Karasu: Das kurdische Volk muss sich angesichts der Angriffe erheben

Mustafa Karasu (KCK) ruft das kurdische Volk auf, sich angesichts der Chemiewaffenangriffe gegen die Guerilla zu erheben. Die Haltung der PDK im Kontext der Invasion in Südkurdistan bezeichnet Karasu als größte historische Schande der Geschichte.

Mustafa Karasu, Mitglied im Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat sich in einem Interview im Fernsehsender Medya Haber über die Isolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, die türkischen Chemiewaffenangriffe und die derzeitige Kriegssituation geäußert.


Karasu erklärt zur Situation von Öcalan: „Auch wenn es in Imrali im Rahmen des Spezialkriegs von Zeit zu Zeit Besuche gegeben hat, und auch wenn die Regierung auf Druck unseres Kampfes hin in der Vergangenheit sporadisch Gespräche geführt hat, dauert die Isolation auf der Insel nun schon fast 24 Jahre an. Seit 2011 werden keine Anwaltsbesuche mehr zugelassen. Auch mit seiner Familie durfte sich Rêber Apo [Abdullah Öcalan] nicht treffen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Es ist nicht bekannt, was in Imrali in den letzten zwei Jahren vor sich gegangen ist. Aber wir wissen eines: Rêber Apo vertritt auf Imrali die freiheitliche und demokratische Haltung des kurdischen Volkes. Er zeigt die für einen Repräsentanten eines Volkes notwendige Haltung. Aus diesem Grund haben der türkische Staat und das derzeit herrschende faschistische AKP/MHP-Regime ein schweres Isolationsregime über ihn verhängt.

Der Grund für diese verschärfte Isolation ist ihre Politik gegenüber dem kurdischen Volk. Weil der türkische Staat eine Genozidpolitik am kurdischen Volk betreibt, weil er die kurdische Freiheitsbewegung liquidieren will, wird auch Rêber Apo isoliert. Die Haltung ihm gegenüber entspricht der Haltung gegenüber den Kurd:innen und ihrer Freiheitsbewegung. Wie der türkische Staat an die kurdische Frage herangeht, wird deutlich, wenn wir uns die Isolation auf Imralı und ihr Ausmaß ansehen.“

Karasu spricht von einer großen Wut des türkischen Staates, der Rache an Abdullah Öcalan übe, weil er das kurdische Volk seiner selbst bewusst gemacht habe: „Denn der Kampf des kurdischen Volkes für Freiheit und Demokratie stellt im Moment das größte Problem für den türkischen Staat dar. Dieser Kampf ist eine Realität, die mit dem Denken von Rêber Apo und seiner Führungskraft geschaffen wurde. Während der türkische Staat dagegen ankämpft, besteht seine einzige Politik darin, diesen Kampf, das Bewusstsein, die Organisation, das Ziel und das Engagement dieses Volkes zu zerschlagen. In diesem Sinne wird die Isolation gegen Rêber Apo praktiziert. Er mag zwar physisch isoliert sein, aber als Führungspersönlichkeit kann er nicht isoliert werden. Die Isolation einer solchen Führungskraft ist unmöglich und kann auch nicht umgesetzt werden.“

Eine Ideologie zur Überwindung der kapitalistischen Moderne geschaffen“

Karasu unterstreicht, dass das Denken Öcalans heute weit über den Nahen Osten ausstrahlt und weltweit bei den Unterdrückten eine Wirkung entfalte. Dies sei der Kern seiner Führungsrolle: „Es handelt sich im Wesentlichen um das Weisen eines Wegs für das Denken und die Mentalität. Dies ist der wichtigste Aspekt der Rolle von Rêber Apo. Ein weiterer betrifft direkt das kurdische Volk. Das kurdische Volk schöpft Kraft aus seinen Gedanken. Wir können auch sagen, dass Rêber Apo jemand ist, der Lösungen für die Probleme der Welt entwickelt und diese vorschlägt. Solche wegweisenden Persönlichkeiten haben in der Geschichte Lösungen für die Probleme der Völker entwickelt und die Geschichte verändert. So sind Propheten in der alten Geschichte in sehr unruhigen Zeiten, in Zeiten sozialer, politischer, kultureller und ökonomischer Probleme erschienen. Sie haben sich natürlich mit der Lösung der Probleme ihrer Zeit befasst und diese zu lösen versucht. Heute kann die Menschheit unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne kaum noch atmen. Es herrscht größte Ausbeutung. Die Gesellschaftlichkeit, welche die Existenz des Menschen ausmacht, wurde zerstört.

Die Auflöschung des Sozialen bedeutet Verfall, Korruption und Entmenschlichung. In einer solchen Welt zeigt Rêber Apo mit seinen Ideen einen Ausweg zur Befreiung. Es gibt keine andere Politik, keine andere Ideologie, die eine Lösung für die Probleme der Menschheit finden kann.

Der Marxismus konnte die kapitalistische Moderne nicht überwinden“

Ja, in der Vergangenheit, vor 150 Jahren, waren die Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels eine große Hoffnung, ein großes Licht für die Menschheit. Die Menschheit hat sich um diese Gedanken geschart und für Freiheit und Demokratie gekämpft. Aber 150 Jahre später wurde das Produkt dieser Ideen von den Kräften der kapitalistischen Moderne aufgelöst. Das lag jedoch vor allem an den eigenen Unzulänglichkeiten. Denn man war nicht in der Lage, eine wirkliche Lösung für die Probleme der Menschheit zu finden. Jetzt braucht die Menschheit eine Ideologie der Befreiung, sie braucht eine Linie, welche der Menschheit einen Weg aufzeigt.“

Der Kampf für die Freiheit von Rêber Apo wird ein Kampf für das Ende der kapitalistischen Moderne“

Karasu weist auf die Linie der Frauenbefreiung hin und erinnert an 5.000 Jahre Ausbeutung, Leid und Unterdrückung durch das patriarchale staatliche System. Demgegenüber entwickelte Abdullah Öcalan das Konzept des demokratischen Konföderalismus. Darüber hinaus umfasse der demokratische Konföderalismus auch Lösungsvorschläge für weitere Menschheitsprobleme, so Karasu: „Rêber Apo entwickelte die theoretische Grundlage für einen wirklich tiefgreifenden ökologischen Ansatz gegenüber dem industriellen System und den Angriffen auf die Natur. Er hat eine Theorie für die Befreiung der Menschheit und der Natur in all ihren Wesenseigenschaften geschaffen. Aus diesem Grund wird sie von den Völkern und der Menschheit angenommen. Das muss wahrgenommen werden. Die Tatsache, dass Frauen so massiv für Rêber Apo eintreten, ist vor allem darin zu finden, dass durch ihn eine ideologisch-theoretische Grundlage für die Linie der Frauenbefreiung geschaffen wurde. Durch seine Ideen wurde die Linie der Frauenbefreiung von einem reaktiven Kampf gegen das Patriarchat in einen Kampf für Freiheit und Rechte und zur Schaffung eines freien Frauensystems auf einer ideologisch-theoretischen Grundlage verwandelt. Auf der ganzen Welt wird bereits für die Freiheit von Rêber Apo gekämpft. Der Kampf für seine Freiheit wird sich allmählich in einen Kampf zur Garantie seiner Freiheit verwandeln. Er wird sich ausweiten und zu einem Kampf der Völker zur Beseitigung der kapitalistischen Moderne werden.“

Europa praktiziert eine Interessenpolitik“

Karasu kritisiert das Europäische Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT): „Es heißt, diese Institution wurde gegründet, um gegen Folter vorzugehen. Aber es gibt auch die Realität einer Türkei, die der EU beitreten möchte. Die EU unterhält alle möglichen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur Türkei. Sie hat in diesem Sinne eigene Interessen. Deshalb verschließen die Europäische Union und der Europarat die Augen vor allen Arten der Unterdrückung der Türkei, nicht nur in Bezug auf Imrali, sondern auch in vielen anderen Fragen. Ein Europa, das die Augen vor dem Völkermord an den Kurd:innen verschließt und den türkischen Staat auf jede erdenkliche Weise unterstützt, wird natürlich auch über die Repression auf Imrali schweigen. Rêber Apo sagte, dass er bereits bei seiner Ankunft auf Imrali zum ersten Mal mit dem CTP zusammentraf. Er erklärte, dass das Imrali-System von Europa, von Kräften des internationalen Komplotts, eingerichtet wurde und dass der Türkei die Aufgabe der Verwaltung übertragen wurde. In dieser Hinsicht verhalten sich das CPT und die Europäische Union heuchlerisch. Man spricht von Demokratie und Menschenrechten. Aber wenn es um die kurdische Frage geht, wenn es um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen geht, werden die eigenen Werte vergessen und mit Füßen getreten. In dieser Hinsicht sind die Haltung, das Selbstverständnis und die Werte des CPT und des Europarats vor allem von ihren Interessen beherrscht. Wenn diese Interessen bedroht sind, werden die Werte einfach vergessen. Diese Aussage habe ich bereits bei verschiedenen Gelegenheiten in Interviews gemacht. Zu seiner Amtszeit hat der britische Premier Tony Blair offen eingeräumt, dass man überall auf der Welt eine Politik nach den eigenen Grundsätzen, der Moral und den Maßstäben führe. Wenn es jedoch um den Nahen Osten gehe, könne man das nicht tun. Das heißt, wenn es um den Nahen Osten oder die kurdische Frage geht, werden die europäischen Werte, die Menschenrechte und das Völkerrecht beiseite geschoben. Das ist eine Schande für Europa.

EU verschließt die Augen vor dem Genozid am kurdischen Volk“

Karasu beschreibt die historische Dimension der Vernichtungspolitik gegenüber Kurdistan und spricht vom Abkommen von Lausanne, mit dem die Aufteilung von Kurdistan beschlossen wurde. Dem türkischen Staat sei die Verübung eines Genozids am kurdischen Volk erlaubt worden. Dies habe historische Konsequenzen gehabt: „Wenn der türkische Staat vom zwanzigsten Jahrhundert bis heute eine Politik des Völkermords am kurdischen Volk betreibt, so ist dies das Ergebnis der damals getroffenen Vereinbarungen. Diese Vereinbarungen gelten immer noch. Europa erfüllt nach wie vor die Anforderungen dieses Abkommens und verschließt die Augen vor dem Völkermord.“

Europa hat dem türkischen Staat Schlupflöcher gezeigt“

In diesem Sinne sei auch die Haltung des CPT zu verstehen, so Karasu und geht auf die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum „Recht auf Hoffnung“ ein, nachdem Gefangene eine Perspektive auf Freiheit haben müssen: „Es hat sich herausgestellt, dass der Europarat und seine Organisationen, die mit dem Recht auf Hoffnung befasst sind, die Türkei während der Diskussionen über das Recht auf Hoffnung beraten haben. Sie haben dem türkischen Staat erklärt, wie das Recht gestaltet werden könne, damit Abdullah Öcalan nicht freigelassen werden muss. Sie haben dem türkischen Staat auf schändliche Weise den Weg gewiesen. Der türkische Staat hat sich diese Orientierungshilfe und Lücke zunutze gemacht und Europa mitgeteilt, dass es kein Recht auf Hoffnung für Rêber Apo geben kann. So hat sich das wahre Gesicht der europäischen Institutionen gezeigt.“

Die Region wird vom türkischen Staat dem Erdboden gleichgemacht“

Karasu kommentiert in dem Interview auch die aktuellen Kriegsentwicklungen und den Einsatz von chemischen Waffen: „Die Angriffe des türkischen Staates sind ein Vielfaches stärker als die russischen Angriffe im Moment auf die Ukraine. Es findet jede Sekunde ein Angriff statt. In jeder Minute rund um die Uhr herrscht Krieg und wird angegriffen. Wenn das so weiter geht, wird der türkische Staat die ganze Region dem Erdboden gleichmachen. Das ist die Lage. In diesem Krieg werden auch chemische Waffen eingesetzt, aber dagegen gibt es seit sechs Monaten großen, mutigen Widerstand. Das tun all unsere Genoss:innen dort. Sie leisten aufopferungsvollen Widerstand wie Sara Tolhildan und Rûken Zelal. Die Freund:innen bringen dort das gleiche Opfer.“

Das kurdische Volk muss sich erheben“

Karasu unterstreicht die Notwendigkeit einer heftigen öffentlichen Reaktion auf die Einsätze von Chemiewaffen und sagt: „Das kurdische Volk muss aufstehen. Die demokratischen Kräfte müssen protestieren und sich erheben. Auch die demokratischen Kräfte in der Türkei müssen ihre Stimme in diesem Sinne laut werden lassen. Die Welt schaut weg, wenn es um die kurdische Frage geht. In der Türkei versucht das faschistische Regime, jede und jeden zum Schweigen zu bringen.“

Die Haltung der PDK ist die größte historische Schande“

Auch an die PDK richtet Karasu seine Kritik: „Natürlich ist der türkische Staat der Feind, er greift an. Europa hat seine Interessen und verschließt die Augen vor den Tatsachen. Am schmerzlichsten ist jedoch die Haltung der PDK, die diese Angriffe vertuscht. Sie versperrt den Menschen, die dorthin gehen wollen, (um die Angriffe zu untersuchen) den Weg. Sie deckt die Verbrechen der Türkei. Die PDK hat die Aufgabe übernommen, die Verbrechen der Türkei zu verschleiern. Wo immer der türkische Staat angreift, liefert die PDK eine Rechtfertigung. Sie liefert die Legitimationen für die Angriffe auf Şengal und Rojava. Aber dem Angreifer gibt sie keine Schuld. Es ist historisch aber die größte Schande, dass die PDK den Einsatz von Giftgas für die Türkei verbirgt.“