Die „unschuldigen“ Täter

Karo Stern und Berjîn Bedel hatten in Rojava die Möglichkeit, für ANF mit zwei deutschen IS-Tätern zu sprechen. Beide Männer sitzen gemeinsam mit 6.000 ausländischen Gefangenen im Autonomiegebiet Nord- und Ostsyrien in Haft.

Am Tag, an dem im Irak wieder eine Fahne der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in der Öffentlichkeit gehisst wird, sitzen wir in Rimêlan im Vernehmungszimmer eines Militärstützpunkts der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) und sprechen mit zwei Deutschen, die unter dem Vorwurf der IS-Mitgliedschaft in Haft sind: Yunus Emre Sakarya aus Köln und Fatih Azim Akel aus Hamburg. Das gesamte Gespräch wird aufgezeichnet, aber wir werden die Originalaufnahmen nicht als Interview veröffentlichen, da beide versuchen, sich als unwissende und harmlose Bürger des sogenannten IS darzustellen. Stattdessen wollen wir einen Gesamteindruck vermitteln und einige der genannten Eckdaten der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Bei Yunus Emre Sakarya, der sich beim IS „Abu Dua“ nannte, fällt auf, dass die uns gegenüber gemachten Angaben sich teilweise von seinen Aussagen in vorangegangenen Befragungen und von Rechercheergebnissen unterscheiden. Wir werden dies kursiv kennzeichnen.

Yunus Emre Sakarya wirkt wie ein selbstbewusster, eloquenter Mann. Er ist Jahrgang 1991 und hat ein großes Mitteilungsbedürfnis. Neben Türkisch und Deutsch spricht er auch Arabisch und Englisch.

Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte Sakarya, der die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft besitzt, am südlichen Rand von Köln im Stadtteil Meschenich. Seine Eltern stammen ursprünglich aus Ankara. Nach einem Umzug in das nahegelegene Veedel Rondorf besuchte er dort die Ketteler-Grundschule. Mit 17 Jahren machte er seinen Hauptschulabschluss, eine Berufsausbildung hat er nicht.

„Bin Laden ist mein Vorbild“

„2010 begann eine neue Welle in Deutschland mit Pierre Vogel und seinen Videos. Über ihn bin ich über meine Religion aufgeklärt worden“, sagt Sakarya. Osama bin Laden, den Gründer des Terrornetzwerks Al-Qaida, bezeichnet der 30-Jährige als sein Vorbild. Sich weiter radikalisiert hat Sakarya bei dem salafistischen Verein „Millatu Ibrahim“ in Solingen. Etwa 20 bis 30 Anhänger bildeten eine verschworene Gemeinschaft, die sich kontinuierlich ideologisch festigte und intensiv Öffentlichkeitsarbeit betrieb. 2012 wurde die Gruppierung in Deutschland zwar verboten, ihre ehemaligen Mitglieder bilden aber immer noch die Speerspitze der hiesigen Dschihadisten-Szene.

Auf die Frage, was sein Interesse an dem Verein geweckt habe, nennt Sakarya einen starken Gruppenzusammenhalt und das gemeinsame Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein. „Sie haben ohne Filter geredet, sie predigten, was sie glaubten“, sagt er. Den Anführer Mohammed Mahmoud, Sohn eines nach Österreich geflohenen ägyptischen Islamisten, lernte Sakarya an Silvester 2011/12 kennen. Bei einem dreitägigen Seminar in einer Moschee in Köln-Zollstock hätte dieser großen Einfluss auf ihn ausgeübt. „Wenn du als Mann physisch in der Lage bist, musst du deine Glaubensbrüder verteidigen“, habe das Ziel gelautet, mit dem die Gruppe nach und nach Deutschland verließ.

Ausreise nach Ägypten

Im Juni 2012 reiste Yunus Emre Sakarya gemeinsam mit seinem Bruder Ismail („Abu Hureira“) und seiner damaligen Ehefrau, der Bonnerin Maryam, nach Ägypten aus. An den Nachnamen seiner Partnerin, mit der er, wie er sagt, „durchgebrannt“ sei, kann er sich angeblich nicht mehr erinnern. Zumindest weiß er noch, dass sie 1992 geboren wurde und marokkanische Wurzeln hatte.

In Kairo wählte Sakarya als erstes die Telefonnummer von Mohammed Mahmoud, der das Trio in seiner Wohnung beherbergte. Die weiteren Mitglieder von „Millatu Ibrahim“ flogen entweder allein oder als Gruppe hinterher.

Nach zwei Monaten in Kairo reisen die drei weiter nach Libyen, wo Maryam bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein soll. Ihren Tod und die Trauer um sie versucht Sakarya immer wieder als Grund für seine Entscheidung, in Syrien in einer dschihadistischen Gruppe zu kämpfen, zu thematisieren. Dass er am 11. September 2012 am Anschlag auf die US-amerikanische Botschaft in Bengasi, bei dem der Botschafter und drei seiner Mitarbeiter getötet wurden, beteiligt war, erwähnt Sakarya nicht.

Drei Monate in Aleppo gegen die YPG

Sein Weg führte ihn und den Bruder zurück in die Türkei und von dort über den Grenzübergang bei Hatay in ein militärisches Trainingslager in Syrien, das sich „im Wald nahe der Grenze“ befunden habe. Der Anschluss an das Terrornetzwerk Al-Nusra sei die Bedingung Mohammed Mahmouds gewesen, um sie nach Syrien zu bringen. Sakarya verharmlost die militärische Ausbildung als täglichen Sportparcours.

Der Zeitpunkt ist nicht geklärt, aber die Brüder Yunus Emre und Ismail Sakarya sollen wegen Vergewaltigung einer Frau zehn Tage lang in IS-Haft gesessen haben. Darauf folgte ein dreimonatiger Einsatz im Dorf Xan bei Aleppo gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Zu dieser Zeit integrierte sich ein Teil von Al-Nusra in den IS unter der neuen Führung von Abu Bakr al-Baghdadi.

Über Facebook suchte Yunus Emre Sakarya 2013 nach einer Ehefrau für sich und seinen Bruder. Eine junge Frau aus Trier mit serbischer Mutter und algerischem Vater und ihre Freundin reisten mit ihrem Personalausweis über die Türkei nach Dscharablus in Nordsyrien, dem damaligen Wohnort des Dschihadisten. Im gleichen Jahr kam es dort zu internen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen dschihadistischen Gruppierungen, darunter Fraktionen der FSA (Freie Syrische Armee). Yunus Emre Sakarya wollte mit seiner schwangeren Frau in die Türkei ausreisen, für den Grenzübertritt holte er sich über seine Familie Hilfe vom türkischen Innenministerium. Danach wurde er von seiner Ehefrau offenbar verlassen, denn die kehrte nach Deutschland zurück.

Luxusleben in Antalya dank Logistiknetzwerk für den IS

Er selbst blieb für drei Jahre in der Türkei. „Ich hatte einen luxuriösen Lebensstil in Antalya mit meiner ukrainischen Freundin“, schwärmt Sakarya. Denn er habe „schon immer ein Gefühl für Geschäfte und Business“ gehabt. Eine genauere Beschreibung dieser Geschäfte erhalten wir auch auf Nachfrage nicht. Allgemein bekannt ist aber, dass die Brüder ein internationales Logistiknetzwerk mit Hauptsitz in Ankara errichteten und spätestens seit Ende 2013 dem IS und dessen Verbündeten Waffenzubehör und Ausrüstungsgegenstände verkauften. Der in Syrien verbliebene Ismail Sakarya war in der „technischen Logistik“ des IS. Die Brüder beschafften Zielfernrohre für Waffen und Drohnen aus und über die Türkei und organisierten Luftabwehrraketen aus Georgien nach Syrien. In die Geschäfte sollen neben dem türkischen Geheimdienst (Kontaktmann Levent) auch russische Nachrichtendienstler verwickelt gewesen sein. Die Eltern der Gebrüder Sakarya wirkten an der Beschaffung von Waffenzubehör und Ausrüstungsgegenständen mit und transportierten auch selbst Gegenstände nach Syrien. Zudem förderten sie die Tätigkeit ihrer Söhne für den IS durch Geldzahlungen. Deshalb wurden sie im Juni vom Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf zu Haftstrafen verurteilt.

Verschleppte Ezidin als „Sklavin“ in Raqqa

Im März 2017 kehrte Yunus Emre Sakarya über einen kleinen Grenzübergang westlich von Hatay zu seinem Bruder zurück, der inzwischen in Raqqa lebte. „Wir haben mit grenzüberschreitenden Geschäften, mit Outdoor-Ausrüstung, unser Geld verdient.“ Auf die Nachfrage, welche Grenzen gemeint sind, nennt er die türkisch-syrische und die irakisch-syrische Grenze.

In Raqqa hielt sich Sakarya eine Ezidin als Sklavin, die er „als Geschenk“ bekommen haben will. „Als ich wieder nach Raqqa kam, hatte jeder eine oder mehrere Ezidinnen im Haushalt“. Die junge Frau stammte aus dem Dorf Koço im ezidischen Kerngebiet Şengal, wo der IS im August 2014 einen Genozid und Femizid verübte. Es waren tausende ezidische Frauen und Mädchen, die damals verschleppt, auf Sklavenmärkten verkauft, vergewaltigt, gefoltert, misshandelt, ausgebeutet und getötet wurden. Wer Yunus Emre Sakarya die Ezidin „schenkte“, auf diese Frage weigert er sich standhaft zu antworten.

Während der Kämpfe um die Befreiung von Raqqa zogen sich die Brüder nach Deir ez-Zor zurück. Yunus Emre Sakarya wurde am 25. November 2017 in der westlich des Euphrat gelegenen Stadt Hajin von den QSD festgesetzt. Die junge Ezidin, die er auch auf seiner Flucht als Gefangene hielt, wurde von den QSD an einen sicheren Ort gebracht. Der Aufenthaltsort des heute 28-jährigen Ismail Sakarya ist nicht bekannt. Vermutlich hat er sich in die Türkei abgesetzt.

Akel: Schuld an meiner Ausreise war meine Frau

Unser zweiter Gesprächspartner, Fatih Azim Akel, versucht ebenfalls, seine Ausreise zum sogenannten IS mit einer persönlichen Tragödie zu legitimieren. Akel alias „Abu Le“ wurde 1980 in Hamburg geboren. Seine Familie stammt aus Istanbul. Von ihm liegen keine Verhörprotokolle vor. Er verweigert bis heute jede Aussage.

Akel will das Bild eines Häufchen Elends vermitteln. Immer wieder erwähnt er seine körperliche Schwäche und seinen Wunsch, in Deutschland medizinisch behandelt zu werden. Die „Schuld“ für seinen Beitritt zum IS wälzt er auf seine frühere Partnerin ab. Fünf Jahre lang habe er „Stress“ mit ihr gehabt. „Der Streit hat nicht aufgehört. Ich wollte weit weg und habe mit Beten angefangen“, blökt Akel ganz jämmerlich. Hier sei ihm sein Cousin Muhammed Nadir zur Hilfe gekommen. Dieser habe ihm das Leben beim IS im nordsyrischen Raqqa als „schön und modern“ beschrieben. „Spontan“ entschied er sich sodann zur Ausreise, der Auslöser sei dann aber doch ein finaler Streit mit der Partnerin gewesen.

Akel bittet den Cousin, in der Türkei auf ihn zu warten, um zusammen nach Syrien auszureisen. „Ich bin nur mit meiner Jacke los“, sagt er. In Istanbul wartete Muhammed Nadir bereits in der Wohnung von Akels Mutter. Knapp zehn Tage später, es war Ende Juni 2015, überquerte der Hamburger in einer organisierten Gruppe die Grenze und gelangte über Dîlok (tr. Gaziantep) nach Dscharablus. Der Cousin war dann doch nicht mit dabei. Sein Bruder hatte Nadir angezeigt und ihn festnehmen lassen, um die Ausreise zum IS zu verhindern. Doch nach zehn Tagen in Polizeihaft wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt, und so stand auch seiner Ausreise nach Syrien nichts mehr im Weg.

Fatih Azim Akel will von Dscharablus aus auf eigene Faust nach Raqqa gefahren sein – mit Taxi und Bus. „Ich bin im Zentrum ausgestiegen. Ich kannte ja niemanden und wollte erstmal in die Moschee, zum Waschen und Beten.“ In einem Gotteshaus sei er in Kontakt mit einem Mann gekommen, der ihm geholfen habe, eine Wohnung zu mieten. Mit dem Bargeld, das er bei sich hatte, habe er gebrauchte Motorräder gekauft, repariert und wieder verkauft. In Deutschland arbeitete Akel als Konstruktionsmechaniker.

„Ganz normales Leben beim IS“

Auf die Frage, wie das Leben beim IS in Raqqa für ihn war, antwortet er: „Ganz normal. Ich hatte keine Kontakte, war allein. Ich ging ins Fitnessstudio zum Bodybuilding, in die Moschee und habe Motorräder repariert. Mein Cousin lebte in Deir ez-Zor und hat mich nur ein oder zwei Mal besucht.“ Muhammed Nadir wurde später in Ostsyrien getötet.

Auf das Thema der nach Syrien verschleppten Ezidinnen reagiert Akel mit demonstrativem Unwissen. „Ich hatte keinen Kontakt zu Frauen. Sie waren alle verschleiert. Ich hatte kein Interesse nochmal zu heiraten. Warum auch eine Ezidin?“ Anfang 2017, als der Krieg um Raqqa für den Hamburger bedrohlich wurde, verließ Akel die Stadt. Wieder will er Unterstützung in einer Moschee gefunden haben, diesmal in Abu Kamal. Auf welche Weise er in die letzte IS-Enklave Baghuz kam, wo er am 22. Februar 2019 verhaftet wurde, erklärt er nicht. Er behauptet, sich freiwillig gestellt zu haben, denn: „Ich dachte, wir leben zwei Monate in Zelten und werden dann nach Deutschland geschickt.“

Akel meint, dass er sich außer eines illegalen Grenzübertritts in ein Land mit einem „terroristischen Regime“ nichts zu Schulden kommen lassen hat. Deshalb sehe er sich auch nicht als eine Gefahr für Deutschland. Diese Äußerung und die dahinterstehende Haltung zieht sich durch beide Gespräche: ein persönlicher Schicksalsschlag habe sie zur Terrormiliz geführt. Weder Sakarya noch Akel übernehmen für ihre Entscheidung und ihr Handeln Verantwortung. Sie wollen den Eindruck vermitteln, unschuldige Mitläufer zu sein, die nur ein gutes Leben in einem religiösen Umfeld gesucht hätten. Die Mauer der Geschichten, die sich beide ausgedacht haben, bekommt nur selten Risse. Hin und wieder blitzen zwar Widersprüche auf, aber ihre Augen zeigen keine Regung.

Heimatländer ziehen sich aus der Verantwortung

Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass es sich bei diesen Männern um Unschuldige handelt. Auch Ort und Zeitpunkt ihrer Verhaftung weisen auf eine starke Verbundenheit mit dem IS hin. Im Dorf Baghuz bei Hajin hatte sich der harte Kern des IS verschanzt, der bis zum Schluss kämpfen wollte. Die Behörden der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien halten diese Männer nicht grundlos fest und sichern ihre Versorgung und Bewachung. Die Regierungen ihrer Heimatländer ziehen sich aus der Verantwortung und wollen sie nicht zurückführen, um sie vor Gericht zu stellen. Soll doch Nordostsyrien dieses Problem lösen und uns vor diesen Menschen schützen, scheint die Devise im Westen zu sein.

Möglicherweise sehen sich die Strafverfolgungsbehörden dieser Länder nicht in der Lage, Verfahren gegen ihre Kriegsverbrecher zu führen. Aus dem Irak gibt es derzeit fast täglich Meldungen über den wiedererstarkten IS, der gut organisiert die Bevölkerung und Sicherheitskräfte angreift. Die internationale Staatengemeinschaft darf das IS-Problem nicht länger auf Nord- und Ostsyrien abwälzen, sondern muss Verantwortung übernehmen und mit den lokalen Kräften zusammenarbeiten. Das bedeutet auch, die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens anzuerkennen und ihre Arbeit zu würdigen.