Die Journalist:innen Nazım Daştan und Cihan Bilgin sind am Donnerstag bei einem gezielten Drohnenangriff der Türkei in Nordostsyrien getötet worden. Beide Journalist:innen arbeiteten seit vielen Jahren für kurdische Medien und berichteten zuletzt von der Front am Euphrat über die Angriffe der türkischen Armee und der Dschihadistenmiliz SNA auf die selbstverwaltete Region Nord- und Ostsyrien. Wir werden sie nicht vergessen.
Mit Nazım Daştan habe ich am 24. März 2018 in Qamişlo im Redaktionsgebäude der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA gesprochen. Das Interview ist Teil meiner Doktorarbeit zum transnationalen Mediennetzwerk der kurdischen Freiheitsbewegung. Wenige Tage zuvor war der Kanton Afrin in die Hände der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Söldner gefallen. Daştan hatte die gesamten 58 Tage der Belagerung Afrins vor Ort für kurdische Medien berichtet. Er war nur kurze Zeit vor unserem Treffen mit Glück aus der Stadt Afrin entkommen, bevor sich der Belagerungsring um sie geschlossen hatte. In diesem Gespräch geht es um sein Verständnis von Journalismus und seine Erlebnisse in Rojava. Es ist zur Leserlichkeit leicht redigiert und gekürzt.
Seit wann arbeitest du als Journalist?
Seit fast acht Jahren.
Warum hast du dich entschlossen, Journalist zu werden?
Ich habe eigentlich Filmwissenschaften studiert. Das war zu Beginn der Revolution von Rojava. Damals gab es viele Festnahmen in Nordkurdistan. Während der KCK-Operationen wurden auch kurdische Medien ins Visier genommen. Fast alle Mitarbeiter von DIHA, Özgür Gündem und Azadiya Welat wurden damals inhaftiert. Ich war zu der Zeit in den Gebieten Antep, Urfa, Diyarbakir und ich wollte über gewisse Dinge schreiben. Ich hatte aber eigentlich nie richtig vor Journalist zu werden, denn ich studierte ja schon Filmwissenschaften.
Hast du die Universität abgeschlossen?
Nein. Als ich in der journalistischen Arbeit drin war, ist auf einmal alles anders gekommen. Krieg, Zerstörung, immer gegen die Kurd:innen. Auch wenn ich es gewollt hätte, hätte ich nicht aufhören können, als Journalist zu arbeiten. So ist es dann mit der Dicle-Nachrichtenagentur weitergegangen. Mehr als 30 ihrer Mitarbeiter:innen wurden von 2010 bis 2012 festgenommen. Eigentlich habe ich auch nie eine richtige Ausbildung bekommen. Ich hatte eine gewisse Neigung zur Kamera wegen meines Studiums. Ich habe gelernt, Nachrichten zu schreiben, indem ich sie einfach geschrieben habe. Learning by doing also. Ein paar Freunde haben mich dabei natürlich unterstützt, vor allem die Redakteur:innen in der Agentur.
Seit wann bist du in Rojava?
Ich war immer mal wieder hier, für drei bis fünf Monate. Jetzt bin ich aber schon mehr als zwei Jahre dauerhaft hier.
Hat die Türkei keine Probleme gemacht, wenn du hin und her bist?
Klar. Ich wurde in Polizeigewahrsam genommen, es wurde ein Verfahren gegen mich eröffnet, meine technische Ausrüstung wurde beschlagnahmt. Der Prozess gegen mich geht immer noch weiter, auch wenn ich ihn in der letzten Zeit nicht wirklich verfolgen konnte, wegen dem Krieg [gegen Afrin]. Ich saß zudem ein Jahr im Gefängnis. Wegen der Nachrichten, die ich über Afrin, Kobane, die Massaker des IS und so gemacht hatte. Das wurde als Vergehen in meine Gerichtsakten aufgenommen.
Aus welcher journalistischen Tradition kommst du?
Es gab immer eine Tradition des oppositionellen kurdischen Journalismus in jedem Teil Kurdistans, sei es im Norden oder in Rojava. Diese Tradition wird mit der „Freien Presse" fortgeführt. Früher gab es Zeitschriften, Zeitungen oder TV-Kanäle. So wie Kurd:innen massakriert wurden, wurden auch ihre Medien ausgelöscht. Sie waren immer Angriffen ausgesetzt. Dabei gab es immer wieder Auf und Abs. Aber besonders in den 1990er Jahren wurde die Tradition der „Freien Presse" von den Kurd:innen fortgesetzt. Das hat eine Grundlage geschaffen. Wenn wir heute von einer neuen Generation von Journalist:innen sprechen können, dann nur, weil in den 90er Jahren dafür das Fundament geschaffen wurde. Dank der Arbeit dieser Journalist:innen der „Freien Presse" wurde das Volk über verschiedene Massaker informiert. Als letztes die Massaker von Suruc [am 20. Juli 2015] und von Ankara [am 10. Oktober 2015]. Ich bin ein Kollege, der in der Tradition der „Freien Presse“ steht. Ich halte den Stift, die Kamera, nehme Fotos auf.
Du hebst also die Kamera auf, die zuvor auf den Boden gefallen ist?
Ja, bis heute sind viele Kameras auf den Boden gefallen, Fotoapparate kaputt gegangen und Stifte zerbrochen [Anmerkung: gemeint ist damit, dass viele Journalist:innen in Ausübung ihrer Arbeit gestorben sind] und wir haben sie immer wieder aufgehoben. Wir sind die Kinder von Ape Musa. Viele unserer Freund:innen wurden ermordet, angeschossen, ins Gefängnis gesteckt. In jeder Phase gab es Druck und in dem Gebiet, in dem wir uns gerade befinden, stehen wir an vorderster Front.
Seit zwei Jahren arbeitest du jetzt in Rojava. Über welche Dinge schreibst du am meisten?
Im Mittleren Osten hat sich ein Denken wie das des IS entwickelt. Es ist ein Angriff von gewissen Kräften gegen Araber:innen und Kurd:innen: Köpfe abschneiden, Vergewaltigungen, Entführungen. Mir geht es darum, diese Massaker und ihre Zeug:innen zu zeigen. Also die Folter von Frauen und Kindern, die Massaker und Völkermorde. Und dann das System, das gegen all das in Nordsyrien entwickelt wurde. Ein System, in dem Kurd:innen und Araber:innen eine Vorreiterrolle spielen. In diesem System können sich die Menschen selbst sehen. Das versuche ich hervorzuheben und zu zeigen. Also wie die Menschen gemeinsam zusammenleben können. Um dieses Zusammenleben auszulöschen, wurde der IS von internationalen Kräften geschaffen. Das will ich an die Oberfläche bringen. Was die Menschen hier erleben, wo der Syrien-Krieg seinen Ursprung hat. Welche Ziele internationale und regionale Mächte haben. Die dreckige Politik, die auf dem Rücken der Kurd:innen betrieben wird. Das will ich dechiffrieren. Es ist immer noch viel im Dunkeln und das will ich ans Licht bringen. Die Kurd:innen haben sich nun ein System gegeben, dass sie „Demokratische Autonomie" nennen. Ich versuche insbesondere Nachrichten zu diesem neuen System zu machen. Also wie man im Mittleren Osten zusammenleben kann. Wir sind auch nach Rakka gefahren, das war vollkommen im Dunklen geblieben. Wir haben berichtet, was dort geschehen ist, was den Frauen angetan wurde, wie die Menschen gefoltert wurden. In Afrin, wie die Menschen dort von Flugzeugen bombardiert wurden, wie Frauen und Kinder ermordet wurden. Das haben wir fotografiert, aufgeschrieben und aufgenommen.
Wie hältst du das als Journalist aus, all diese Geschichten, diese Realitäten?
Du bist nicht der einzige, der das fragt. Derzeit fühlen wir nicht die Schwere des Erlebten. Das Leben ist aufgrund des Krieges sehr schnell, sehr bewegt. Deshalb spürt man das derzeit nicht. Man kann das nicht verarbeiten. Es wird aber die Zeit kommen, wo diese Schwere auf uns zurückkommen wird, auch psychologisch. Aber wir sind derzeit in solch einem Krieg, man kommt von einer Situation in die nächste. Es gibt Kräfte, die Tag und Nacht versuchen dich auszulöschen. Man schaut jeden Tag auf die Realitäten des Krieges, aber hat keine Luft zu atmen. Erst wenn wir diese haben, werden wir all das spüren. Und was dann kommt, weiß ich nicht...
Du bist während des Rakka-Feldzuges auch als Journalist verletzt worden. Magst du darüber erzählen?
Wir haben den Rakka-Feldzug von Anfang bis Ende begleitet. Über die Dörfer, über Tabqa bis ins Stadtzentrum von Rakka. Es ist eine Taktik des IS, Bomben explodieren zu lassen. Sie haben gesehen, dass wir Journalisten sind. Wir waren auf einer flachen Ebene und sie waren in der Stadt. Sie sind mit einem bombenbestückten Auto gekommen. Wir haben gesehen, dass das Auto auf uns zukommt. Aber es war eine freie Fläche, es gab keinen Ort, an den wir hätten fliehen können. Wir waren zu Fuß unterwegs. Als sie kamen, dachte ich: „Ok, das war´s, bis hier hin und nicht weiter". Es ist genau zwischen uns gefahren und drei bis vier Meter von mir entfernt explodiert. Wir sind durch die Druckwelle weggeflogen. Ich bin auf den Boden gefallen und dachte „Ok, das war´s, vermutlich bin ich jetzt tot.". Ich öffnete meine Augen und um mich herum war eine Staubwolke. Noch immer fielen Teile vom Himmel neben mir herab. Ich hatte da noch nicht bemerkt, dass ich verletzt war. Das erste was ich tat, war zu schauen, ob das Objektiv meiner Kamera noch ganz ist.
Und, ging sie noch?
Ja. Ich hatte aber den Deckel zur Abdeckung verloren. Ich sagte mir: „Okay, wenn es der Kamera gut geht, dann gibt es kein Problem." Als ich merkte, dass es immer noch Teile vom Himmel regnete, warf ich mich auf den Boden. Dort habe ich zuerst meine Füße bewegt. Als ich bemerkte, dass sie sich bewegen, dachte ich, ich bin nicht verletzt. Dann habe ich meine Hände leicht bewegt. Auch das ging. Ich dachte mir also „Mir geht es gut, mir ist nichts passiert". Ich hatte da noch nicht gemerkt, dass Blut von mir herabtropft. Ich bin aufgestanden. Bei mir war noch ein weiterer Journalist, Mazlum. Ich fragte mich, wie es ihm ging und rief nach ihm. Aber wegen des Knalls der Explosion habe ich nicht wirklich etwas gehört.
Ist dein Trommelfell nicht geplatzt durch die Explosion?
Doch, insbesondere mein linkes Ohr hat Schaden genommen. Ich spüre es immer noch. Ich bin also aufgestanden, um Mazlum zu suchen. Ich habe nach ihm gerufen, konnte ihn aber nicht finden. Als sich der Staub legte, sah ich ihn am Boden liegen. Er sagte zu mir: „Ich bin verletzt, hilf mir beim Aufstehen." Währenddessen schickten die anderen bereits Fahrzeuge, um die Verletzten abzuholen. Hinter mir waren vier bis fünf Kämpfer gewesen, sie sind zerfetzt worden. Es gab auch viele Verletzte. Ich habe also Mazlum aufgehoben und in ein Auto geworfen. Dann merkte ich, dass warmes Wasser aus mir herausläuft. Ich habe gedacht, es wäre Wasser, aber es war Blut. Ich habe mit meiner Hand meinen Rücken berührt und die Splitter gespürt, die in mir steckten. Ich realisierte, dass ich verletzt war, dass mein rechtes Bein auch verletzt war. Daraufhin warfen sie mich auch in ein Auto. Danach kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern. Ich bin bewusstlos geworden. Als ich wieder aufwachte, war ich in Kobane. Sie haben uns mit Boten über den Euphrat gebracht, über Tabqa. Ich habe da eine kurze Zeit meine Augen aufgemacht und den Fluss gesehen. Als ich dann wieder meine Augen öffnete, war ich in Kobane im Krankenhaus. Ich wurde zwei Mal operiert, sie haben die Schrapnellsplitter entfernt. Aber es befinden sich immer noch einige Stücke in mir. Sie konnten sie nicht entfernen, weil sie in meinen Knochen stecken. Das ist eine risikoreiche Operation.
Wie viele Menschen sind damals gestorben?
An dem Tag sind acht Kämpfer gestorben. Mein Kollege Mazlum und ich hatten Glück, uns hat die Druckwelle gerettet. Wir wurden 20 bis 30 Meter weit weggeschleudert.
Wie viele Monate später hast du wieder begonnen zu arbeiten?
Drei Monate lag ich flach. Als ich wieder gehen konnte, bin ich sofort ins Stadtzentrum von Rakka gegangen und habe weitergearbeitet.
Wie kümmerst du dich derzeit um deine Sicherheit?
Es gibt hier ein Sicherheitssystem. Sie sichern auch die Presseeinrichtungen. Natürlich befinden wir uns hier inmitten eines Krieges. Es kann immer alles passieren. Man weiß nicht, was für Angriffe in welchem Moment kommen können. In den Kampfgebieten schützen dich die Kämpfer:innen direkt. Es gibt dort extra Einheiten, die für deinen Schutz sorgen. In Nordsyrien selbst ist die Sicherheitslage gut.
Wie lange hast du als Journalist in Afrin während des Krieges gearbeitet?
Ich war von Anfang an in Afrin. 58 Tage. Das war eine andere Art von Krieg. Ein Gebiet, das seit sieben Jahren von drei Seiten eingekesselt ist. Die internationalen Mächte haben sich geeinigt – Russland, die USA – und so konnte die Türkei den Angriff durchführen. Die ganze Welt kennt das demokratische System, das in Nordsyrien aufgebaut wurde. Afrin war der einzige Fleck in der Region, der in sieben Jahren keinen Krieg gesehen hatte. Es lebten dort Kurd:innen, Turkmen:innen, Araber:innen, Ezid:innen, Christ:innen, Alevit:innen. Afrin war die Blume der Region. Warum haben sie also angegriffen? Sie wollten dem System, das unter der Vorhut der Kurd:innen aufgebaut wurde, einen Schlag versetzen, es schwächen. Alle internationalen Mächte schwiegen dazu. Nicht nur die Staaten und ihre Regierungen, sondern auch die Medien. Die internationale Presse war nicht vor Ort. Niemand hat über Afrin geschrieben, niemand hat dort Aufnahmen gemacht. Niemand hat die in Afrin getöteten Kinder und Frauen dokumentiert. Die internationale Presse hat ihre Augen verschlossen, so wie auch die Staaten.
Was war in Afrin dein Ziel als kurdischer Journalist?
Die Menschen wurden ermordet, wir haben das gesehen, fotografiert und aufgenommen. Es ging darum, das Komplott gegen die dort lebenden Menschen an die Öffentlichkeit zu bringen. Das war unser grundlegendes Ziel. Es war nicht nur meins, sondern das aller Journalist:innen, die sich ein Herz fassten und an der Seite des Volkes und der Gesellschaft waren. Es gab drei, vier solche Journalist:innen. Wie erfolgreich wir dabei waren, weiß ich nicht. Wir versuchten, die Stimme der Menschen zu sein, die dort Schmerz und Massaker erleben. Ich versuchte, eine Stimme gegen den Völkermord zu sein. In Afrin werden derzeit die Familien von Kämpfern der Al-Nusra, von Ahrar al-Sham und dem IS angesiedelt. Die Demografie wird verändert. Man trägt als Journalist die Verantwortung, über solche Dinge zu berichten. Deswegen sind wir dorthin gegangen. Wir haben versucht, so gut es geht ihre Stimme zu sein. Wir sind dort zu den Zungen und Augen der Menschen geworden.
Die kurdische Presse wird, wie die Kurd:innen selbst, unterdrückt. Aber wir kommen aus einer Tradition, die an der Seite der Bevölkerung und der Gesellschaft steht. Wir sind die Stimme und der Stift dieses Geistes. Das werden wir weitermachen, egal wie sehr sie sich gegen die kurdische Presse richten mögen. Die Tradition der „Freien Presse" wird weitergehen. Die Saat dafür wurde gesät. Was immer sie auch tun, wir werden nicht ausgelöscht werden. Der Stift wird immer in der Hand gehalten werden. Wir werden diesen Weg weitergehen. Und zwar nicht nur den der Kurd:innen, sondern aller im Mittleren Osten unterdrückter Völker. Wir werden weiterhin ihre Stimme sein.