Türkei: 764 Kinderarbeitsmorde in zwölf Jahren

764 Kinder starben in den letzten zwölf Jahren in der Türkei bei sogenannten Arbeitsunfällen. Ein erschütterndes Ergebnis wachsender Kinderarmut und systematischer Ausbeutung, sagen Gesundheitsverbände.

Gesundheitsverbände schlagen Alarm

Anlässlich des in der Türkei am 28. April begangenen „Gedenktages für die Opfer von Arbeitsmorden“ haben Gesundheitsberufsverbände in Ankara auf eine erschütternde Realität aufmerksam gemacht: In den vergangenen zwölf Jahren kamen in dem Land mindestens 764 Kinder und Jugendliche bei Arbeitsunfällen ums Leben. Unter dem Motto „Nein zu Kinderarbeit, Kinderarmut und Kinderarbeitsmorden“ forderten sie ein sofortiges Umdenken in der Sozial- und Bildungspolitik.

Die Pressekonferenz fand in den Räumlichkeiten der Ärztekammer Ankara (ATO) statt. Unter einem großen Transparent, das den Protest gegen Kinderarbeit ausdrückte, riefen Vertreter:innen demokratischer Organisationen und Ärzt:innen gemeinsam dazu auf, Kinder vor Ausbeutung und Tod zu schützen.

Armut treibt immer mehr Kinder in die Arbeitswelt

In ihrer Rede erinnerte Dr. Özden Çırpar, Vorstandsmitglied der ATO, daran, dass in den letzten 23 Jahren und damit seit der Machtübernahme der Erdoğan-Partei AKP über 33.000 Menschen in der Türkei durch Arbeitsunfälle ums Leben kamen. Besonders alarmierend sei jedoch die Zunahme der Kinderarbeit:

▪ Laut OECD leben mindestens 6,5 Millionen Kinder in extremer Armut in der Türkei.

▪ Jedes fünfte Kind leidet unter Mangelernährung.

▪ Jeder vierte Schüler geht morgens hungrig zur Schule.

▪ Immer mehr Kinder sind auf staatliche Hilfsprogramme wie das „Sozial- und Wirtschaftliche Unterstützungsprogramm“ angewiesen – aktuell fast 172.000.

„Armut treibt Kinder verstärkt in die Arbeitswelt“, so Çırpar. Die Medizinerin verwies auf erschreckende Zahlen: 1,37 Millionen registrierte „Kinderarbeiter“ gebe es derzeit, besonders in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen. Während der Sommermonate steige die Zahl aufgrund saisonaler Arbeitskräfteeinsätze auf beinahe zwei Millionen an.

Vorstellung des Berichts der Ärztekammer Ankara

Eine Politik, die Kinder zu Arbeiter:innen macht

Çırpar machte deutlich, dass Kinderarbeit in der Türkei systematisch gefördert werde:

▪ Das gesetzliche Mindestalter für eine Berufsausbildung wurde auf 11-12 Jahre herabgesetzt.

▪ Berufsausbildungszentren (MESEM) wurden flächendeckend etabliert.

▪ Arbeitgeber:innen, die Kinder beschäftigen, erhalten in manchen Fällen sogar staatliche Subventionen.

„Kinder, die eigentlich in Schulen gehören, arbeiten unter unsicheren Bedingungen und verlieren dabei ihr Leben“, sagte Çırpar eindringlich. Allein in den vergangenen zwölf Jahren seien mindestens 764 Kinder und Jugendliche bei Arbeitsmorden gestorben, ein Drittel davon unter 15 Jahren. Erschütternde Details:

▪ 4-jährige Kinder: fünf Todesfälle

▪ 5-jährige Kinder: sechs Todesfälle

▪ 6-jährige Kinder: fünf Todesfälle

Besonders häufig ereigneten sich diese tödlichen Unfälle mittlerweile in urbanen Industriezentren – eine direkte Folge der staatlichen Wirtschaftspolitik, die Armut und Landflucht verstärkt und Kinder in gefährliche Jobs drängt.

Forderungen: Verbot von Kinderarbeit und gerechte Sozialpolitik

Um Kinderarbeit wirksam zu bekämpfen, stellten die Gesundheitsberufsverbände klare Forderungen:

▪ Absolutes Verbot von Kinderarbeit.

▪ Neustrukturierung der beruflichen Bildung nach entwicklungspsychologischen Kriterien.

▪ Kostenfreier und qualitativ hochwertiger Bildungszugang auf allen Ebenen.

▪ Laizistische und wissenschaftsbasierte Lehrpläne.

▪ Tägliche kostenlose und nahrhafte Mahlzeiten in allen Schulen.

▪ Gleichberechtigter und kostenloser Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für alle Kinder.

„Kinder gehören nicht in Fabriken, Baustellen oder Werkstätten, sondern in Schulen, auf Spielplätze und in Parks“, erklärte Dr. Çırpar abschließend. „Es darf nicht zugelassen werden, dass aus Profitgier die Zukunft unserer Kinder gestohlen wird. Die Zukunft gehört den Kindern – nicht den Märkten.“

Foto: Vertriebene kurdische Kinder in Rojava, Symbolbild © Nazım Daştan