775 Anwälte stellen Besuchsantrag für Imrali

Seit 2019 ist ein Verbot von Anwaltsbesuchen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali, wo Abdullah Öcalan und drei Mitgefangene in Totalisolation festgehalten werden, in Kraft. Nun haben 775 Jurist:innen zeitgleich einen Besuchsantrag gestellt.

Das Isolationssystem auf Imrali gilt der kurdischen Gesellschaft als Prototyp für das juristische und politische System der Türkei. Auf der Insel im Marmarameer befindet sich ein eigens für den PKK-Begründer Abdullah Öcalan eingerichtetes Hochsicherheitsregime. Die dort jenseits der Grenzen des geltenden Rechts angewandten „Öcalan-Gesetze“ und die Absonderung von der Außenwelt haben schon längst unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft – ob draußen oder hinter Gefängnismauern. Seit 2019 gilt auf Imrali wieder ein striktes Anwaltsverbot, der letzte Besuch des Verteidigungsteams von Öcalan hatte am 7. August 2019 stattgefunden. Seine drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş haben seit ihrer Verlegung nach Imrali vor sieben Jahren noch nie mit ihrem Rechtsbeistand sprechen können. Als juristische Ummantelung für das Unrecht auf der Insel dienen der türkischen Justiz willkürlich verhängte „Disziplinarstrafen“ gegen die Imrali-Gefangenen.

Das Verbot von Anwaltsbesuchen im Imrali-Gefängnis verstößt offen gegen die 2015 aktualisierten Standard-Mindestregeln der Vereinten Nationen (UN) für die Behandlung von Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln), gegen die Empfehlungen des Antifolterkomitees des Europarats (CPT) und gegen das türkische Vollzugsgesetz (Gesetz Nr. 5275). Staaten sind verpflichtet, die Ausübung der Rechte von Gefangenen und Verurteilten ohne Rücksicht auf ihre Identität oder die Qualität ihrer Strafe zu gewährleisten. Doch die türkische Justiz ist nicht gewillt, die menschenverachtenden Haftbedingungen auf Imrali zu korrigieren und hält an einer Behandlung nach Feindstrafrecht fest. Wurden Besuche des Rechtsbeistands in der Vergangenheit unter dem Vorwand widriger Wetterbedingungen oder eines Defekts der für die Überfahrt nach Imrali vorgesehenen Fähre verhindert, werden die Besuchsanträge seit Jahren aufgrund vermeintlicher Disziplinarmaßnahmen zurückgewiesen.

Anwält:innen von 29 Kammern stellen Antrag

Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte von Abdullah Öcalan unternehmen immer wieder neue Anläufe, um das Recht der auf Imrali isolierten Gefangenen durchzusetzen. Sie stellten Dringlichkeitsanträge beim Justizministerium, der Generaldirektion für Strafvollzug und Haft und der Abteilung für Menschenrechte auf eine „sofortige Besuchserlaubnis“, wendeten sich mehrmals ans CPT und andere einschlägige Organisationen und mobilisierten internationale juristische Vereinigungen. Nun wurde ein neuer Versuch umgesetzt, die Isolation auf Imrali zu durchbrechen und Kontakt zu den Gefangenen herzustellen. Insgesamt 775 Anwältinnen und Anwälte haben bei der Generalstaatsanwaltschaft Bursa als zuständige Behörde für Imrali einen Besuchsantrag für Abdullah Öcalan, Veysi Aktaş, Hamili Yıldırım und Ömer Hayri Konar eingereicht. Das gab die Juristin Ekin Yeter von der Vereinigung ÖHD am Freitag im Rahmen einer Pressekonferenz in Amed (tr. Diyarbakır) bekannt. Laut Yeter gehören die Antragstellenden 29 verschiedenen Kammern an, darunter den Verbänden in Wan, Riha (Urfa), Êlih (Batman) und Mêrdîn (Mardin), aber auch Istanbul und Mersin. Gefordert wird ein Besuch auf der Insel bis spätestens zum 17. Juni. Eine Antwort der Behörde steht noch aus.


IHD: Ende der Isolation unabdingbar für Lösung der kurdischen Frage

„Seit der Etablierung des Vollzugssystems auf Imrali setzen wir uns für die Schließung der Hafteinrichtung ein. Auf der Insel ist Folter, Unmenschlichkeit und Misshandlung institutionalisiert worden. Wir unterstützen die Initiative des ÖHD und fordern sofortigen anwaltlichen Kontakt zu den Imrali-Gefangenen“, sagte Öztürk Türkdoğan, Ko-Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD. „Die Aufhebung der Isolation auf Imrali ist unabdingbar für die Lösung der kurdischen Frage und neuen Friedensverhandlungen. Wir hoffen, dass diese Regierung sich dieser Tatsache stellt und einen Schritt hin zu positiven Veränderungen und Frieden setzt“, führte Türkdoğan weiter aus.

Bünyamin Şeker: Anwaltsverbot seit einem Jahrzehnt in Kraft

Der ÖHD-Vorsitzende Bünyamin Şeker wies darauf hin, dass das Anwaltsverbot auf Imrali faktisch seit mehr als einem Jahrzehnt existiere, und zeichnete einen kurzen Umriss der politischen Situation von damals. Abdullah Öcalan ist 1999 von internationalen Kräften in Kenia entführt und an die Türkei ausgeliefert worden. Seitdem wird er im Hochsicherheitsgefängnis Imrali in Isolationshaft festgehalten. Bei einem Gespräch mit seinem Rechtsbeistand hatte er am 27. Juli 2011 mit Blick auf die von Seiten der türkischen Regierung verweigerte Lösung der kurdischen Frage erklärt, das Ende seiner Handlungsfähigkeit sei erreicht. Die türkischen Behörden reagierten darauf, indem Öcalans Rechtsbeistand keine Besuche mehr gestattet wurden. Erst im Mai 2019 – nach knapp achtjähriger Verweigerung – wurden persönliche Kontakte der Anwält:innen zu ihrem Mandanten wieder ermöglicht; erkämpft von einer von der kurdischen Politikerin Leyla Güven angeführten Hungerstreikbewegung politischer Gefangener. Seit dem letzten Anwaltsbesuch bei Öcalan am 7. August 2019 haben die türkischen Behörden auf fast gar keinen der kontinuierlich gestellten Besuchsanträge reagiert. Seit fünfzehn Monaten gibt es keinerlei Kontakt zur Insel, da das Verbot auch die Angehörigen der Imrali-Gefangenen betrifft. Der letzte Familienbesuch auf der Insel wurde im März 2020 abgesegnet. Genau ein Jahr später kam – bedingt durch eine internationale Protestwelle gegen die Isolation – ein Telefongespräch zwischen Abdullah Öcalan und seinem Bruder zustande, das nach wenigen Minuten wieder abgebrochen wurde.

Sternmarsch auf Gemlik am Sonntag

„Seitdem sind fünfzehn Monate vergangen“, sagte Zeki Baran, Ko-Vorsitzender der Gefangenenhilfsorganisation MED TUHAD-FED, und würdigte die Initiative der 775 Anwältinnen und Anwälte als wegweisenden Schritt im Kampf für Gerechtigkeit des kurdischen Volkes. Baran warf einen Blick auf die Auswirkungen des Imrali-Systems auf andere Bereiche des Lebens in der Türkei und erklärte, dass die Dialektik auf der Insel das Handlungsmuster der Politik bestimmen würde. Die gesamte Gesellschaft sei „gefangen in der Isolation“, die ein Spiegelbild der spaltenden und polarisierenden Politik des Regierungsbündnisses aus AKP und MHP sei. „Um diese allumgreifende Isolation zu durchbrechen, veranstaltet die kurdische Zivilgesellschaft zusammen mit politischen Parteien am kommenden Sonntag wieder einen Marsch auf Gemlik. Frieden und Freiheit werden nicht von allein in dieses Land kommen. Wir müssen kämpfen, um der Gesellschaft aufzuzeigen, dass eine andere Welt möglich ist“, sagte Baran und rief die Öffentlichkeit zur Teilnahme an der Demonstration in die Hafenstadt auf, die vor Imrali liegt.