Ende Januar hat der Innenausschuss des türkischen Parlaments einen Gesetzentwurf zum Aufgabenbereich und den Befugnissen von Sicherheitsdiensten in Einkaufszentren und Stadtvierteln angenommen. Der Entwurf gestattet den „bekçi”, Wächtern, unter anderem Identitätsfeststellungen und Waffenbesitz (ANF berichtete). Erstmals kündigte die Regierung im April 2016 an, sogenannte „Nachbarschaftswächter“ einzustellen. Präsident Erdoğan hatte zuvor seinen „Wunsch“ geäußert, dass wenn er zu Bett gehe, das Trillern von Pfeifen erklingen sollte. Kurz darauf schrieb das Innenministerium knapp 2400 Stellen für Nachbarschaftswächter aus. Offiziell hieß es, die Wächter sollten nachts in Großstädten wie Istanbul oder Ankara durch die Straßen ihrer Viertel patrouillieren und „nach dem Rechten schauen“, um so zur Senkung der Verbrechensrate beizutragen.
Im Ausnahmezustand, der nur wenige Tage nach dem Putschversuch im Juli 2016 verhängt und über zwei Jahre lang mehrfach verlängert wurde, verfügte Erdoğan dann per Dekret, dass weitere Stellen für Nachtwächter geschaffen werden. Diese sollten nicht mehr nur in türkischen Metropolen, sondern auch in kurdischen Städten und Provinzen entlang der Grenze zu Syrien eingesetzt werden – zur Unterstützung der regulären Polizei. Bis Ende 2019 lag die Zahl der eingestellten Nachtwächter bei etwa 21.300.
Nach 41 Tagen Ausbildung Hilfspolizist
Bei einem Symposium zum Thema „Sicherheit in der Stadt“ im Präsidentschaftspalast am 2. Januar schlug Erdoğan deutlichere Töne an. „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir die äußere Sicherheit unserer Städte nicht länger mit Festungsmauern und Gräben schützen und die innere Ordnung nicht allein durch Strafverfolgung sicherstellen können“, sagte der türkische Präsident. Drei Wochen später schuf er dann weitere Fakten: die Aufgabe der Wächter wird in dem Gesetzentwurf zwar ähnlich wie im Notstandsdekret von 2016 als „Hilfeleistung für die allgemeinen Sicherheitskräfte“ definiert. Die Wächter sollen allerdings künftig vom Innenministerium geprüft sowie als bewaffnete Kräfte bei Polizei und Jandarma (Militärpolizei) angestellt werden. Neben Aufgaben, die laut Entwurf der Bevölkerung „helfen sollen“ – de facto aber nichts anderes als das Ausspionieren von Bürger*innen und einen Eingriff in ihr Privatleben bedeuten – sollen sie auch die Befugnis bekommen, bei Protesten einzuschreiten, nach Ausweisen zu fragen, körperliche Durchsuchungen durchzuführen und Waffen zu tragen. Damit sollen sie bis zum Eintreffen der Polizei Ausschreitungen bei Protestaktionen verhindern und potenzielle Straftäter festhalten können. Genehmigt wird den Wächtern laut Entwurf außerdem der Einsatz von Handschellen, Schlagstöcken, Wasserwerfern, Tränengas sowie Polizeihunden und -pferden. Die Ausbildung für das ganze dauert insgesamt 41 Tage.
Eren Keskin: Regierung baut sich eigene Polizei auf
Jurist*innen und Menschenrechtler*innen laufen Sturm gegen dieses zusätzliche Überwachungsinstrument der autoritären Erdoğan-Türkei. Die Anwältin Eren Keskin reagierte mit blankem Unverständnis darauf, die Befugnisse von privaten Wach- und Sicherheitsdiensten sowie Nachbarschaftswächtern auszuweiten. Insbesondere zu einer Zeit, in der Folter und Gewalt als legitimes Mittel eingesetzt werden, das Angstregime der AKP auszubauen und zu festigen, würde die Übertragung dieser neuen Befugnisse an Wächter innerhalb der Gesellschaft zur Überzeugung führen, dass die staatliche Gewalt noch weiter zunehmen wird, meint Keskin, die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD ist.
„Die Erteilung von polizeilichen Befugnissen an Personen, die keine entsprechende Ausbildung absolviert haben, bedeutet, dass die Regierung eine neue Polizei schafft, die ausschließlich auf ihre Anweisung hin handelt.“ Keskin warnt, dass sich die ohnehin schon weit verbreitete Gewalt mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs auf alle Teile der Gesellschaft ausweiten wird. „Wenn es nach den Vorstellungen der Regierung geht, wird es in jedem Viertel und in jeder Straße Wächter geben, die jeden Moment unseres Lebens unter Kontrolle haben werden. Die Regierung betreibt damit eine extreme Sicherheitspolitik. Im Grunde bedeutet diese Maßnahme, dass Personen ohne adäquate Ausbildung Gewalt gegen uns ausüben dürfen, weil sie beispielsweise gegen unsere politische Meinung sind. Das geschieht zwar ohnehin schon, aber sollte der Gesetzentwurf tatsächlich verabschiedet werden, stünde die staatliche Gewalt ganz offiziell und in unserer Haustüre“, sagt Keskin.
Murat Yılmaz: Privatarmee der AKP
Der Rechtsanwalt Murat Yılmaz von der Zweigstelle des Vereins progressiver Juristen (Çağdaş Hukukçular Derneği, ÇHD) in Ankara sagt ebenfalls ganz unverhohlen, was seiner Meinung nach hinter dem Plan steckt: eine Parallelarmee der Regierung hochziehen.
Es sei schon in sich besorgniserregend, dass die AKP einen Mitarbeiterstab aufbaut, der ausschließlich aus ihr treuen Anhänger*innen besteht, so Yılmaz. „Diese Wächter verfügen über keine oder schlechte Ausbildung, sollen aber alle Befugnisse der regulären Polizei bekommen. Das bedeutet, dass sie mit einem noch größeren Ego an die Sache herangehen werden als normale Strafverfolgungsbehörden es bereits tun. Dieses Gesetz wird daher äußerst schwerwiegende Folgen haben. In diesem Land gibt es bereits genügend Polizeibeamte, in jeder Nachbarschaft steht eine Polizeiwache. Wenn dennoch neue Stellen für Hilfspolizisten geschaffen werden, obwohl sie nicht nötig sind, dann ist dies die Privatarmee der AKP.“