Seit das neue Justizreformgesetz in der Türkei vor einer Woche im türkischen Gesetzblatt „Resmi Gazete“ verkündet wurde, sind bereits Tausende Straf- und Untersuchungsgefangene aus der Haft entlassen worden. Bis Ende Mai sollen es mindestens 90.000 werden. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan hatte die Reform, die politische Gefangene und Inhaftierte unter Terrorvorwürfen explizit vom Straferlass ausschließt, zynisch als Ausdruck staatlicher Bemühung um Gerechtigkeit bezeichnet. Er glaube, dass die von der Reform profitierenden Bürger den Staat und die Gesellschaft nicht enttäuschen werden, sagte Erdoğan in einer an die vom Straferlass betroffenen Häftlinge gerichteten Fernsehansprache.
Seit die ersten Kriminellen am vergangenen Mittwoch die Gefängnisse verließen und mit von der Regierung organisierten Bussen in die Freiheit chauffiert wurden, gibt es nahezu täglich Meldungen über neue Straftaten, die von den frisch Entlassenen begangen werden. In Izmir erschoss ein Mann nur drei Tage nach seiner Haftentlassung einen zweifachen Familienvater, in Bazîd (Doğubayazıt, Provinz Agirî/Ağrı) wurde ein wegen Gewalt an seiner Frau und seiner Tochter verurteilter Mann tot aufgefunden, nachdem er zuvor den Onkel seiner Frau niedergestochen hatte.
Die Demokratische Partei der Völker (HDP) bezeichnet die offiziell wegen der Corona-Gefahr in den Gefängnissen verabschiedete, jedoch bereits lange vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie geplante Justizreform als Freifahrtsschein, um über Leben und Tod zu entscheiden. Das Vollzugsgesetz sei kein Gesetz, da es den Grundsätzen der Gleichheit widerspreche und internationale Konventionen mit Füßen trete. Es sei nichts weiter als eine Amnestie für Regimeunterstützer. Die Republikanische Volkspartei (CHP) zieht gegen den Straferlass vor das Verfassungsgericht und lässt das Gesetz prüfen, weil keine politischen Gefangenen freikommen. Auf diese wirkt sich die Reform gleich mehrfach negativ aus: einerseits bleiben sie weiterhin zu Unrecht in Haft, wo sie dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert sind, und andererseits werden sie aufgrund unbesetzter Gefängnisküchen und -bäckereien unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt.
Die Arbeitsplätze in türkischen Gefängnissen werden ausschließlich mit Kriminellen besetzt, politische Gefangene dürfen nicht „Hausarbeiter“ werden. Aktuell hat die Regelung zur Folge, dass in vielen Gefängnissen die ohnehin ungenießbaren Mahlzeiten gänzlich ausbleiben. Im F-Typ-Gefängnis Nr. 1 in Kandıra (Provinz Kocaeli) fand sogar seit Mittwoch ganze drei Tage keine Essensausgabe statt. Stattdessen wurden nur Instantsuppen ausgegeben. Das machten Angehörige der früheren Ko-Bürgermeisterin der nordkurdischen Stadt Dersim, Nurhayat Altun (DBP), die Ende 2016 des Amtes enthoben und vor einem Jahr wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, öffentlich. Im Hochsicherheitsgefängnis von Kandıra befinden sich noch weitere prominente HDP/DBP-Politikerinnen in Haft, darunter die frühere Parlamentsabgeordnete und HDP-Vorsitzende Figen Yüksekdağ, die ehemalige Oberbürgermeisterin von Amed (Diyarbakir), Gültan Kışanak, die frühere DBP-Vorsitzende Sebahat Tuncel und die Rechtsanwältin Aysel Tuğluk, die ebenfalls bereits als Abgeordnete im türkischen Parlament saß.
Nurhayat Altun (links)
„Nurhayat und alle anderen politischen Gefangenen in Kandıra werden im Prinzip isoliert. Sie dürfen die Gemeinschaftszellen jeweils nur einmal wöchentlich für einen zwanzigminütigen Telefonkontakt verlassen. Kontakte zu den Gefangenen aus anderen Zellen oder die Möglichkeit einer allgemeinen Informationsbeschaffung gibt es nicht“, erklärte Bezar Yıldırım, eine Schwester von Nurhayat Altun. Yıldırım äußerte sich zudem äußerst besorgt über die Gesundheit von Altun, die unter Bluthochdruck leide, und der restlichen Gefangenen. „Wir haben erfahren, dass das Coronavirus im Gefängnis bereits angekommen ist. Sollte dem so sein, wird es sich wie ein Waldbrand ausbreiten und für ein Massensterben sorgen. Alleinige Verantwortliche ist die Regierung“, sagte Yıldırım.