Das Recht auf Hoffnung und die Konsequenzen für die Türkei

Bis Ende des Monats muss die Türkei die lebenslängliche Haftstrafe ohne Aussicht auf Entlassung abschaffen, andernfalls droht als letzte Konsequenz der Ausschluss aus dem Europarat. Abdullah Öcalans Anwalt Ibrahim Bilmez erläutert die Hintergründe.

Rechtsanwalt Ibrahim Bilmez vom Verteidigerteam von Abdullah Öcalan hat sich gegenüber ANF zu der Isolation seines Mandanten auf der Gefängnisinsel Imrali und dem „Recht auf Hoffnung" geäußert. Bilmez erklärte, man müsse wissen und verstehen, dass die Isolation auf Imrali ein vordefiniertes, geplantes und bewusstes System ist. Die Infrastruktur dafür wurde vorbereitet, kurz bevor der PKK-Gründer Abdullah Öcalan 1999 auf die Gefängnisinsel gebracht wurde.

Imrali als staatliches Versuchslabor

Bilmez stellte fest, dass die Isolierung schrittweise systematisiert und in der Praxis vertieft wurde: „Der Staat benutzt Imrali als Labor und setzt verschiedene Führungstechniken ein. Er probiert sie aus, wendet sie an und überträgt sie dann auf die gesamte Gesellschaft in der Türkei. In dem 23 Jahre dauernden Prozess gibt es viele Details dieser Isolierung, es gibt viele Unrechtmäßigkeiten. Wir haben 23 Jahre lang versucht, sie zu erklären und bekannt zu machen. Trotz der Aussetzung von Grundrechten und der Isolation gibt es auf Imrali einen sehr starken Widerstand, einen gewaltigen Widerstand. Seit 23 Jahren setzt Abdullah Öcalan seinen Kampf mit dem Staat in einer zehn Quadratmeter großen Zelle im Kerker von Imrali fort, ohne Kompromisse einzugehen und von dem abzuweichen, was er als richtig befunden hat. Abdullah Öcalan weiß, dass die strukturell gewordene und seit Beginn der Republik betriebene Politik der Verleugnung und Vernichtung beendet und die kurdische Frage mit friedlichen und demokratischen Mitteln im Rahmen eines gerechten Friedens gelöst werden muss. Diese Haltung hat er bereits vor seiner Gefangenschaft auf Imrali initiiert und beibehalten."

Das „Recht auf Hoffnung“ soll verwehrt werden

Bilmez wies darauf hin, dass die gegen Abdullah Öcalan verhängten Disziplinarstrafen in gewisser Weise ein Vorwand sind, um ihm das Recht zu nehmen, seine Familienangehörigen zu sehen: „Es handelt sich um Strafen, die verhängt wurden, um ein Argument zu haben, das gegen Abdullah Öcalan verwendet werden kann, wenn in Zukunft eine mögliche ,Recht auf Hoffnung'-Regelung realisiert wird. Auch die Entscheidung des Vollstreckungsrichters, die Besuche von Anwältinnen und Anwälten zu verhindern, entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. Sie verstößt gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze, sie verstößt gegen den einschlägigen Artikel des türkischen Rechts, sie ist nicht legitimiert, sie ist völlig willkürlich. Ganz zu schweigen davon, dass wir seit 18 Monaten keine Nachricht von Abdullah Öcalan und unseren anderen Mandanten auf Imrali erhalten haben. Ich glaube nicht, dass es eine ähnliche Situation in der Welt ist. Es gibt das Beispiel Guantanamo, das seinerzeit auf der Tagesordnung der ganzen Welt stand, aber die Praktiken auf Imrali haben das Beispiel Guantanamo längst übertroffen. Das rechtswidrige Verhalten dort war bekannt, Anwälte konnten kommen und gehen. Hier hingegen herrscht absolute Isolation. Wir haben nicht den geringsten Kontakt und werden nur offiziell darüber informiert, dass unsere Mandanten dort sind, weitere Informationen gibt es nicht. Diesen Informationen sollen wir vertrauen, aber befinden uns nicht in der luxuriösen Situation, dieser offiziellen Erklärung zu glauben. Wir wissen, dass dieser Staat uns von 1999 bis zum Putschversuch im Jahr 2016 offiziell fast jede Woche belogen hat. Damals wurden uns immer Dinge wie schlechte Wetterverhältnisse oder Schiffspannen als Hindernisse für Anwalts- und Familienbesuche genannt. Deshalb können wir uns nicht den Luxus leisten, diesem Staat zu vertrauen. Wir setzen unsere rechtlichen, diplomatischen und politischen Initiativen fort und werden dies auch weiterhin tun. Wir beobachten und stellen fest, dass die Menschen langsam beginnen, die Folgen der Isolation auf Imrali und ihre Auswirkungen auf sich selbst zu erkennen. Wir sind der Meinung, dass diese demokratischen Reaktionen noch verstärkt werden sollten.“

Die Türkei spielt auf Zeit

Der Kampf gegen die Isolation auf Imrali und gegen die Kriegspolitik, mit der eine Lösung der kurdischen Frage verhindert wird, entspreche ebenso wenig wie der Kampf für eine Demokratisierung der Türkei dem Niveau des Widerstandes auf Imrali, erklärte Bilmez weiter: „Wenn der demokratische Kampf und die Reaktionen das gleiche Niveau erreichen wie der Widerstand auf Imrali, dann werden wir sehen können, dass das Problem auf dem Weg zur Lösung ist. Tatsächlich gibt es auf Imrali seit 23 Jahren einen enormen Widerstand. Abdullah Öcalan setzt seinen Kampf gegen dieses System unter schwierigen Bedingungen ununterbrochen fort. Ich denke, dass die demokratische Gesellschaft dies erkennen und ihren Kampf entsprechend verstärken muss. Was die Frage der verschärften lebenslangen Haft betrifft, so wurde der Türkei aufgrund unseres Antrags an das Ministerkomitee des Europarats eine Frist bis Ende September gesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2014 in einem Urteil festgestellt, dass eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe der Folter gleichkommt. Die Türkei hätte seit acht Jahren Maßnahmen ergreifen und Vorschriften zu diesem Thema erlassen müssen. Sie hätte die verschärfte lebenslange Haft und diese Form des Vollzugs aus ihren eigenen Gesetzen streichen müssen. Das hat sie nicht getan. Als Anwaltsteam haben wir bereits mehrfach Anträge gestellt, zuletzt im August. Am 9. August erhielten wir eine sehr schnelle Antwort auf unseren Antrag. Wir haben die üblichen Dinge in dieser Antwort gesehen. Die Türkei tut das, was sie immer tut. Sie tut das, was sie in der Außenpolitik am besten kann: Sie spielt auf Zeit. Sie versucht, die Angelegenheit zu verzögern. Dieser Ansatz trägt nicht zur Lösung der Probleme bei. Die Probleme werden größer und größer. Wir hoffen, dass die Türkei bis Ende September eine Initiative zu diesem Thema ergreifen wird. Letztes Jahr setzte das Ministerkomitee der Türkei eine Frist bis zum 22. September und forderte sie auf, innerhalb dieses Zeitraums Maßnahmen zu ergreifen, einen Aktionsplan zu formulieren und es darüber zu informieren, aber es gab bisher keine Initiative. Es wird so getan, als ob es kein Problem gäbe. Der EGMR hat bereits festgestellt, dass niemand zu einer lebenslänglichen Haftstrafe ohne Aussicht auf Entlassung verurteilt werden darf und es keine Ausnahmen gibt. Die Antwort der Türkei ist ein Witz und gleichzeitig ein Geständnis. Darin heißt es, dass nur Abdullah Öcalan und andere politische Gefangene zu erschwerten Haftstrafen verurteilt worden seien und der Vollzug fortgesetzt würde. Wir hoffen, dass die Türkei diesen Fehler schnell wieder rückgängig macht."

Todesstrafe in Raten

Bilmez erinnerte daran, dass die Todesstrafe in der Türkei in Kraft war, als Abdullah Öcalan ausgeliefert wurde, aber nicht vollstreckt wurde: „Später fand in Imrali ein sehr schneller Schauprozess statt, und es wurde die Todesstrafe verhängt. Damals musste die Türkei aufgrund des Drucks der öffentlichen Meinung, der Reaktionen des kurdischen Volkes und des Verfahrens vor dem EGMR die Todesstrafe abschaffen. Stattdessen wurde eine Strafe eingeführt, die als verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe bezeichnet wird und bei der es keine Aussicht auf Freilassung gibt. Es war eine Form der Bestrafung und des Vollzugs, die es im türkischen Recht zuvor nicht gab. Das Problem ist, dass dies eine härtere Strafe ist als die Todesstrafe. In der Literatur wird diese Strafe als zeitlich verteilte Todesstrafe bezeichnet. Denn wenn man einen Menschen zwischen vier Wänden einsperrt, ohne jede Hoffnung und Möglichkeit auf ein Entkommen, dann bleibt er dort, bis er stirbt. Es bedeutet, langsam zu exekutieren und zu töten.“

Das Gesetz wird umgangen

Auf die Frage, warum die Türkei Abdullah Öcalan diese Strafe auferlegt hat und warum sie nichts ändert, antwortete Bilmez: „Die Türkei ist von Anfang an rachsüchtig gegen Abdullah Öcalan vorgegangen. So wird er auch in der Öffentlichkeit dargestellt. Abdullah Öcalan hat seit 1994 alles getan, was er für die Lösung der kurdischen Frage tun konnte. Diese Haltung behielt er auch bei, nachdem er nach Imrali gebracht worden war, und sie wurde nicht ausreichend wertgeschätzt. Es handelt sich um eine Haltung, die einen Gewinn für die gesamte Türkei, für die gesamte Gesellschaft in der Türkei bedeutet.

Die Regelungen und Änderungen, die der EGMR in Bezug auf die verschärfte Haftstrafe, also das ,Recht auf Hoffnung', anstrebt, sehen in etwa so aus: Nach einer bestimmten Zeit, nach einer angemessenen Zeitspanne, deren Grenze nicht klar ist, 15 oder höchstens 20 Jahre nach Beginn der Haft, sollte die verhängte Strafe neu geprüft und bewertet werden. Es muss ein Mechanismus geschaffen werden, indem rechtliche Regelungen getroffen werden. Die mit diesem Mechanismus eingerichtete Institution wird die Situation der zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Person neu bewerten. Sie wird bewerten, ob diese Person für die Gesellschaft schädlich oder nützlich ist, und entsprechend eine neue Entscheidung treffen. Vielleicht beschließt sie, ihn oder sie freizulassen. Sie kann entscheiden, dass diese Person frei sein wird. Wenn es um Abdullah Öcalan geht, kommen leider viele Vorurteile ins Spiel und das Gesetz wird außer Kraft gesetzt. Abdullah Öcalan ist der Protagonist dieser verschärften lebenslangen Haftstrafe. Sie wurde für ihn eingeführt, vorher gab es sie im türkischen Recht nicht. Seitdem sie gegen Abdullah Öcalan verhängt wurde, ist sie im Laufe der Zeit zu einer Strafe für Hunderte, vielleicht sogar für einige Tausend Menschen geworden. Wir kennen noch nicht einmal die genaue Zahl. Wie ich bereits gesagt habe, hat das Ministerkomitee des Europarates der Türkei eine Frist bis Ende September gesetzt. Bis dahin will sie auch von der Türkei wissen, wie viele Personen diese Strafe erhalten haben. Die Türkei hat bisher nicht einmal auf dieses Ersuchen reagiert.

Es muss eine Haftprüfung stattfinden

Innerhalb eines angemessenen Zeitraums muss die Situation der verurteilten Person neu bewertet werden. Die Bewertung erfolgt unter Berücksichtigung von Kriterien wie Alter, Gesundheitszustand und soziale Stellung der Person. Die Situation von Abdullah Öcalan ist bekannt. Objektiv betrachtet hat er seit 1999 zum Wohle der gesamten Gesellschaft eingesetzt, trotz schlechter Haftbedingungen und Folter, was auch der EGMR sagt: Eine erschwerte Haftstrafe ohne Aussicht auf Entlassung verstößt gegen das Folterverbot. Wann immer sich Abdullah Öcalan die kleinste Gelegenheit bot, versuchte er sofort, sie für eine Lösung zu nutzen. Er war und ist sich seiner Verantwortung und Macht bei der Lösung der kurdischen Frage bewusst. Als Voraussetzung dafür hat er alles getan, was getan werden musste, er hat jeden notwendigen Schritt getan. Er hat Roadmaps entworfen und Vorschläge gemacht, wie eine Lösung realisiert werden könnte. Zum Beispiel hat er einen Ausschuss vorgeschlagen, der die Öffentlichkeit auf eine Lösung einstimmen sollte. Er richtete einseitige Waffenstillstandsaufrufe an die PKK, die auch befolgt wurden. Daher kann keine Rede davon sein, dass er für die Gesellschaft in der Türkei schädlich ist. Im Gegenteil, er ist eine äußerst nützliche Person für die Gesellschaft.

Auch in dieser Hinsicht ist das Recht auf Hoffnung ein wichtiges Recht. Die Türkei muss bei dieser Frage Änderungen vornehmen. Andernfalls nimmt sie die Position eines Landes ein, das die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht erfüllt. Die Türkei ist diesen Urteilen seit 2014 nicht nachgekommen. Sie verzögert und blockiert ständig. Abdullah Öcalan leistet zwischen vier Wänden weiterhin Widerstand und kämpft unter Folterbedingungen, verurteilt zu einer lebenslangen Haftstrafe, die jeden Tag schwerer wird.

Die Konsequenzen betreffen die gesamte Türkei

Sollte die Türkei die Anforderungen dieses Beschlusses nicht erfüllen, besteht die Möglichkeit, dass der Europarat Sanktionen verhängen wird. Es besteht die Möglichkeit, ein Verfahren gegen die Türkei einzuleiten. Wir sprechen hier von einem Prozess, der zum vollständigen Ausschluss aus dem Europarat führen könnte. Sollte dies der Fall sein, wäre es für die Türkei in jeder Hinsicht ein großer Verlust. Es würde für die Türkei den Abstieg in der Menschenrechtsliga bedeuten. Und nicht nur das: Die ohnehin schon schwache türkische Wirtschaft würde zusammenbrechen und die Türkei an den Rand des Bankrotts geraten. Die Türkei wäre vollständig von der westlichen Welt abgeschnitten.

Es gibt auch eine weitere Dimension in dieser Angelegenheit: Heute ist die AKP in der Regierung, unterstützt von der MHP. Sie haben die Macht und die Initiative, aber gleichzeitig gibt es eine Opposition, die darauf abzielt, diese Regierung in spätestens einem Jahr zu übernehmen. Diese Frage ist nicht nur das Problem der Regierung, sondern auch das Problem der Opposition. Wenn die Türkei die Anforderungen dieses Beschlusses nicht erfüllt, wird sie in jeder Hinsicht verlieren. Nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition und die gesamte Gesellschaft werden verlieren."