„Wir gehen zur Arbeit, und wenn wir vom Feld zurück ins Zelt kommen, wartet dort noch mehr Arbeit. Wir kriegen nachts keinen richtigen Schlaf. Selbst im Traum sehe ich Zwiebeln“, sagt Melek Temelci, die sich nach 13 Stunden Zwiebelernte jeden Tag um ihre kranken Geschwister kümmern und auch noch die restlichen in und um das Zelt anfallenden Arbeiten erledigen muss.
Melek Temelci arbeitet als Saisonarbeiterin bei der Zwiebelernte in Polatlı in der Nähe von Ankara. Morgens um fünf Uhr geht sie aufs Feld und arbeitet dort bis 18 Uhr. Eine halbe Stunde vor der Mittagspause ist sie am Zelt ihrer Familie, um das Essen für die anderen vorzubereiten. Sie erzählt: „Meine Eltern haben sich getrennt. Es bleiben also ich, meine fünf Geschwister und mein Vater. Heute bin ich, wie alle anderen Frauen, die hier auf dem Feld arbeiten, eine halbe Stunde früher zum Zelt gekommen, um Essen zu machen.“
Nach der Mittagspause brechen die Arbeiter*innen wieder zu den Feldern auf. Melek Temelci kümmert sich in der nach einem halben Tag auf dem Feld verbleibenden Zeit um die Arbeiten am Zelt und um ihre an Bronchitis erkrankten Geschwister.
Staubwolken und Sandstürme
Meistens bleibt Temelci erst Abends die Zeit, um sich um ihre Geschwister zu kümmern, deren Lage sie folgendermaßen beschreibt: „Sie sind chronisch krank und haben Atemprobleme. Wenn ich sie mit zum Feld nehme, macht ihnen der Staub zu schaffen und sie ziehen sich Infektionen zu. Wir haben Medikamente und einen Inhalator. Aber weil der Inhalator Strom braucht, muss ich zurück zum Zelt gehen und kann nicht weiterarbeiten, wenn sich ihr Zustand verschlechtert. Während der Saisonarbeit müssen wir immer wieder ins Krankenhaus. Der Staub setzt ihnen stark zu.“
Weil sie die Bedingungen auf dem Feld nicht vertrugen, ließ Melek Temelci ihre Geschwister vor einem Sandsturm vor zwölf Tagen oft am Zelt zurück. „Nach dem Sturm habe ich mich nicht mehr getraut, sie im Zelt zu lassen“, erzählt sie. „Vor Beginn des Sturms machten wir gerade Pause. Wir waren am Zelt und aßen. Plötzlich flog der aufgewirbelte Staub auf uns zu. Wir dachten erst, es sei Regen. Die Vorarbeiter riefen uns zu: ‚Los! Nehmt eure Kinder...‘ Wir hatten Angst und sind ins Auto geflüchtet. Die Zelte flogen umher, die Kinder weinten, wir hatten große Angst. Aber am meisten Angst hatte ich um die Gesundheit meiner Geschwister.“
Selbst im Traum überall Zwiebeln
Über ihre Arbeit auf dem Feld und am Zelt sagt Temelci: „Es ist harte Arbeit. Die Zwiebelernte ist wirklich harte Arbeit. Wir gehen aufs Feld, und wenn wir von der Arbeit zurück zum Zelt kommen, dann wartet da noch mehr Arbeit. Nachts können wir nicht gut schlafen und in den kalten Monaten bekommen wir manchmal gar keinen Schlaf. Und mit Kindern müssten wir uns noch mehr Sorgen wegen der Pandemie machen. Aber wir haben eigentlich gar keine Zeit, an das Virus oder etwas anderes zu denken. Immer Zwiebeln und noch mehr Zwiebeln. Selbst im Traum sehe ich Zwiebeln. Es ist sehr stressig. Und es ist nicht mal klar, wie hoch unser Lohn sein wird. Normalerweise bekommen wir 80 Lira, von denen nochmal 10 Lira an die Vorarbeiter gehen, sodass uns 70 Lira bleiben. Aber dieses Jahr arbeiten wir nach dem Preis pro Sack. Wenn die Ernte vorbei ist, werden die Preise bekannt gegeben, je nachdem, was der Markt hergibt. Die Höhe unseres Lohnes müssen wir akzeptieren. Ich gebe das Geld dann sowieso meinem Vater.“
Gegenseitige Hilfe unter Frauen
Melek Temelci erzählt, dass die Frauen bei der Arbeit untereinander solidarisch sind, aber keine über die in der Familie erfahrene psychische und physische Gewalt spricht. „Bei innerfamiliären Problemen können wir uns nicht einmischen. Ich habe nichts gesehen, aber man weiß ja nie, was in den Familien vorgeht. Gewalt gibt es auf jeden Fall. Wenn wir Frauen zusammenkommen, reden wir von unseren Schwierigkeiten hier. Wir backen zusammen Yufka-Brot und helfen uns dabei gegenseitig. Wir sprechen vor allem über die harten Arbeitsbedingungen.“