IHD: AKP-Ideologie wird in ordentliches Gesetz überführt

Der IHD hat seine Menschenrechtsbilanz für das Jahr 2019 vorgestellt. Die Zahlen sind erschütternd und spiegeln wider, dass die Türkei ihre autokratische Ideologie ins ordentliche Gesetz überführt hat.

Anfang der Woche stellte der Menschenrechtsverein IHD in Ankara seine Menschenrechtsbilanz für das Jahr 2019 vor. Der Ko-Vorsitzende Öztürk Türkdoğan skizzierte das Entwicklungsschema der menschenrechtlichen Lage seit 2015 und äußerte, dass die Türkei längst ein autoritäres Regime sei. Demokratische Prinzipien wurden verdrängt, die AKP sei dabei, ihre autokratische Ideologie ins ordentliche Gesetz zu überführen, sagte Türkdoğan.

Im Sommer 2015 ließ die türkische Regierung den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung wieder aufflammen. Nach und nach wurden immer mehr kurdische Städte vom Militär belagert, Hunderttausende Menschen wurden zeitweise aus ihren Wohngebieten vertrieben – es kam zu Hunderten zivilen Opfern. Etliche Familien verloren ihr Wohneigentum infolge der massiven Zerstörung und teilweise Enteignung. In Sûr, der Altstadt von Amed (türk. Diyarbakir), Cizîr (Cizre) und Nisêbîn (Nusaybin) wurden ganze Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht, in den sogenannten „Todeskellern“ verbrannten Hunderte Menschen bei lebendigem Leib.

In der Folge des nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustands schaltete die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dirigierte Türkei schließlich die Opposition aus. Es kam zu Massenverhaftungen und Massenentlassungen von Staatsbediensteten, das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde ausgehebelt. Kritische Journalisten und Menschenrechtsverteidiger, gewählte Bürgermeister und oppositionelle Politiker wurden ins Gefängnis gesteckt. Demonstrationen wurden verboten und exzessive Polizeigewalt gegen Personen, die sich dem Demonstrationsverbot widersetzten, wurde per Notstandsdekret legitimiert. Dieser Zustand hält auch heute an. Das Militär und die Polizei gehen in den kurdischen Gebieten weiterhin ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vor und auch die Rechte von LGBTI-Personen und Flüchtlingen werden systematisch verletzt. Mit der türkischen Invasion in Rojava, der Rolle der Türkei in anderen Konfliktgegenden Syriens sowie in Libyen verschärft sich die Menschenrechtssituation zusätzlich.

Der IHD stellt folgende Konsequenzen für die Bevölkerung fest:

Todesfälle / extralegale Hinrichtungen

*Infolge der Lynchjustiz türkischer Polizeikräfte, der Nichteinhaltung eines Haltebefehls oder willkürlich abgegebenen Schüssen wurden neun Menschen getötet, 16 weitere verletzt. Acht Personen wurden Opfer sogenannten „Morden unbekannter Täter“.

Bei bewaffneten Auseinandersetzungen kamen mindestens 440 Menschen ums Leben. Bei mindestens 98 handelte es sich um Sicherheitskräfte (Soldaten, Polizisten und Dorfschützer), 324 waren demnach „Militante“ und 18 weitere Zivilisten.

*Drei Personen, darunter ein Kind, wurden von gepanzerten Fahrzeugen türkischer Sicherheitskräfte tödlich verletzt, zwei Minderjährige überlebten. Ebenfalls drei Personen, davon zwei minderjährig, starben durch die Detonation von Minen oder zurückgelassener Munition. Fünf Menschen, zwei von ihnen unter 18 Jahren, wurden durch diese Art von Explosionen verletzt.

Wegen Fahrlässigkeit oder Fehlverhalten kamen im vergangenen Jahr 81 Menschen durch Ertrinken in Seen und Teichen oder bei Hochwasser ums Leben, 32 der Opfer waren Kinder. 28 weitere Menschen wurden verletzt, bei elf handelte es sich um Minderjährige.

*Durch Krankheiten, Suizid, Gewalt u.a. starben in den Gefängnissen der Türkei mindestens 69 Insassen, vier wurden verletzt. 17 Wehrpflichte der türkischen Armee kamen unter fragwürdigen Umständen ums Leben. Fünf von ihnen wurden verletzt.

*Nach Berichten aus gewerkschaftlich erfassten oder medial veröffentlichten tödlichen Arbeitsunfällen des Verbands für Arbeitsplatzsicherheit (İşçi Sağlığı ve İş Güvenliği, İSİG) starben 2019 in der Türkei mindestens 1736 Menschen bei der Arbeit.

Folter und schlechte Behandlung

*Die Zahl der Menschen, die angaben, in Polizeigewahrsam oder anderen Orten von Sicherheitskräften gefoltert worden zu sein, beträgt 1477.

*Insgesamt 1344 Demonstrationen, Proteste oder Mahnwachen wurden zum Ziel von Übergriffen. 3935 Menschen gaben an, dabei Opfer von Gewalt oder schlechter Behandlung geworden zu sein.

*2019 wurden sieben Entführungsfälle festgestellt. Die Angehörigen von sechs Opfern wandten sich an den IHD. In fünf Fällen wurde Beschwerde bei der UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen eingereicht, das Schicksal einer Person ist weiterhin ungeklärt. Im Fall der wiederaufgefundenen Personen konnte festgestellt werden, dass sie Opfer von Folter und schlechter Behandlung geworden waren.

*Bei den Zweigstellen des IHD wurden im Jahr 2019 insgesamt 71 Fälle von Agentenanwerbung angezeigt. Medial wurde von 66 weiteren Fällen berichtet.

Rechtsverstöße stehen im Zusammenhang mit der kurdischen Frage

Nach Angaben von Türkdoğan stünde der Großteil der Rechtsverstöße im Zusammenhang mit der ungelösten kurdischen Frage. Hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten stellte der IHD fest:

*Das Dokumentationszentrum der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) ermittelte im Zeitraum vom 16. August 2015 bis zum 1. Januar 2020 in elf Städten und 51 Bezirken mindestens 381 erteilte Ausgangssperren.

*Die Methode von Vandalismus und Grabschändung auf Friedhöfen, auf denen die Leichname von Guerillakämpfer*innen und Mitgliedern anderer bewaffneter Organisationen begraben sind, setzte sich auch im vergangenen Jahr fort.

*61 bei der Kommunalwahl am 31. März 2019 gewählten Bürgermeister*innen sowie Provinzrats- und Stadtratsmitgliedern verweigerte der Wahlausschuss die Anerkennung der Wahl, weil sie zuvor im Rahmen eines Notstanddekrets aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Fünf Bezirksratsmitglieder der HDP sowie zwei Provinzverordnete wurden unmittelbar nach der Wahl verhaftet.

*Am 19. August 2019 wurden auf Anordnung des türkischen Innenministeriums die Oberbürgermeister*innen der Großstädte Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) abgesetzt. Das Bürgermeisteramt in allen drei Metropolen wurde den Gouverneuren zugesprochen, die seitdem als staatliche Treuhänder die kommunalen Geschicke verwalten.

*2019 marschierte die Türkei ein weiteres Mal in Nord- und Ostsyrien ein. Amnesty International hat Ankara seitdem mehrfach Kriegsverbrechen vorgeworfen. In einem Bericht vom 1. November warf die Menschenrechtsorganisation der türkischen Regierung zudem vor, „die Offensive als Vorwand“ zu nutzen, „um massiv gegen Kritiker ihrer Politik vorzugehen“.

Meinungsfreiheit

*Laut einem Bericht der Plattform „Solidarität mit den gefangenen Journalisten“ (Tutuklu Gazetecilerle Dayanışma Platformu, TGDP) vom 20. Januar dieses Jahres befanden sich 2019 insgesamt 197 Medienschaffende, also Journalisten, Korrespondenten, Zeitungseigner und Redakteure, im Gefängnis.

*Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) liegt die Türkei aktuell auf Platz 154 von insgesamt 180 verfügbaren Plätzen. 2002 tauchte das Land im Weltindex für Pressefreiheit noch auf dem 99. Platz auf.

*2019 wurden 8803 Personen, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung und Demonstrationsfreiheit Gebrauch machten (unter anderem auch in den sozialen Medien), festgenommen und strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. 831 dieser Personen wurden verhaftet.

*Sieben frühere Parlamentsabgeordnete und 17 Bürgermeister*innen befinden sich weiterhin im Gefängnis.

*21 Menschen wurden Opfer von rassistischer Gewalt. Der 19-jährige Saisonarbeiter Şirin Tosun wurde im August in Adapazari in der türkischen Provinz Sakarya von einer sechsköpfigen Gruppe gelyncht und anschließend erschossen, weil er Kurdisch gesprochen hatte. Ende 2018 waren in Sakarya bereits Kadir Sakçı (43) und sein 16-jähriger Sohn Burhan aus demselben Grund mit einer Schusswaffe angegriffen worden. Der Vater starb, der Sohn wurde schwer verletzt. 

*Zahlreiche Menschen sind derzeit akut mit Haft bedroht. Unter ihnen befindet sich auch die Ko-Vorsitzende des IHD Eren Keskin, die aufgrund ihres jahrzehntelangen Einsatzes für die Menschenrechte und ihren journalistischen Tätigkeiten bereits zu Geldstrafen in sechsstelliger Höhe und langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurde.

Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit

Obwohl die Türkei den Ausnahmezustand am 19. Juli 2018 nach zwei Jahren aufgehoben hat, wird das Land de facto per Notstandsgesetz regiert. Dies hat zur Folge, dass Menschenrechtsverletzungen wie unfaire Gerichtsverfahren, Diskriminierung von Frauen, LGBTI-Personen, Flüchtlingen und religiösen Minderheiten sowie die Unterdrückung von Kritik und Protesten gegen diese Willkür den Alltag der Menschen bestimmen. Zahlreiche Veranstaltungen wurden verboten. Diese Verfügungen reichen von Seminaren zu Umweltschäden und gesundheitlichen Auswirkungen durch geothermische Kraftwerke über Schüler-, Studenten- und Naturfestivals bis hin zu LGBTI-Veranstaltungen wie den Gay-Pride-Paraden.

*Nach den Daten des IHD-Dokumentationszentrums wurden 2019 mindestens 24 Pressekonferenzen, 13 Demonstrationen, drei Kundgebungen, zwei Festivals und ein Parteikongress verboten. Durch Provinzgouverneure und vereinzelt auch durch Landräte wurden mindestens 96 Aktivitätsverbote für eine Dauer von mindestens zwei Tagen bis maximal einen Monat erteilt. In der kurdischen Provinz Wan herrscht seit 1263 Tagen der Ausnahmezustand. Jegliche Aktivität, ob politisch, sozial oder kulturell, ist verboten. In der benachbarten Provinz Colemêrg (Hakkari) dauert dieser Zustand seit mittlerweile 255 Tagen an.

*Bei den im vergangenen Jahr von Sicherheitskräften angegriffenen 1344 Demonstrationen, Proteste oder Mahnwachen wurden mindestens 69 Menschen ernsthaft verletzt. 3741 Demonstranten wurden festgenommen, 35 von ihnen verhaftet. Weitere 15 Personen wurden unter Hausarrest gestellt, gegen 120 Menschen wurden Meldeauflagen erteilt.

Gewalt gegen Frauen

Vor allem die Frauenrechtslage in der Türkei ist prekär, insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wurde wieder massiv verletzt. 2019 wurden nach IHD-Informationen mindestens 431 Frauen durch patriarchale Gewalt getötet (laut KCDP mindestens 474), weitere 359 Frauen wurden verletzt. Mindestens 499 Frauen wurden Opfer von Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch, weitere 726 Frauen wurden Opfer von Körperverletzung. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um die medial erfassten und vom IHD zusammengetragenen Daten. „Da selbst die Regierung von ‚Zehntausenden‘ Frauen spricht, die Opfer von versuchter und vollendeter Gewalt werden, ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer der Femizide weit höher liegt, als von uns recherchiert“, sagte Türkdoğan.