Seit einer Woche fehlt von Gülistan Doku aus der nordkurdischen Provinz Dersim jedes Lebenszeichen. Die 21-jährige Studentin stieg vergangenen Sonntag (5. Januar) in einen Kleinbus Richtung Universitätsgelände. Dort kam sie allerdings nicht an. Familienangehörige und Freund*innen sind besorgt, in der Öffentlichkeit wird Kritik an der Suche der Polizei laut: Dass Doku am Tag ihres Verschwindens um 11.29 Uhr gegenüber dem Gouverneursgebäude in einen Bus stieg, haben Auswertungen der Überwachungskameras ergeben. Denn wie in vielen anderen Regionen Nordkurdistans sind auch in Dersim überall Überwachungskameras und Richtmikrofone installiert. Zudem sind alle Ein- und Ausfahrten in die Stadt und Landkreise der Provinz durch Polizei- und Militärposten gesichert. Dennoch wollen die Sicherheitsbehörden keine Anhaltspunkte darüber haben, an welcher Haltestelle die Vermisste ausgestiegen ist. Die Behörde spekuliert stattdessen, Doku habe den Bus wahrscheinlich an der Sari-Saltuk-Brücke verlassen. Die Gegend ist nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und ist der einzige Ort, der von Überwachungskameras nicht erfasst wird. Der Grund: die Brücke liegt im Umkreis des Standorts der Kommandotruppen der türkischen Militärpolizei (Gendarmerie). Daher konzentriere sich die Suche auf das dortige Umland, die nahegelegene Talsperre Uzunçayırlı und das Universitätsgelände. Seit Tagen werden die Gebiete vom Boden und aus der Luft abgesucht. Taucher suchten in der Stauanlage nach der Vermissten. Nach Angaben des Busfahrers sei dort aber niemand ausgestiegen. Zwar könne er sich nicht erinnern, wann und wo Doku sein Fahrzeug verlassen hat. An der Brücke habe er aber definitiv nicht angehalten.
Gülistan Doku
Polizei geht Hinweisen nicht nach
Aber auch den Hinweisen von Kommiliton*innen, wonach Gülistan Dokus Ex-Freund Zainal A. möglicherweise mit dem Verschwinden der Kindheitspädagogik-Studentin zu tun haben könnte, geht die Polizei nicht nach. Der russlandstämmige Mann hatte nur einen Tag zuvor mit Gewalt versucht, die junge Frau in sein Auto zu zerren. Doku wehrte sich und Passant*innen, die das Geschehen beobachtet hatten, verständigten die Polizei. Warum die 21-Jährige den Vorfall nicht zur Anzeige gebracht hat, bleibt allerdings unklar. Laut ihren Mitbewohnerinnen war Zainal A. bereits zuvor gewalttätig. Aus diesem Grund habe sie sich von ihm getrennt. Ins Studentenwohnheim fuhr Gülistan Doku nach dem Ereignis am Abend des 4. Januar nicht. Stattdessen übernachtete sie in der Wohnung einer Lehrbeauftragten der Universität, da zu dem Zeitpunkt (23 Uhr) kein Bus mehr zur Wohnanlage fuhr.
Stiefvater zeigt auffälliges Verhalten
Was ist bisher bekannt über Zainal A.? Sein Stiefvater ist Polizeibeamter in Dersim. Möglicherweise liegt hier die Antwort auf die vielen Fragen von Angehörigen der Vermissten, die nicht beantwortet werden. Auswertungen der Handyverbindungen ergaben bereits, dass Gülistan Doku am Sonntag um 16.26 Uhr mit Abarakov, der in Russland einen Abschluss an der Offiziersschule des Militärs machte, telefoniert hat. Danach wurde das Gerät ausgeschaltet. Zwar wurde der Mann von der Polizei verhört, ins Präsidium musste er dafür aber nicht. Die Beamten hätten für die Befragung die elterliche Wohnung aufgesucht, sagen Zeugen. Einer von ihnen ist der Arbeitgeber von Doku. Ihm gehört ein Café, das sich ein Paar Etagen unter der Wohnung von Abarakov befindet. Dessen Stiefvater soll gegenüber dem Cafébetreiber geäußert haben, Gülistan sei labil gewesen und habe vermutlich Selbstmord begangen. Auch sonst zeige der Mann ein auffälliges Verhalten. Unterdessen ist Zainal A., der auch in dem Café arbeitete, zuletzt vor mehreren Tagen in der Stadt gesehen worden. Offenbar hat er das Land verlassen.
Polizei greift Demonstranten an
Dass Gülistan Doku vermisst wird, erfuhren ihre in Erxanî (Ergani) in der Provinz Amed (Diyarbakir) lebenden Angehörigen von den besorgten Mitbewohnerinnen. Von der Polizei wurden sie nicht verständigt, obwohl Studentinnen eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. Die Familie glaubt, die Polizei versuche, die Wahrheit zu vertuschen.
Parallel zur Suche, an der sich neben Angehörigen der Vermissten etliche Freiwillige beteiligen, finden täglich Proteste gegen die Polizei statt. Die Passivität der Sicherheitsbehörden hat große Empörung in Dersim ausgelöst. Erst gestern wurde wieder mit einer Demonstration die Aufklärung über das Schicksal von Gülistan Doku gefordert. Die Polizei reagierte in gewohnter Manier und griff die Protestierenden mit Wasserwerfern und Tränengas an.