Am 3. August 2014 begann der Genozid und Femizid in Şengal, den die Ezid:innen als 74. Ferman bezeichnen. Tausende Frauen wurden vom „Islamischen Staat“ (IS) verschleppt, auf Sklavenmärkten verkauft, vergewaltigt, gefoltert, misshandelt, ausgebeutet und getötet.
Die 27-jährige S.H. lebt heute wieder in Şengal. Sie ist eine der Ezidinnen, die vor sieben Jahren verschleppt wurden und in einem unmenschlichen System dafür gekämpft haben, die Hoffnung nicht zu verlieren und einen Weg der Befreiung zu finden.
S.H. hat nach ihrer Befreiung aus der IS-Gefangenschaft niemandem von dieser Zeit erzählt. Sie weiß jedoch besser als wir alle, dass nicht ihr Herz und ihr Körper eine Schande sind, sondern ihre Folterer und Vergewaltiger. Sie wurde in eine ihr unbekannte Welt verschleppt und dort festgehalten. Sie musste die schmutzigsten Gräueltaten aushalten, die es gibt auf der Welt. Die Schande trifft diejenigen, die ihr das angetan haben. S.H. und Tausende weitere Ezidinnen stehen für Hoffnung und Widerstand.
Erzählen oder nicht erzählen?
S.H. zögert. Es fällt ihr schwer, von ihren Erlebnissen zu berichten, aber sie will, dass alle davon wissen. Eine Weile denkt sie nach und schwankt: Erzählen oder nicht erzählen? Wir verstehen sie und wissen, dass es schwer ist und Mut erfordert. Letztendlich entscheidet sie sich zu sprechen. Ausschlaggebend ist ihre Überzeugung, dass diese Geschichte nicht geheim bleiben darf. Ihr Gemütszustand zeigt einen Menschen, der vor einer schweren Entscheidung steht. Ihre Augen blicken ins Leere, sie ist versunken. Die Augen werden von den Wimpern verdeckt, damit der Schmerz uns nicht vor die Füße fällt. Wenn sie erzählt, erlebt sie diese Tage erneut. Schweigt sie, bleiben sie wie ein steinernes Monster in ihr erhalten. Wir versuchen, ihr Mut zu machen. Ich bin auf ihrer Seite und kann als Frau nachempfinden, was sie erlebt hat. Ich sage, dass das Leben schöner wird mit Frauen, die mutig von den Verbrechen erzählen, an denen sie keine Schuld haben, und durch die gegenseitigen Erzählungen stärker werden. Es muss überall bekannt werden, wer und was diese Vergewaltiger und Frauenfeinde sind, alle sollen es wissen.
S.H. macht den ersten Schritt. Sie fasst den Mut, zum ersten Mal über dieses Thema zu sprechen. Stück für Stück holt sie ihre Geschichte hervor, um sich am IS zu rächen und allen mitzuteilen, was geschehen ist. Sie war anderthalb Jahre in IS-Gefangenschaft, bevor sie von ihrer Familie freigekauft wurde. Heute lebt sie mit ihren drei Kindern in Şengal. „Nennt mich bei dem Namen meiner Mutter, Feyziye“, sagt sie. Während wir die Geschichte einer Überlebenden des 74. Ferman anhören, sprechen wir sie mit diesem Namen an. Auch in der folgenden Schilderung nennen wir sie Feyziye.
„Die Nachbarn haben zuerst angegriffen“
Feyziye stammt aus Gir Zerek. Mit 17 Jahren heiratet sie dort und bekommt ein Kind. Aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen zieht die Familie zwei Jahre vor dem Ferman in die Ortschaft Dumiz in der Region Şengal. Dumiz liegt westlich von Şengal, zwischen Şengal und Gir Zerek. Hier leben hauptsächlich Araber vom Stamm der Mitelta. Es gibt auch knapp fünfzig ezidische Familien, sie wohnen in allen Straßen von Dumiz. Viele von ihnen geraten beim Ferman in die Hände des IS. Vorher gab es gute Beziehungen zu den arabischen Nachbarn. Am Tag der Invasion werden sie von ihren Nachbarn verraten. Es sind die arabischen Nachbarn, von denen die Ezid:innen zuerst angegriffen werden.
Vorher sagten die Nachbarn: „Lauft nicht weg, euch wird nicht passieren, wir schützen euch.“ Viele Ezid:innen glauben ihnen und entscheiden sich zu bleiben. Mit der Zeit wendet sich der IS Gir Zerek zu und kommt von dort aus nach Dumiz. Die Lage ändert sich. Die arabisch-muslimischen Nachbarn stellen sich auf die Seite des IS und greifen die ezidischen Familien an, die sie vorher zu schützen versprochen hatten. Am Tag des Ferman flüchten sich viele Ezid:innen zu ihren arabischen Nachbarn und werden dort, am Ort ihrer Zuflucht, ermordet.
Auch ein Onkel von Feyziye sucht Zuflucht bei einem arabischen Nachbarn. Der Nachbar hat seinen Sohn bei der Beschneidung gehalten, man kennt sich gut. Feyziyes Onkel wird als Gast in diesem Haus von seinen Nachbarn ermordet. Ähnliches ist vielen Ezid:innen widerfahren. Sie sind von ihren nächsten Nachbarn, ihren Paten und Freunden getötet worden.
„Wir hatten ein gutes Leben“
Feyziye erzählt uns auch von ihrem Leben in Dumiz vor dem Massaker: „Das Leben in Şengal war schön vor dem Ferman. Wir haben uns gut mit den Nachbarn und Freunden verstanden. Abgesehen von kleineren Problemen hatten wir ein gutes Leben. Wir haben in unserem eigenen Haus gelebt und waren mit unseren Verwandten und Nachbarn zusammen. Damals wurde überall vom IS gesprochen. In den Nachrichten hieß es: Der IS ist in Mosul eingezogen, er ist in Mexmûr eingedrungen. Wir verfolgten alle Meldungen. Abends gingen wir angsterfüllt schlafen und genauso wachten wir wieder auf. Und trotzdem haben wir gedacht, dass der IS, wenn er nach Şengal kommt, nicht unseretwegen kommt, sondern wegen den militärischen Kräften. Wir sind davon ausgegangen, dass die Peschmerga und die Iraker hier sind und uns beschützen werden. Hätten wir gewusst, was passiert, wären wir viel früher weggegangen. Jetzt ist dort niemand mehr, alle haben sich zerstreut.“
„Wir waren zu spät“
Feyziye hat drei Jahre vor dem IS-Angriff geheiratet und ist Mutter von drei Kindern. Ein paar Tage vor dem Ferman geht ihr Mann zum Arbeiten nach Dihok. Feyziye bleibt mit ihren drei Kindern und ihrer Schwiegermutter zurück. Mit leiser Stimme fährt sie in ihrer Erzählung fort, ihre Verlegenheit ist ihr immer noch anzumerken:
„Am Tag des Ferman war alles sehr schwer. Nach dem Verrat unserer Nachbarn sind wir nach Şengal geflüchtet und von dort aus ins Qendîl von Şengal, zu den Serpentinen nach Çilmera. Morgens um acht Uhr rückte der IS in Şengal ein. Wir waren zu spät. Als wir die erste Serpentine erreichten, wurden wir vom IS eingeholt. Wir waren 14 Personen: Ich mit meinen drei Kindern, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin mit fünf Kindern, meine Schwester, die Tochter meines Schwagers und der Sohn meines Onkels, der den Wagen fuhr. Es kamen viele vom IS, sie versperrten uns den Weg. Männer, Frauen und Kinder wurden in drei Gruppen getrennt. Sie nahmen uns alles ab, was wir bei uns hatten: Telefone, Gold und Geld.“
„Jeden Tag wurden Mädchen weggebracht“
Dann wurden wir in Autos gesteckt und zum Einwohneramt in Şengal gebracht. Es war ein zweistöckiges Gebäude. Die Männer kamen nach oben, die Frauen ins Erdgeschoss. Jeden Tag sind sie gekommen und haben Mädchen von uns geholt. Wir blieben drei Tage dort. Danach wurden wir zur Ausfahrt von Şengal gebracht. Die Männer ließen sie dort, sie nahmen nur die Frauen mit. Nach fünf Tagen wurde die Umgebung bombardiert und wir wurden ins Baduş-Gefängnis in Baduşa zwischen Şengal und Telafer gebracht. Hier waren wir 13 Tage. Von Baduş aus wurden in eine Schule in Telafer gebracht und dort 23 Tage festgehalten. In dieser Zeit war jeder Tag Folter. Es gab nur zwei karge Mahlzeiten. Die Kinder und wir hatten Angst, wir wussten, dass am Schluss der Tod kommt. Wir alle wollten so schnell wie möglich sterben. Uns packte das Grauen, wenn sie hübsche Mädchen unter uns aussuchten. Alle fragten sich, was hier vor sich geht und warum diese Mädchen weggebracht werden. Die hübschen Frauen unter uns versteckten ihr Gesicht, einige verletzten sich selbst. Immer wenn eine Frau geholt wurde, hallten ihre Schreie in den langen Fluren wider. Erst war die Stimme ganz nah, dann entfernte sie sich. Niemand wusste, was mit diesen Mädchen geschieht. Alte Frauen wurden gefoltert. Ich habe mehrere ältere Ezidinnen mit Platzwunden am Kopf gesehen.
„Für meine Kinder hätte ich alles getan“
Auch wir wurden gefoltert. Ich hatte vor allem Angst um meine Kinder. Die größeren Kinder wurden weggebracht, aber die Kleinen, die noch im Arm der Mutter sind, wurden nicht weggenommen. Meine waren noch sehr klein, sie nahmen sie mir nicht weg. Eines war an meiner Brust, ich stillte es dauernd, damit es meinem Herzen nah war. Ich wollte nicht, dass es die Schreie der Frauen hört. Nachdem wir eine Weile dort waren, kamen sie und fragten, wer als Familie zusammen ist. Die Familien wurden abgesondert und in Häusern in Telafer untergebracht. In diesen Häusern sollten sie als Sklavenarbeit für den IS Schafe und Kühe halten. Ich wollte auch mit, aber mein Mann war nicht bei mir. Was ich auch tat, sie nahmen mich nicht mit. Sklavenarbeit für den IS war am leichtesten angesichts dessen, was sie uns antaten und noch antun sollten, und ich hätte alles getan, um meine Kinder zu schützen.
Als Frauen, die keinen Mann hatten, blieben wir in der Schule in Telafer. Jeden Tag wurden Frauen weggebracht und ich fühlte, dass ich an die Reihe komme. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Mit einer Nadel, die ich versteckt hatte, zerkratzte ich mein Gesicht. Ich machte von den Wangen bis zu den Augen Löcher in die Haut und rieb mich mit Ruß ein, um hässlich auszusehen. Ich änderte mein Gesicht. Es tat sehr weh, aber von meinen Kindern getrennt und weggebracht zu werden, wäre noch viel schmerzhafter, und ich war bereit, jeden Schmerz auszuhalten.“
Nächster Teil: Die Tage in Raqqa (Quelle: Yeni Özgür Politika)