Das gigantische Kanalprojekt der AKP-Regierung hat den Konflikt zwischen der AKP-Regierung und der Stadtverwaltung von Istanbul verschärft. Während Erdoğan das Projekt als seinen „Traum“ vorstellt, bezeichnet es der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu als „Mordprojekt“. Bei dem Großprojekt geht es darum, das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer über einen neuen Wasserweg zu verbinden und so einen „zweiten Bosporus” zu schaffen. Nachdem die Stadtverwaltung von Istanbul erklärte, das Projekt von ihrer Vorhabenplanung zu streichen, kamen verschiedene Reaktionen aus dem AKP-MHP-Block.
Der Präsidentensprecher Ibrahim Kalın wies die Einmischung der Stadtverwaltung scharf zurück und erklärte, es handele sich um kein städtisches, sondern um ein staatliches Projekt. Imamoğlu entgegnete dem: „Wenn der Kanal errichtet wird, werden Istanbuls unter- und oberirdische Quellen vernichtet werden. Die größte Gefahr geht davon aus, dass sich Salzwasser in den Terkos-See ergießt. Der Sazlıdere-Staudamm wird nutzlos sein. 427 Millionen Kubikmeter Trinkwasserreserve werden verloren gehen. Dieser Verlust an Wasser würde das Ende bedeuten.“ Er wies darauf hin, dass das Projekt Erdbeben und Katastrophen auslösen könne.
Großteil des Gebiets wurde an katarisches Kapital verkauft
Das Kanalprojekt wurde bereits am 27. April 2011 vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan bekanntgegeben. Hinter dem Kanalprojekt steht vor allem auch katarisches Kapital. Die Mutter des katarischen Emirs Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, Scheicha Musa bint Nasser al-Missned, hat in Başakşehir eine Firma mit 100.000 TL Kapital gegründet und bereits eineinhalb Monate später elf Hektar Land genau an der Strecke des Kanals Istanbul gekauft. In das Projekt fließt massiv katarisches Kapital. Diese Allianz zwischen AKP und Katar ist bereits aus der gemeinsamen Unterstützung für Dschihadisten in Syrien bekannt. Das katarische Regime gehört zu den Förderern der Muslimbruderschaft im Ausland. Die Muslimbruderschaft wiederum ist Erdoğans Werkzeug bei der Umsetzung seiner neoosmanischen Pläne vor allem im gesamten Mittelmeerraum. Auf Kritiken aus der Opposition zur Finanzierung des Projekts mit Hilfe von Katar schrie der Regimechef: „Na und! Wenn es Hans und George wären, hätte niemand etwas dagegen.“
Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und ökonomischer Unsinn
Hauptkritikpunkte am Projekt sind die Zerstörung der Wasserversorgung der Stadt und des ökologischen Gleichgewichts. Demgegenüber argumentieren Erdoğan und seine Vertreter, so würde die Belastung des Bosporus und insbesondere die Gefahr von Havarien von Schiffen mit Gefahrgut geladenen Frachtern abnehmen. Während die AKP mit mehr als 81.100 jährlichen Durchfahrten durch den Bosporus bis 2071 rechnet, nehmen die eigentlichen Zahlen kontinuierlich ab. Im vergangenen Jahr durchquerten nur 41.103 Schiffe den Bosporus. Diese Zahlen stellen auch den ökonomischen Nutzen, mit dem die AKP argumentiert, in Frage.
Ingenieurskammer warnt
Was ist der Inhalt des Projekts? Der geplante Kanal soll etwa 40 Kilometer lang, 150 Meter breit und 25 Meter tief werden. Obwohl es dem Abkommen von Montreux, in dem die unreglementierte Durchfahrt aller zivilen Schiffe durch den Bosporus geregelt wird, widerspricht, soll der Bosporus dann für alle Tanker geschlossen werden.
Das Projekt schafft quasi eine neue Insel zwischen Kanal und Bosporus in Istanbul. Im Rahmen des Projektes wird verhandelt, ob diese Insel an katarisches Kapital verkauft wird. In der Umgebung des Kanals sollen auf 453 Millionen Quadratmetern neue Wohngebiete entstehen. Schon mit der Ankündigung des Verkaufs des Landes schossen die Zementaktien in die Höhe. Dass die Immobilienpreise ebenso wachsen werden, ist ein bekanntes Phänomen. Diese „Neustadt“ Istanbuls bringt Risiken mit sich. Sie wird direkt auf der Verwerfungslinie zwischen Asien und Europa gebaut: Ein Fakt, vor dem die Ingenieurs- und Architektenkammer TMMOB und die Stadtverwaltung von Istanbul bereits wiederholt gewarnt haben.
TMMOB gab erneut eine Warnung ab: „Durch die Verstärkung des Drucks auf ein Gebiet, durch das drei aktive Verwerfungslinien laufen, steigt die Gefahr von Katastrophen. Wir akzeptieren dieses Projekt nicht. Bereits heute muss Istanbul 70 Prozent seines Trinkwassers aus anderen Landkreisen beziehen und Präsident Erdoğan sagt: ‚Istanbul geht Wasserproblemen entgegen‘. Unsere Quellen dürfen nicht vernichtet werden.“
HDP: Von Anfang an dagegen
Der stellvertretende umweltpolitische Sprecher der HDP, Murat Çepni, erklärte gegenüber ANF, dass die Demokratische Partei der Völker bereits von Anfang an gegen dieses Projekt war. Er sagte: „Der Kanal Istanbul ist sowohl ein Spekulationsprojekt als auch ein Projekt der Umweltzerstörung. Die AKP betrachtet es als Lösung der von ihr verursachten ökonomischen Probleme. Ich bin der Auffassung, dass dies ebenfalls wieder ein nicht enden wollendes Projekt wird. Außerdem wird es die Landwirtschaft und den Lebensraum in der Region negativ beeinflussen. Im Moment wird hier Parzelle nach Parzelle entlang des Kanals verkauft und Katar ist ganz vorne mit dabei. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Als HDP betrachten wir dieses Vorhaben als ein ökologisches, ökonomisches und politisches Zerstörungsprojekt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen vor vielen Risiken in diesem Zusammenhang. Es erhöht die Erdbebengefahr, es führt zur Vermischung von Süß- und Salzwasser und wirkt sich negativ auf alle Lebewesen aus. Aus dem Aushub sollen Inseln entstehen. Aber wir fragen, an wen sollen denn diese Inseln verkauft werden?“