das in Kurdistan bestehende Dorfschützer-System soll über dieses Gesetz im Westen auf die Straßen und in die Stadtviertel getragen werden. Mit der Terrorisierung der Gesellschaft und Gewalt wird versucht, dieses Land zu regieren. Wir befinden uns in einem Albtraum, der kein Ende findet. Grund für diesen Albtraum ist die Regierung.“

Idlib

Temelli kritisierte die Expansionspolitik der Türkei im Ausland und sagte zu den Entwicklungen in Idlib: „Die Regierung hat keine Ahnung, wie das Weltsystem funktioniert, was internationale Beziehungen sind und wie man Außenpolitik macht. Sie versucht von den Konflikten zwischen den Imperialisten zu profitieren. Nur darauf baut ihre Syrienpolitik auf. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die den einen Tag bei Russland an die Tür klopft und am nächsten bei den USA. Sie lebt von dem herrschenden Chaos und versucht sich darüber an der Macht zu halten. Ihre einzige Sorge ist die Vernichtung der kurdischen Errungenschaften. Die Kurdenfeindschaft muss lebendig gehalten und den demokratischen Errungenschaften der Völker der Region müssen die Wurzeln abgegraben werden. Mit dieser Geisteshaltung ist aus dem Mittleren Osten ein Brandherd gemacht worden und die Regierung ist mit Benzinkanistern in den Händen zum Feuer gerannt. Wohin wir mit dieser Politik der letzten zehn Jahre gekommen sind, ist offensichtlich. Die Flüchtlingskrise wird zu einem immer größeren Geflecht an Problemen.

Dieser Entwicklung müssen wir schnell und unverzüglich Einhalt gebieten. Nach den jüngsten Vorfällen in Idlib ist der Präsident hektisch in die Ukraine geflogen, um dort Gespräche zu führen. Er hat dort 200 Millionen Lira zugesagt. Man sieht, wo die Ressourcen dieses Landes hingehen. Mit diesen 200 Millionen soll die Ukraine Waffen von uns kaufen. Und von wem werden diese Waffen gekauft? Vom Schwiegersohn. Den schlauen Schwiegersöhnen des Präsidenten geht es um ihre Bilanzen, darum dreht sich der Handel. Ihr gebt der Ukraine Geld und mit diesem Geld kauft die Ukraine euch Waffen ab. Während überall die Hölle los ist, verkündet der Präsident in der Ukraine die frohe Botschaft, dass in Kürze ein Freihandelsabkommen umgesetzt wird. Für wen von uns ist das eine frohe Botschaft? Es kann nur für eine Handvoll Menschen in seinem Umfeld eine frohe Botschaft sein. Eine Lösung für dieses Land sieht anders aus und erfordert eine andere Regierung. Diese Regierung folgt den Ittihadisten [Komitee für Einheit und Fortschritt, auch bekannt als Ittihadisten, war eine politische Organisation im Osmanischen Reich. Es war die treibende Kraft hinter der konstitutionellen Revolution von 1908 und dem Völkermord an den Armeniern und regierte mit kurzer Unterbrechung von 1908 bis 1918.] Sie reproduziert die nie ganz verschwundene Geisteshaltung der Ittihadisten. Wir hingegen sagen, dass sich die Türkei schnell demokratisieren muss. Unsere Außenpolitik als HDP lautet Demokratie in der Türkei, Demokratie in der Region, Demokratie auf der Welt. Wir setzen auf Solidarität im In- und Ausland. Die internationale Gemeinschaft rufen wir zur Solidarität mit den Völkern des Mittleren Ostens auf.“

HDP-Kongress am 23. Februar

In seiner weiteren Rede ging Temelli auf den Nahostplan von Donald Trump, die Assimilierungspolitik der türkischen Regierung und die Bedeutung der kurdischen Sprache, den geplanten Istanbuler Kanal, die seit vier Wochen in Dersim vermisste Studentin Gülistan Doku, die verheerende Menschenrechtssituation in türkischen Gefängnissen, den Hungerstreik der Musikgruppe Grup Yorum, die Wirtschaftskrise und den Spendenskandal um den Türkischen Roten Halbmond ein.

Zum Schluss rief Temelli zum „demokratischen Schulterschluss“ auf und lud zum HDP-Kongress am 23. Februar ein.