In Şengal findet an diesem Wochenende der vierte Kongress des Autonomierats MXDŞ (Meclîsa Xweseriya Demokratîk a Şengalê) statt. An der Veranstaltung unter dem Motto „Die Autonomieverwaltung ist die Brücke zur Freiheit“ nehmen 250 bei Versammlungen in den Dörfern Şengals gewählte Delegierte teil. Als Gäste sind weitere fünfzig Personen geladen, darunter Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen, schiitischer und christlicher Glaubensgemeinschaften, Kunstschaffende sowie aus Europa und Russland angereiste Ezid:innen.
Vom Genozid zur Autonomie
Der erste Kongress des Autonomierats hat nach dem vom IS 2014 verübten Genozid und Femizid in Şengal stattgefunden. Die Gründung war eine Antwort auf die islamistische Invasion, der sich zunächst nur ein zwölfköpfige Guerillagruppe der PKK entgegenstellte. Das Ziel des vierten Kongresses ist der Ausbau der basisdemokratischen Volksratsstrukturen und der selbstbestimmten Autonomieverwaltung in der Region.
Der Autonomierat beurteilt die Teilnahme von Vertreter:innen und Gästen aus allen gesellschaftlichen Gruppen als großen Erfolg und liefert damit zugleich ein Lösungsmodell für den gesamten Irak. Das erklärte Riham Hico als Ko-Vorsitzende des Exekutivrats von Riham Hico in der Eröffnungsrede: „Unser Ziel ist nicht nur eine Lösung der Probleme in Şengal, sondern im gesamten Irak. Dieser Kongress stellt einen wichtigen Schritt für die Entwicklung der ezidischen Gemeinschaft in den Bereichen Politik, Gesellschaft, Kultur und Bildung dar.“
Avesta: Wir müssen vor allem an uns selbst glauben
Auch Sozdar Avesta vom Präsidialrat der KCK betonte die Bedeutung der Veranstaltung in einer Videobotschaft. Vor allem sei es wichtig, dass sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen beteiligen und den Kongress als eigene Vertretung betrachten. „Die wesentliche Arbeit ist der Aufbau einer demokratischen Autonomie, die von Frauen und der Jugend angeführt wird. Deshalb müssen gerade junge Menschen und Frauen im Autonomierat mitarbeiten und die Arbeit anführen.“
Das ezidische Volk fordere seine legitimen Rechte ein, erklärte Sozdar Avesta: „Es sind wichtige Tage für die Durchsetzung eines autonomen Status. Auf der ganzen Welt wird der Ferman an den Ezidinnen und Eziden als Völkermord angesehen. Die Parlamente von Belgien und den Niederlanden haben den Genozid anerkannt. Das allein reicht jedoch nicht aus. Auf den Beschluss müssen Taten folgen. Wir müssen vor allem an uns selbst glauben und eine Garantie für die demokratische Autonomie in Şengal sein.“
„Das ezidische Volk will keinen eigenen Staat gründen“
Avesta sagte, dass das ezidische Volk keinen eigenen Staat gründen, sondern frei in seiner angestammten Heimat leben will: „Wir haben ein Recht auf Autonomie. Alle sollten wissen, dass die ezidische Gemeinschaft sich inzwischen verteidigen kann. Sie überlässt ihre Verteidigung und ihre Verwaltung niemand anderem. Das ist auch in der irakischen Verfassung verankert. Der faschistische türkische Staat will es verhindern, ebenso auch die PDK.“
Die Autonomie von Şengal müsse mit der irakischen Regierung diskutiert werden, fuhr Avesta fort: „Der Irak ist einem Dialog gegenüber aufgeschlossen. Wenn gut gearbeitet wird, kann das Problem über einen Dialog gelöst werden. Der Irak muss die Rechte des ezidischen Volkes anerkennen. Die Eziden werden dem Irak nicht schaden. Im Gegenteil, das Zusammenleben wird dadurch gefördert und es kann ein neues Modell entstehen.“
Aufruf zur Rückkehr nach Şengal
Zur Lage der aus Şengal vertriebenen Ezid:innen sagte Sozdar Avesta: „Sie sollten in ihre Heimat zurückkommen. In den Lagern lebt unser Volk wie in Gefangenschaft. Das muss ein Ende finden. Die Menschen leben eingezäunt hinter Stacheldraht, ständig brennen Zelte ab. Ihnen ist jede Möglichkeit der Selbstbestimmung genommen worden. Wir rufen unser Volk zur Rückkehr und zum Wiederaufbau von Şengal auf. Es kann nur so frei werden. Auf diesem Kongress müssen Entscheidungen für die Ezidinnen und Eziden in Êzidxan, Europa, Russland und anderen Orten der Welt getroffen werden. Alle Eziden und insbesondere die in Europa müssen sich für die Autonomie Şengals einsetzen.“
„Wir haben Abdullah Öcalan viel zu verdanken“
Avesta rief die ezidische Jugend zur Beteiligung an den Verteidigungskräften YBŞ/YJŞ und den Sicherheitskräften (Asayîş) auf und appellierte an die Frauen, den Kampf für ein autonomes Êzidxan anzuführen. „Ich rufe auch alle Stämme dazu auf, sich nachdrücklich an dieser Phase zu beteiligen. Wir befinden uns in einem historisch bedeutsamen Prozess. Die Einheit unter den Stämmen muss gestärkt werden, sie müssen für die Interessen der ezidischen Gesellschaft eintreten. Alle religiösen Vertreterinnen und Vertreter fordere ich zur Mitarbeit im Autonomierat auf.“
Zuletzt erinnerte Sozdar Avesta an den Umgang Abdullah Öcalans mit der ezidischen Gemeinschaft und sagte: „Als ezidische Gemeinschaft haben wir ihm viel zu verdanken. Er hat sie uns anvertraut und wir geben ihm ein weiteres Mal unser Wort, dass wir uns mehr denn je für sie einsetzen werden.“ Ihre Rede beendete Avesta mit der Parole der kurdischen Frauenbewegung: „Jin, Jiyan, Azadî!“ (Frauen, Leben, Freiheit).
Außer dem Redebeitrag von Sozdar Avesta wurden noch viele weitere Grußbotschaften verlesen. Danach wurden die Rechenschaftsberichte des Vorstands vorgelegt und diskutiert, anschließend wurden 111 Mitglieder in den Rat gewählt. Die neuen Ko-Vorsitzenden sind Xezal Reşo und Haşim Hecî, ihre Stellvertreter:innen Heso İbrahim und Sêvê Emo. Heute wird die neu gewählte Versammlung einberufen und einen Vorstand wählen.
Fotos: RojNews