Die türkische Besatzung Südkurdistans: Eine Gefahr für Europa

Das strategische Ziel der Türkei besteht darin, entlang der Grenzen zu Syrien und dem Irak – ein Gebiet von immerhin 1400 km Länge – einen Siedlungsgürtel aus vorwiegend arabischen Islamisten zu erschaffen. Ist Europa bereit für einen „IS 2.0“?

Das weitgehende internationale Schweigen angesichts des Versuchs der Türkei, Südkurdistan (Nordirak) zu besetzen, stellt auch aus europäischer Sicht ein großes Problem dar. Denn es verkennt die großen Gefahren, die die türkischen Pläne in der Region auch für das benachbarte Europa darstellen. Sollte es der türkischen Regierung gelingen, die PKK in den südkurdischen Bergregionen zu schwächen, wird sie die lokale Bevölkerung – Kurd:innen, Assyrer:innen, Ezid:innen – vertreiben und durch zehntausende islamistische Söldner samt deren Familien ersetzen. Die aktuelle Lage in Idlib, Efrîn, Serêkaniyê oder Girê Spî verdeutlicht, dass es sich hierbei um eine sehr reale Gefahr handelt. Das strategische Ziel der Türkei besteht darin, entlang der heutigen türkisch-syrischen und türkisch-irakischen Grenze – ein Gebiet von immerhin 1400 Kilometern Länge – einen Siedlungsgürtel aus vorwiegend arabischen Islamisten zu erschaffen, der mit einem wohl bekannten Begriff treffend beschrieben werden könnte: ein Islamischer Staat.

Die Strategie

Lokale Quellen aus Südkurdistan haben in den vergangenen Monaten wiederholt vom Einsatz arabisch sprechender Söldner berichtet, die Seite an Seite mit türkischen Soldaten gegen die Volksverteidigungskräfte (HPG) und autonome Frauenguerilla YJA-Star kämpfen. Diese Strategie der Türkei ist der Weltöffentlichkeit mittlerweile aus Libyen, Armenien und Syrien bekannt. Gegen das Versprechen guter Bezahlung, türkischer Staatsbürgerschaft und neuen Siedlungsgebieten hat die Türkei in den vergangenen Jahren zehntausende Islamisten aus der gesamten Welt militärisch ausgebildet, logistisch versorgt und bringt sie in den verschiedensten Teilen des Mittleren Ostens zum Einsatz. Im aktuellen Fall Südkurdistans werden diese Milizionäre laut verlässlichen Quellen über die jordanische Hauptstadt Amman ins südkurdische Hewlêr (Erbil) geflogen, dort vom türkische Geheimdienst (MIT) und Parastin, dem Auslandsnachrichtendienst der PDK-dominierten Autonomieregion, mit Peschmerga-Uniformen ausgestattet und in die umkämpften Regionen Metîna, Zap und Avaşîn gebracht. Auch in der auf türkischem Staatsgebiet in unmittelbarer Nähe der irakischen Grenze gelegenen Provinz Şirnex (tr. Şırnak) sollen aktuell ca. 1000 Islamisten stationiert sein. Falls erfolgreich, wird die Türkei versuchen ähnlich wie in Idlib oder Efrîn staatsähnliche Strukturen – politische Verwaltungsräte, ‚Sicherheitskräfte’, zivile Infrastruktur etc. – zu etablieren. Die Millionen von Kurd:innen, die seit Jahrtausenden in der Region leben, wird man wie in Efrîn fast vollständig vertreiben.

Das türkische Interesse

Die Türkei tut all das, um den Widerstand der kurdischen Bevölkerung samt ihrer politisch einflussreichen und militärisch schlagfähigen Partei PKK endgültig zu brechen. Ein arabisch-islamistischer Siedlungsgürtel würde Nordkurdistan (Südosttürkei) von Süd- und Westkurdistan (Nordirak und Nordsyrien) trennen. 100 Jahre nach dem Vertrag von Lausanne versucht die Türkei also die seither gültigen politischen Grenzen durch brutal herbeigeführte demografische Tatsachen zu ersetzen. Denn sie hat einsehen müssen, dass der Kampf der kurdischen Bevölkerung für Selbstbestimmung und grundlegende demokratische Rechte seit Lausanne nicht gebrochen werden konnte. Dieser neu gegründete Islamische Staat – von Idlib im Nordwesten Syriens bis nach Xakurke im türkisch-irakisch-iranischen Dreiländereck – würde der Türkei zudem ein sehr effektives Druckmittel gegen Europa zur Verfügung stellen: die permanente Gefahr islamistischen Terrors direkt an der Südostflanke der EU. Dass die Türkei bereit ist, genau damit Politik zu betreiben, hat sie in der Vergangenheit mit Drohungen ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und konkreten Anschlägen in Wien oder Paris mehrfach bewiesen.

Das Kalkül der NATO

Auch die NATO ist aktiv in die türkische Besatzungsoperation in Südkurdistan verwickelt. Politisches Schweigen, mediales Desinteresse, ein offener Luftraum über dem Nordirak und das Hofieren Erdogans auf dem jüngsten Gipfel sind nur einige Mittel, mit denen das westliche Militärbündnis der Türkei ihre massive Militäroperation ermöglicht. Wie weit die Unterstützung reicht, zeigt sich an der aktuellen Diskussion um Pläne der Europäischen Kommission, die Überwachung der türkischen Grenze im Osten der Türkei mit Milliardenbeträgen zu unterstützen. Auch die angekündigte Aufstockung der NATO-Truppen im Irak – insbesondere in Südkurdistan – von 500 auf 5000 Soldat:innen kann unter anderem im Zusammenhang der westlichen Unterstützung für die türkischen Pläne in der Region eingeordnet werden. Die NATO verfolgt mit der Unterstützung der Türkei zwei zentrale Ziele: Erstens hat auch sie ein Interesse an der Schwächung der PKK, die mit ihrer Politik der Demokratisierung in der Region eine direkte Alternative zur NATO-Dominanz entwickelt hat. Zweitens ist der NATO im Rahmen der seit drei Jahrzehnten andauernden Neuordnung des Mittleren Ostens daran gelegen, mithilfe der Türkei und ihrer islamistischen Sölnder die soziale, kulturelle und politische Krise in der Region weiter zu verstärken, um sich später als rettende, ordnende Kraft präsentieren zu können.

Die Gefahr für die Gesellschaften Europas

Als der IS 2014/15 weite Teile Syriens und des Iraks unter seine Kontrolle brachte und zehntausende Menschen in Şengal, Kobanê oder dem irakischen Anbar ermordete, horchten auch die Menschen in Europa auf. Entsprechend erleichtert war man, als die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) inklusive der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) im März 2019 den militärischen Sieg über die Islamisten verkündeten. Bereits damals warnten die kurdisch-syrischen Sieger:innen über den IS jedoch vor dessen Wiedererstarken. Ihre warnenden Worte drohen nun im Rahmen der türkischen Besatzungspläne in Südkurdistan Realität zu werden. Gelingt die Besatzung, würden nicht nur unmittelbar Millionen Menschen aus Südkurdistan als Geflüchtete nach Europa kommen. Langfristig hätten die Menschen Europas ein hunderttausende Quadratkilometer umfassendes Siedlungsgebiet von Islamisten und ihrer Familien als Nachbarn – ein Islamischer Staat, der ähnlich wie in Idlib oder Efrîn, unter dem Schutz der Türkei stehen würde. Dort würden sich Islamisten in aller Ruhe organisieren können, militärische Ausbildungen erhalten und Anschlagspläne für Europa schmieden. Wann immer es der Türkei gelegen erscheinen würde, könnte sie ihren islamistischen Verbündeten ihre Tore nach Europa öffnen.

Dieses besorgniserregende Szenario verdeutlicht, dass die Gesellschaften Europas keinerlei Interesse daran haben können, dass die seit dem 23. April andauernde türkische Besatzungsoperation in Südkurdistan Erfolg hat. Es ist daher in ihrem eigenen Interesse, die täglichen Militäraktionen der Türkei in Südkurdistan aufmerksam zu verfolgen, die Unterstützung der europäischen Regierungen für Ankara zu verhindern und die kurdische Bevölkerung vor Ort bei ihrem Widerstand gegen das türkische Projekt eines ‚Islamischen Staates 2.0’ zu unterstützen. Bleibt diese Reaktion der Gesellschaften Europas aus, werden sie in absehbarer Zukunft bedauerlicher Weise einen hohen sicherheitspolitischen Preis zahlen müssen.


Mako Qoçgiri ist Mitarbeiter von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. mit Sitz in Berlin