„Schlechte Sozialprognose“: Soydan Akay bleibt im Gefängnis

Der Kurde Soydan Akay wurde 1993 in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Eigentlich hätte er bereits entlassen werden sollen, wäre da nicht das türkische Feindstrafrecht. Trotz Ablauf der Haftstrafe wird seine Freilassung verweigert.

Seit ihrem Bestehen versucht die politische Führung der Türkei, ihre Macht zu erhalten und zu sichern, indem sie das Leben der Bevölkerung umfassend kontrolliert und lenkt. Sie geht mit einem reichhaltigen Repertoire an Mitteln der Verfolgung und Unterdrückung gegen all jene Menschen vor, die sie als Bedrohung ihrer Alleinherrschaft empfindet: Personen, die sich den türkisch-sunnitischen Nationalismus nicht aufdrängen lassen, sich in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder Bereichen außerhalb der staatlichen Strukturen engagieren oder sich in irgendeiner Weise „unangepasst“ verhalten. Insbesondere für kurdischstämmige Menschen gilt, dass auf nonkonformes Verhalten mal mehr, mal weniger im Sinne der „Aufstandsbekämpfung“ reagiert wird.

Zwar ändern sich die Formen der Machtausübung mit der Zeit und variieren zwischen teils tödlicher körperlicher Gewalt, der Aberkennung der Identität, Entrechtlichung in nahezu allen Lebensbereichen und weniger sichtbaren, vermeintlich weicheren Methoden zur Einschüchterung und Disziplinierung. Eine Gesellschaftsgruppe, deren Unterdrückung der Staat aber konstant brutal und entwürdigend hält, ist die der politischen Gefangenen. Haben sie dazu noch kurdische Wurzeln, geben sich die Herrschenden einen Freifahrtschein für ihre Abstrafung.

Mit 22 verhaftet und noch immer im Gefängnis

Einer der Betroffenen dieser strukturellen Unterdrückungspolitik ist Soydan Akay. Der 1971 in Gimgim (tr. Varto) bei Mûş geborene Kurde stand kurz vor seinem 22. Geburtstag, als er im August 1993 festgenommen wurde. Er lebte damals in der westtürkischen Küstenstadt Izmir und arbeitete in einem Buchladen. Daneben engagierte er sich für die Rechte der Kurd:innen, indem er sich an Demonstrationen beteiligte und Kulturveranstaltungen organisierte. Akay wurde verhaftet, schwer gefoltert und von einem sogenannten Staatssicherheitsgericht (DGM) unter dem Vorwurf, er sei der PKK-Verantwortliche für die Ägäis-Region, zu lebenslanger Haft verurteilt.

Soydan Akay in den frühen 2000er Jahren im Knast. Der heute 52-Jährige wird vom IHD in der Liste der schwerkranken Gefangenen geführt. In Haft erkrankte er unter anderem an Hepatitis, rheumatoider Arthritis und an Krebs. Eine angemessene Behandlung erhält er bis heute nicht. (c) privat

Nach Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen wurde Soydan Akay im April 2018 aus dem Hochsicherheitsgefängnis Maltepe im gleichnamigen Istanbuler Stadtteil in den Strafvollzugskomplex Marmara im weiter westlich gelegenen Silivri verlegt. Seitdem sind fast sechs Jahre vergangen, doch noch immer wird der 52-Jährige in strenger „Absonderung” von anderen Inhaftierten gehalten und 24 Stunden am Tag videoüberwacht. Ihm werden sportliche Aktivitäten und soziale Kontakte im Gefängnis untersagt, er erhält keine Zeitungen oder Zeitschriften und auch das von ihm in Haft verfasste Buch „Çöl Çiçekleri“ (dt. Wüstenblumen), in dem Akay die Geschichte der Juden von Anbeginn bis zum 19. Jahrhundert aus sozio-kultureller Sicht beleuchtet, werden ihm wegen „Sicherheitsbedenken” nicht ausgehändigt. All das auf Betreiben des türkischen Justizministeriums.

Im vergangenen August hatte Akay seine reguläre Haftzeit von dreißig Jahren eigentlich abgesessen. Doch die Behörden unterstellen ihm eine „schlechte Sozialprognose“ und verweigern ihm mittlerweile zum zweiten Mal trotz Vollendung seiner „Strafe“ die Entlassung. Wie bei politischen Gefangenen üblich, hängt die Freilassung von der Prognose eines Kontrollausschusses ab, der sich aus dem Strafvollzugspersonal zusammensetzt – und damit gravierende juristische Befugnisse übernimmt. Die Konsequenz: willkürliche Entscheidungen mit geradezu grotesken Begründungen, die das Konzept des antikurdischen Feindstrafrechts offenlegen.

Soydan Akays Rechtsanwältin Esra Bilen informierte am Montag auf einer Pressekonferenz in Istanbul über den Fall ihres Mandanten (c) ANF

Ausdruck der kafkaesken Realität der türkischen Justiz

Konkret begründet der Ausschuss die Verweigerung der Entlassung Akays laut Angaben seiner Rechtsanwältin Esra Bilen damit, dass er sich „von der Terrororganisation“ – gemeint ist die PKK – nicht „losgelöst“ habe. Als Beweis für diese Annahme listet das Gremium in seinem Bericht zahlreiche Gründe auf, die die kafkaeske Realität der türkischen Justiz reflektieren. Er habe es abgelehnt, ein Reuebekenntnis abzulegen und Briefkontakt zu Gefangenen gehabt, die wegen PKK-Mitgliedschaft verurteilt wurden. Um seine formellen Angelegenheiten kümmere sich eine Bevollmächtigte, gegen die ebenfalls wegen eines angeblichen Terrorverdachts ermittelt werde, und zu allem Übel hätte er sich aus der Gefängnisbibliothek „unangebrachte Bücher“ mit asozialen Inhalten ausgeliehen. Dieses nicht regelkonforme Verhalten deute darauf hin, dass Soydan Akay „allgemein in schlechter Absicht“ handele und er für eine „Wiedereingliederung in das soziale Gefüge der Gesellschaft“ nicht bereit sei.

Totalisolierter Gefangener soll Kontakt zur PKK haben

Laut Bilen habe die sogenannte Sozialprognose für Soydan Akay keine juristische Kraft. „Die Einschätzung, der habe sich von ‚der Organisation‘ nicht getrennt, ist im Hinblick auf die Tatsache, dass er seit mehr als drei Jahrzehnten inhaftiert ist und die letzten sechs Jahre vollkommen von seiner Außenwelt abgeschottet wird, mehr als absurd. Es steht im Widerspruch zum normalen Lauf der Dinge, dass mein in Einzelhaft festgehaltener Mandant, der permanent kontrolliert wird, dessen Anwaltsgespräche überwacht und aufgezeichnet werden und dessen Briefe, egal ob von ihm verfasst oder an ihn gerichtet, von einem ganzen Gremium gelesen werden, Kontakt zu einer Partei oder Organisation aufrechterhalten oder aufbauen kann. Die Sache ist eindeutig: die Freilassung von Soydan Akay wird auf Kosten der Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten verhindert.“

Nichte: Nicht nur die Gefangenen werden bestraft, sondern auch ihre Familien

Kıvılcım Akay, die Nichte von Soydan Akay, bezeichnet den Umgang der türkischen Justiz mit ihrem Onkel als Strafe für die gesamte Familie. Ihm werde das Recht auf ein Leben in Freiheit genommen, und den Angehörigen das Recht, ihre Hoffnung auf ein Beisammensein außerhalb der Gefängnismauern aufrecht zu erhalten. „Schicksale wie das von Soydan Akay beeinflussen das Leben einzelner Menschen unmittelbar und betreffen die Gesellschaft als Ganzes. Denn sie haben direkte Auswirkungen auf das Leben ihres Umfelds. Seine Mutter ist alt und schwerkrank. Sie kämpft für jeden Tag, um ihn vor dem Tod noch einmal in Freiheit zu sehen. Ich selbst war noch ein Kind, als mein Onkel verhaftet wurde. Mein ganzes Leben wurde geprägt vom Teufelskreis der Strafjustiz dieses Staates. Es fällt mir schwer einzugestehen, dass sich gewisse Dinge in diesem Land noch immer nicht ändern und sich die Lage sogar verschlechtert.“

Kıvılcım Akay (c) ANF

Die Entscheidung, ihrem Onkel die Freilassung zu verwehren, habe ihr Vertrauen in die Justiz zutiefst erschüttert, sagt Kıvılcım Akay. Freiheit und Gerechtigkeit seien funktionslos gemacht worden. Dies gelte aber nicht nur für Soydan Akay. „Es gibt unzählige politische Gefangene, die sich in derselben Situation wie er befinden. Sie werden als Geiseln betrachtet, als Spielball politischer Verhandlungen. Im Grunde erleben wir hier eine Politik des Zusammenbruchs. Die Geiselnahme von Menschen, gerade von kranken Gefangenen, für die eigene politische Agenda ist jenseits von moralischen und ethischen Vorstellungen. Es ist sehr ermattend zu sehen, dass es keine Veränderungen gibt. Doch dieser Umstand wird uns nicht zurückwerfen. Wir werden weiterhin an der Seite der Gefangenen stehen und ihre Rechte einfordern.“

Hunderte politische Gefangene werden nicht entlassen

In jüngerer Zeit sind viele politische Gefangene freigelassen worden, die in den frühen neunziger Jahren vor den mittlerweile abgeschafften Staatssicherheitsgerichten zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD stimmten Ausschüsse türkischer Vollzugsanstalten zwischen Januar 2021 und September 2023 in mindestens 313 Fällen mehr als einmal gegen die Entlassung von „Lebenslänglichen“, die ihre reguläre Strafdauer abgesessen hatten, und verschoben die Haftentlassungen um drei oder sechs Monate. Eine der gängigen Fragen, die der Ausschuss für seine Sozialprognose an die Betroffenen richtet, lautet: „Ist die PKK Ihrer Meinung nach eine Terrororganisation?“