Murat Karayilan hat sich als Mitglied des PKK-Exekutivrats gegenüber ANF zu der Anerkennung des Massakers an den Ezid:innen als Völkermord durch Belgien und die Niederlande geäußert. Das von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) 2014 im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal verübte Massaker darf nicht unabhängig vom türkischen Staat behandelt werden, fordert Karayilan und erinnert daran, dass Zehntausende Ezid:innen nur durch das schnelle Eingreifen der HPG-Guerilla gerettet werden konnten:
„Ich gedenke allen, die beim Ferman und beim Widerstand in Şengal ihr Leben verloren haben, und verneige mich respektvoll vor ihnen. Unsere Bewegung hat große Anstrengungen unternommen, damit der Kampf der Gefallenen weitergeht. In gewissem Ausmaß ist auch Rechenschaft eingefordert worden. Viele Rechnungen sind jedoch noch offen. Immer noch werden Tausende Frauen, Kinder und Jugendliche vermisst. Dieser Genozid ist eine offene Wunde im Herzen des kurdischen Volkes. Was der IS in Şengal getan hat, war eindeutig ein Völkermord. Jetzt erkennen einige Staaten diesen Völkermord offiziell an, bisher haben die Parlamente in Belgien und den Niederlanden eine entsprechende Resolution verabschiedet. Das ist eine positive, jedoch reichlich späte Entwicklung. Wichtig ist, dass es nicht bei dem Beschluss bleibt. Wer anerkennt, dass in Şengal ein Völkermord verübt worden ist, sollte auch politische und wirtschaftliche Konsequenzen daraus ziehen. Vor allem müssen die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Es muss geklärt werden, welche Staaten dahinter gesteckt haben.
„Die Bevölkerung von Şengal muss unterstützt werden“
Unserem Volk geht es heute immer noch schlecht, es braucht Unterstützung. Şengal muss wieder aufgebaut werden. Niemand leistet dabei Unterstützung, alle schauen nur zu. Der Wiederaufbau muss unterstützt werden. Die Staaten, die den Völkermord anerkennen, müssen sich auch mit diesem Thema befassen. Alle bis heute am ezidischen Volk begangenen Massaker sind von Leuten verübt worden, die sich Moslems nennen. Auf diese Weise haben 73 Ferman stattgefunden. Deshalb muss sich das ezidische Volk verteidigen können. Das versuchen die Menschen in Şengal im Moment aus eigener Kraft zu bewerkstelligen. Sie wollen in einem selbstbestimmten demokratischen System leben. Das ist ihr Recht, ein legitimes, humanitäres und demokratisches Recht, das unterstützt werden muss.
Şengal wird jedoch jeden Tag vom türkischen Staat angegriffen und niemand sagt etwas dazu. In der Vergangenheit wollte der IS Şengal auslöschen, jetzt tut es die Türkei. Der türkische Staat greift überall dort an, wo zuvor der IS angegriffen hat, zum Beispiel in Şengal, Efrîn und ganz Rojava. Diese Orte waren Angriffsziele des IS. Niemand fragt nach, warum sie jetzt im Visier des türkischen Staates sind.
Das IS-Massaker in Şengal hat nicht unabhängig vom türkischen Staat stattgefunden. Es war ein Projekt, das ezidische Volk sollte ausgelöscht werden. Es sollte der Völkermord des Jahrhunderts werden. Wenn es keine Intervention gegeben hätte, wäre er umgesetzt worden. Wenn nicht 150.000 Menschen ins Şengal-Gebirge geflüchtet und sie nicht verteidigt worden wären, wäre der Völkermord wie geplant durchgeführt worden. Das haben die HPG mit ihrer Intervention verhindert. Sie haben gekämpft und die Bevölkerung geschützt und evakuiert. Später ging es dann um die vollständige Befreiung von Şengal.
„Den Kampf der Gefallenen von Şengal nicht vergessen“
Wenn man vom Widerstand in Şengal spricht, darf vor allem der wertvolle Kommandant Dilşêr Herekol nicht vergessen werden. Wie allgemein bekannt ist, ist er vorher mit elf Freunden in die Region gegangen, um möglichen Angriffen entgegenzutreten. Am 3. August 2014 gegen neun Uhr hat er die Kommandantur über das Inferno in Şengal informiert. Er wurde gefragt, ob seine Einheit das Gelände beherrscht und ein Bataillon anführen könnte, wenn weitere Einheiten zur Unterstützung geschickt würden. Er sagte sofort ja, wir sind bereit. Innerhalb weniger Minuten war die Entscheidung gefallen. Zwei Bataillone haben sofort unterstützend eingegriffen, auch aus den Bergen haben sich Einheiten auf den Weg gemacht. Auf diese Weise konnte ein noch größerer Völkermord verhindert werden. Es war der selbstlose Widerstand von Kommandanten wie Dilşêr, Egîd Civyan und Berxwedan, der das verhindert hat.
Im Widerstand von Şengal sind viele wertvolle Freundinnen und Freunde gefallen. Ohne ihre Opferbereitschaft hätte der IS nicht gestoppt werden können, er griff von allen Seiten an. Sie haben sich schützend vor die Bevölkerung gestellt. Es waren die HPG und die PKK, die das getan haben. Und warum? Weil Rêber Apo [Abdullah Öcalan] angeordnet hatte, dass das ezidische Volk geschützt werden muss. Deshalb fiel die Entscheidung sofort, als die Information über den Angriff kam. Unsere Kräfte haben sich unverzüglich in Bewegung gesetzt. Die erste Intervention machten die HPG, dann wurden die YPG/YPJ um Unterstützung für eine sichere Evakuierung der Bevölkerung angefragt. Sie haben große Hilfe geleistet und sofort einen Korridor errichtet, auch bei der Befreiung der Stadt waren sie dabei. Daran haben auch Peschmerga teilgenommen, alle Kräfte haben die Stadt gemeinsam befreit.
Die Intervention der HPG war ein historisches Ereignis. Unter den schwierigsten Bedingungen wurde ein Völkermord aufgehalten. Auf der einen Seite waren Hunger und Durst, auf der anderen Seite griff der IS mit ganzer Kraft an. In dieser Situation haben die HPG eingegriffen und ein noch größeres Massaker verhindert.
Was der türkische Staat in Efrîn tut, ist ebenfalls ein Völkermord
Die Rolle des Staates beim Völkermord in Şengal darf nicht übersehen werden. Was der türkische Staat im Moment in Efrîn tut, ist das Gleiche: Er führt eine ethnische Säuberung durch. 95 Prozent der Bevölkerung von Efrîn waren Kurden. Wo sind diese Menschen hingegangen? Der türkische Staat hat sie von ihrem Land vertrieben und siedelt Menschen anderer Nationen dort an. Wenn das kein Völkermord ist, was ist es dann? Wir sehen jedoch, dass die europäischen Staaten, die Hegemonialstaaten, die Augen davor verschließen.
Gerade hat der türkische Staat eine weitere Schandtat begangen. Auch in Bakur [Nordkurdistan] werden Gefallenengräber angegriffen, in Efrîn sind alle Gefallenenfriedhöfe ein Angriffsziel. Die YPG hatten ganz zuletzt [im Frühjahr 2018] einen Friedhof für 67 Gefallene in Efrîn errichtet, weil es aufgrund des Krieges keine anderen Möglichkeiten gab. Dort sind die Toten begraben worden. Der türkische Staat hat die Namen entfernt, die Gefallenen aus den Gräbern geholt und behauptet, dass es sich um ein entdecktes Massengrab von Opfern eines Massakers handelt. So eine große Lüge kann nur der türkische Staat erfinden. Diese Situation legt ein weiteres Mal dar, was der türkische Staat in Efrîn tut. Und die europäischen Staaten, Russland und die USA ignorieren es. Das Vorgehen des türkischen Staates in Efrîn ist eine Schande für die Menschheit, die von allen Seiten ignoriert wird. Deutschland leistet sogar Unterstützung, damit in Efrîn Unterkünfte für Flüchtlinge gebaut werden. Das Geld dafür kommt aus Deutschland und den europäischen Staaten. Damit machen sie sich zum Teilhaber des Völkermords in Efrîn. Es herrscht große Heuchelei.
Die Rechnung für den Völkermord in Şengal und Efrîn ist noch offen und selbstverständlich wird Rechenschaft gefordert werden. Wichtig ist, dass wir als Kurdinnen und Kurden ernsthaft dafür kämpfen und das Thema auf Agenda halten. Die Brutalität des türkischen Staates ist aus der Geschichte bekannt. Die Massaker, die er in der Vergangenheit begangen hat, übt er jetzt am kurdischen Volk aus. Das geschieht in Şengal, Efrîn und Serêkaniyê und soll in ganz Kurdistan stattfinden, aber unser Kampf dagegen wird täglich größer. Der Feind wird besiegt werden, unser Volk wird gewinnen.“