„Vom System zum Netzwerk – Medien, Politik und Journalismus in Kurdistan“ – das ist der Titel der Dissertation von Kerem Schamberger. Damit schloss der Aktivist und Kommunikationswissenschaftler seine universitäre Laufbahn an der Ludwig-Maximilians-Universität München ab. Er arbeitet jetzt für medico international.
In der vorliegenden Doktorarbeit wird erstmals das Mediensystem in Kurdistan und der europäischen Diaspora als ein transnationales Netzwerk beschrieben, das – notgedrungen und auch gewollt – die Ebene nationaler Strukturen verlässt. Bei seiner theoretischen Analyse bezieht sich Schamberger auf das Konzept der „Akteur-Struktur-Dynamik“ des Soziologen Uwe Schimank, das die wechselseitige Interaktion und Prägung von Akteur:innen und sozialen Strukturen betrachtet.
Wie der Austausch über Nationalgrenzen hinweg funktioniert, unter welchen Bedingungen und mit welchen Motiven kurdische Journalist:innen arbeiten und wie sich das Netzwerk konstituiert, sind die zentralen Fragen der empirischen Untersuchung. Dabei weist Schamberger immer wieder daraufhin, dass die kurdische Medienarbeit das Ergebnis langer Kämpfe gegen Kolonialismus und Assimilation ist, auf die er im historischen Kontext eingeht.
Analysiert werden kurdische Massenmedien mit Nachrichteninhalten, also Zeitungen/Zeitschriften, Radio, Fernsehen und Online-Nachrichtenagenturen. Ein besonderer Fokus liegt auf den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Medienschaffenden. Neben südkurdischen Medien aus dem Umfeld der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und Patriotischen Union Kurdistans (YNK) nimmt das Mediennetzwerk der kurdischen Freiheitsbewegung den größten Platz in der Arbeit ein, da es transnational am weitesten verzweigt ist und in ihm die meisten Medienschaffenden tätig sind. Ein ausgedehntes Netzwerk von Korrespondent:innen sorgt täglich für Berichte über Kämpfe und Aktionen der Freiheitsbewegung und deren Sympathisant:innen. Zusammen mit Hintergrundreportagen und Botschaften der politischen Akteure tragen die Medien so zur Herausbildung einer kollektiven kurdischen Identität bei. Man begreift sich als Teil des Freiheitskampfes und ist verbunden mit dessen Leitfigur und Gründer der PKK, Abdullah Öcalan.
Um diese das Netzwerk prägenden gemeinsamen Wertvorstellungen zu verstehen, beschreibt Schamberger deshalb ausführlich die ideologische Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung und das Paradigma von Abdullah Öcalan, der der Bedeutung der Medienarbeit eine entscheidende Rolle zuweist. Schamberger zitiert Öcalan aus dessen Gespräch mit seinem Bruder: „Stärkt die Medien. Tragt dazu bei. Ich schicke den Freundinnen und Freunden aus der Medienarbeit sehr viele Grüße.“
Wie Öcalan ist die Freiheitsbewegung überzeugt von der Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen von unten. Mit Stift oder Kamera sind die Medienschaffenden unterwegs, um ihren Teil zum anvisierten Aufbau der „Demokratische Moderne“ als Alternative zur „Kapitalistischen Moderne“ beizutragen.
Wer Kerem Schamberger kennt, weiß, dass er sich nie in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückzieht. Er versteht sich selbst als Aktivist, sucht immer die Begegnung und stürzt sich ins Getümmel der politischen Auseinandersetzung. Dies kam ihm bei seiner Feldforschung zugute. Er unternahm zahlreiche Reisen, die ihn zu Medienschaffenden in verschiedenen Teilen Kurdistans, aber auch in der europäischen Diaspora führten. In 53 Interviews mit Medien-Aktivist:innen kommen die zu Wort, die alle zusammen das kurdische Mediensystem repräsentieren. Schamberger begleitet sie in ihrem Alltag, beobachtet, hört zu und stellt Fragen. Die Auswertung der Interviews erlaubt einen tiefen Einblick in die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Journalist:innen. Ergänzt durch Dokumentenanalyse und Feldbeobachtung ergibt sich ein realistisches Bild des gegenwärtigen lebendigen kurdischen Mediennetzwerks, das sich selbst organisiert und als Teil einer kämpfenden Bewegung versteht. Den gemeinsamen Belangen wird eine Stimme gegeben, um die Sprachlosigkeit der Bewegung zu beenden, die aufgrund vielfältiger Repression allzu oft kein Gehör findet.
Zum Rollenverständnis der Medienschaffenden der Freiheitsbewegung zitiert Schamberger Memed Drews aus der Redaktion von Stêrk TV: „Wir sind die Stimme und das Ohr des Freiheitskampfes unseres Volkes.“ Wer für kurdische Medien arbeitet, versteht sich immer auch als politischen Akteur. Es gibt keine Verpflichtung zur Neutralität, wohl aber zur Wahrheit. Das Ziel ist, die Praxis der Unterdrückung zu dechiffrieren. Gleichzeitig dienen die Veröffentlichungen als identitätsstiftendes Archiv des kollektiven kurdischen Gedächtnisses.
Journalist:innen der Freiheitsbewegung sind in der Regel sehr mobil und in allen Teilen Kurdistans und Europa unterwegs. Sie arbeiten ohne oder gegen sehr geringe Bezahlung, nehmen prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf und gehen bei ihrer Tätigkeit oft große persönliche Risiken ein, wie Schamberger anhand vieler Gespräche und Lebenslaufanalysen feststellt.
Eine journalistische Ausbildung im herkömmlichen Sinn haben die allerwenigsten Akteur:innen. Man misstraut den Institutionen unter staatlicher Kontrolle. Ihre Qualifikation erwerben die Medienschaffenden entweder durch Learning-by-doing oder sie nehmen teil an Lehrgängen in eigenen Akademien. Die Idee des Kollektivs, das die gesamte Bewegung kennzeichnet, fördert den Austausch und zielt auf persönliche Weiterentwicklung.
In seinem Fazit bestätigt Schamberger dem kurdischen Mediennetzwerk das Potential der eingangs beschriebenen „Akteur-Struktur-Dynamik“: Es gibt eine Dialektik zwischen dem Handeln der Akteur:innen und den Strukturen, innerhalb derer und für die sie wirken. Beide bedingen und verändern sich. Ohne eine starke Struktur im Hintergrund – im Fall der kurdischen Freiheitsbewegung die Arbeiterpartei Kurdistans – gäbe es kein lebendiges Mediennetzwerk, das sich gegen staatliche Repression durchsetzen könnte. Während südkurdische Mediennetzwerke abhängig sind von der Finanzierung von (Regierungs-)Parteien wie PDK und YNK, ist bei den Medien der Freiheitsbewegung der gemeinsame Kitt die wirkmächtige Utopie einer konföderal organisierten Gesellschaft, wie sie Abdullah Öcalan entworfen hat.
Zum Schluss wirft Schamberger noch die Frage auf, wie der Aufbau alternativer Medien in anderen sozialen und politischen Bewegungen gelingen könnte. Ein entscheidender Punkt sei die Selbstorganisation der Ausbildung und eine gemeinsame Erzählung dessen, was durch journalistische Arbeit erreicht werden soll. Der Wunsch, im eigenen Wirken die gemeinsame Utopie vorwegzunehmen, biete die besten Voraussetzungen für eine gegen Anfeindungen resiliente Kultur des Widerstands. Dazu bedarf es einer breiten und von der Gesellschaft getragenen anti-systemischen Bewegung mit einem gemeinsamen Narrativ. In Deutschland fehle dies (noch). Ohne diese Basis jedoch haben es Medien jenseits des Mainstreams der Kapitalistischen Moderne schwer, Gehör zu finden und eine Transformation anzustoßen.
Schamberger widmet seine Dissertation seinem Freund, dem „Aktivisten und Wahrheitssuchenden“ Michael Panser (Bager Nûjiyan), der während der Feldforschung im Qendîl-Gebirge am 14. Dezember 2018 bei einem türkischen Luftangriff getötet wurde. Auch dies ist ein Zeichen von Parteinahme, ohne die eine Arbeit wie die vorliegende nicht hätte geschrieben werden können. Um die komplexen Strukturen der kurdischen Freiheitsbewegung zu verstehen, ist es unabdingbar, sich auf einen respektvollen Dialog auf Augenhöhe einzulassen.
Alle, die jetzt neugierig wurden, finden in Schambergers Arbeit eine Goldgrube an authentischem Material in den Porträts der Journalist:innen. Die daraus abgeleiteten Analysen bieten viele Anstöße zum Weiterdenken und -handeln. Schambergers Dissertation „Vom System zum Netzwerk – Medien, Politik und Journalismus in Kurdistan“ ist jetzt beim Westend-Verlag veröffentlicht und steht auch zum kostenlosen Download unter Creative-Commons-Lizenz zur Verfügung.