Mit einer im griechischen Lavrio gestarteten Schiffsreise nach Italien haben politische Aktivist:innen an das internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan und die kurdische Befreiungsbewegung erinnert. Am Rande der Auftaktveranstaltung am 8. November in Athen konnten drei Teilnehmer:innen der Delegation für ANF, die VVN München und das Lower Class Magazine mit Ibrahim Bilmez, einem der Anwälte von Abdullah Öcalan, sprechen.
Können Sie etwas über Ihren Hintergrund berichten, wie kam es dazu, dass Sie Anwalt von Abdullah Öcalan wurden?
Ich bin Anwalt vom Rechtsbüro Asrin in Istanbul, aber in Diyarbakir groß geworden. Seit 2001 bin ich Rechtsanwalt, seit 2003 vertrete ich Abdullah Öcalan. Als Kind habe ich nur Kurdisch gesprochen, Türkisch konnte ich in der Grundschule noch nicht. Erst in der Schule sind mir einige Dinge bewusst geworden, zum Beispiel dass der Lehrer eine andere Sprache sprach als die unsere. Wie Millionen andere kurdische Kinder hat die Verleugnung der Identität auch mich beeinflusst. Die Identität, welche uns in der Schule gelehrt und aufgezwungen wurde, war eine andere als unsere Identität zu Hause. Das erzeugte einen Widerspruch. Es war ja sowieso verboten für uns, in der Schule Kurdisch zu sprechen, und ich wusste in dem Alter gar nicht recht, was „Kurde“ oder was „Türke“ ist. Mit 13 oder 14 Jahren bin ich auf ein Internat in der türkischen Stadt Izmir gekommen, um dort Abitur zu machen. Dort ist mir klar geworden, dass ich eine andere Identität habe und Kurden keine Türken sind. Ich habe ich mich fremd gefühlt. In der Oberstufe am Gymnasium hatte ich kurdischen Freunde, die älter waren als ich, die haben uns über die kurdische Frage ein wenig aufgeklärt. Erst in Izmir ist mir klar geworden, was es bedeutet, in der Türkei einer Minderheit anzugehören.
Dann bin ich für das Studium nach Istanbul und später nach Ankara gegangen. An der Marmara-Universität in Istanbul, an der ich mit dem Jura-Studium begann, habe ich dann die Jugendbewegung kennengelernt. Eigentlich hatte ich nicht vor, Jura zu studieren, aber zu der Zeit habe ich Schuld und Sühne von Dostojewski gelesen. Das hat mich sehr beeinflusst, sonst wäre ich vielleicht gar nicht Anwalt geworden. Als ich 1999 Jurastudent war, fand das internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan statt und er wurde in die Türkei gebracht. Ich war im dritten Semester und beschloss, das Studium schnell zu beenden. 2001 war es dann soweit und ich dachte, dass es doch eine gute Entscheidung gewesen war, Jura zu studieren. Ich beantragte, Herrn Abdullah Öcalan zu vertreten. Der Staat genehmigte meinen Antrag jedoch erst 2004. In diesem Jahr war ich zum ersten Mal auf Imrali, wo ich Herrn Öcalan besuchte und kennenlernte. Die Bekanntschaft mit ihm, so kann ich es sagen, hat mein Leben verändert.
Wie kam es dazu? Hatten Sie schon Kontakt, bevor Sie Anwalt wurden?
Natürlich hatte ich vorher schon seine Bücher gelesen und wie alle anderen Kurd:innen in der Türkei hatte auch ich ein Interesse an Herrn Öcalan. Er wird von dem Großteil der Kurdinnen und Kurden als ein Volksrepräsentant betrachtet. Die Situation mit Herrn Öcalan war sehr paradox. Er wurde einerseits von Millionen Kurden geliebt und verehrt, andererseits war er für Millionen von Türken, die unter dem Einfluss des türkischen Staates stehen, ein großer Feind und die Quelle alles Bösen. Sie sahen ihn als ein Monster an. Er wurde also entweder sehr geliebt oder gehasst.
Deswegen war es für mich zum einen eine sehr ehrwürdige Aufgabe, so eine Person als Anwalt zu vertreten, zum anderen ist es jedoch eine sehr gefährliche Angelegenheit. Für einige Menschen wurden wir damit zu Hassobjekten.
Veranstaltung „Die Zeit ist reif, Freiheit für Abdullah Öcalan“ vor Beginn der Schifffahrt in Athen
Ich muss auch folgendes sagen: Bevor ich Herrn Öcalan persönlich traf, war er mir ja schon bekannt. Öcalan war ein Vorreiter, eine legendäre Figur und ein Held für die Kurdinnen und Kurden. Es gibt Lieder über ihn und er ist jene Person, die dem kurdischen Volk zur Wiedererlangung seiner Identität verhalf und es zum Aufstand bewegte. Das alles war mir bekannt. Aber als ich ihn in Imrali von Angesicht zu Angesicht traf, auch unter den schwierigen Bedingungen dort, ist mir bewusst geworden, dass er über einen sehr starken Willen zum Frieden verfügt. Sein zentrales Anliegen ist die Lösung der kurdischen Frage. Ich habe dabei auch für mich festgestellt, dass die Verteidigung von Herrn Öcalan zugleich bedeutet, das kurdische Volk zu verteidigen. Die Herangehensweise des Staates Herrn Öcalan gegenüber spiegelt das ja auch wider. Der Umgang des Staates mit Herrn Öcalan entspricht seinem Umgang mit dem kurdischen Volk. So betrachtet, kann auch gesagt werden, dass der Staat mit dieser Herangehensweise Herrn Öcalan als legitimen Repräsentanten der Kurden sieht und anerkennt.
Wie oft haben Sie Herrn Öcalan getroffen?
Die erste Begegnung war im Jahre 2004. Das war sehr bedeutsam für mich, ich war sehr aufgeregt, das werde ich nie vergessen. Morgens um vier Uhr sind wir von Bursa aus nach Imrali losgefahren. Wir waren vier Anwältinnen und Anwälte. Es gab sehr strenge und grobe Kontrollen. Die Fähre brauchte zwei bis drei Stunden bis Imrali. Dort wurden wir ein weiteres Mal sehr vulgär durchsucht. Eigentlich ist es nicht legal, Anwälte so zu durchsuchen. Die ganze Insel Imrali ist quasi ein Gefängniskomplex, bereits nach zweihundert Metern Fußweg nach der Ankunft auf Imrali befindet man sich vor dem Gefängnistor. Im Gefängnis wurden wir zum dritten Mal durchsucht, unsere Kleidung, alles wurde wiederholt durchsucht. Dann wurden wir in das Besuchszimmer gebracht, welches sich neben der Zelle von Herrn Öcalan befindet. Beide Räume sind jeweils zwölf Quadratmeter groß. Unser Gespräch dauerte genau sechzig Minuten, keine Minute länger wurde uns erlaubt. Diese Stunde verging für mich sehr schnell. Ich muss sagen, dass es mir als Kurde schwer gefallen ist, Herrn Öcalan dort allein zurückzulassen, weil die verantwortlichen Menschen dort sehr grob waren. Das haben wir an ihrem Verhalten uns gegenüber selbst erfahren. Herrn Öcalan allein mit ihnen zu lassen, war nicht angenehm. Damals war er auch der einzige Inhaftierte.
Ich möchte noch dieses Detail erwähnen: Wir waren ja wie gesagt vier Anwältinnen und Anwälte und wurden nacheinander herausgebracht. Ich war der letzte, der in dem Raum zurückgeblieben war und musste dort fünf Minuten warten. Alles war weiß und kein Geräusch drang in den Raum. Diese fünf Minuten allein in dem Raum haben mir ein wenig vermittelt, wie es ist, isoliert zu sein. Herr Öcalan hatte zu der Zeit bereits einige Jahre in solch einer Isolation verbracht.
Bis 2011 hatten wir hin und wieder die Möglichkeit, ihn zu besuchen, etwa 15 bis 20 Mal im Jahr. Seit 2011 war das nicht mehr möglich. Am 27. Juli 2011 habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Bis zum Putschversuch 2016 haben wir wöchentlich Besuchsanträge gestellt, wir wurden aber von staatlichen Institutionen offiziell immer wieder angelogen. Als Grund für die Ablehnung wurde uns genannt, dass die Fähre defekt und außer Betrieb sei. Im Winter hieß es, das Wetter sei zu schlecht. Diese Gründe wurden uns wöchentlich mitgeteilt. Nach dem Putschversuch von 2016 wurde vom Staat der Ausnahmezustand verhängt und einen Tag danach verbot das Gericht in Bursa per Dekret Anwaltsbesuche bei Herrn Öcalan. Mit dieser rechtlich fragwürdigen Maßnahme war kein Grund mehr gegeben, das Wetter oder die Fähre als Ursache zu nennen. Bei unseren wöchentlichen Besuchsanträgen wurde uns dann immer wieder der Gerichtsbeschluss vorgezeigt. Dies blieb so bis 2019, als in dem Jahr ein von Leyla Güven angeführter großer Hungerstreik von politischen Gefangenen mit der Forderung begann, die Isolation von Herrn Öcalan zu beenden. Tausende politische Gefangene, Aktivistinnen und Aktivisten haben ihren Hungerstreik in einen unbefristeten umgewandelt und beabsichtigten sogar, in ein sogenanntes Todesfasten einzutreten. In dieser Phase haben sich leider zehn junge politische Gefangene aus Protest gegen die Isolation das Leben genommen. Nach all dem war der Staat gezwungen, 2019 Anwaltsbesuche zu genehmigen. Es fanden fünf Besuche statt. Wir waren vier Anwältinnen und Anwälte, die Besuchsanträge gestellt haben, darunter zwei neue. Die Genehmigung gab es jedoch nur für die beiden neuen Unerfahrenen. Seitdem gab es keine weiteren Treffen mit Herrn Öcalan mehr.
Im März 2021 verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken Gerüchte, dass Herr Öcalan im Gefängnis verstorben sei. Die Kurdinnen und Kurden wurden sehr nervös, es gab Proteste mit der Forderung, ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Daraufhin wurde zugelassen, dass die Familie mit ihm telefoniert, aber selbst dieses Gespräch wurde nach etwa drei Minuten abrupt unterbrochen. Danach gab es keine weiteren Gespräche. Seit März 2021 gibt es keinen Kontakt zu ihm, weder telefonisch noch schriftlich und auch nicht zu den anderen Inhaftierten. 2009 wurden drei weitere politische Gefangene nach Imrali gebracht, die wir ebenfalls vertreten. Auch zu ihnen gibt es keinen Kontakt, sie sind vollständig isoliert.
Ich möchte auch noch erwähnen, dass nach unserem Besuch bei Herrn Öcalan im Jahre 2011 eine große Festnahmeoperation gegen uns Anwältinnen und Anwälte durchgeführt wurde. Mich eingeschlossen wurden um die vierzig Anwältinnen und Anwälte festgenommen. Ich wurde zweieinhalb Jahre inhaftiert und saß im Gefängnis. Dieses Verfahren läuft noch weiter, es drohen bis zu 25 Jahre Haft. Das wird uns aber nicht daran hindern, weiterhin Herrn Öcalan zu verteidigen.
Haben Sie Hoffnung, dass Öcalan durch öffentlichen Druck freikommt?
Ich habe eben nicht grundlos erwähnt, dass der türkische Staat Herrn Öcalan eigentlich als wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Akteur in einer Lösung der kurdischen Frage betrachtet. Man weiß, dass Herr Öcalan sowohl den Freiheitswillen als auch die Kraft der Kurdinnen und Kurden repräsentiert. Herr Öcalan hat lange vor seiner Zeit auf Imrali seit 1993 immer wieder Initiativen für den Frieden eingeleitet, zum Beispiel durch mehrere einseitige Waffenstillstände vonseiten der PKK. Er wollte auch die Zeit und Situation auf Imrali für den Frieden nutzen und versuchte, seine Inhaftierung in eine Chance für die Lösung der kurdischen Frage zu wenden. Die Zeit seiner Gefangenschaft hat er auch genutzt, um Vorschläge für einen Frieden zu unterbreiten.
Eines möchte ich an dieser Stelle nochmals betonen, und ich habe mir ja persönlich einen Eindruck machen können: Ein Leben auf Imrali zu führen, ist eine unvorstellbare Herausforderung und unmenschlich. Herr Öcalan nutzt sie, nur um die kurdische Frage zu lösen. Er hätte anfangs einen ganz anderen Weg bestreiten können. Er hat jedoch beschlossen, für den Frieden auf Imrali zu überleben. Um auf die Antwort Ihrer Frage zu kommen: Herr Öcalan hat stets versucht, den ganzen Prozess und die Situation auf Imrali in Mittel und Möglichkeiten für eine Lösung zu verwandeln. Seine Verteidigung war immer politisch im Rahmen der kurdischen Frage. Er hat sich nicht rechtlich bzw. mit juristischen Mitteln verteidigt, sondern sah seine Situation immer als Ausdruck der kurdischen Frage. Er sprach immer als Repräsentant des kurdischen Volkes, das hat er sowohl vor Gericht als auch in seinen Verteidigungsschriften, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt wurden, getan. Darin bat er immer wieder auch Lösungsmöglichkeiten an. In seinen Verteidigungsschriften unterstreicht er ja selbst, dass sein Fall ein politischer ist, der auch nur politisch gelöst werden kann. Daher denke ich, dass die Öffentlichkeitsarbeit und politische Kampagnen wie diese für die Freiheit von Abdullah Öcalan eine große Bedeutung haben und bei der Lösung der kurdischen Frage eine wichtige Rolle spielen.
Wie sehen Sie als Anwalt die Frage der Gerechtigkeit?
Um es kurz zu fassen: Es kann über die Existenz und Möglichkeit sowohl einer theoretischen/metaphysischen Gerechtigkeit als auch über eine Gerechtigkeit im praktischen Leben diskutiert werden. Meiner Meinung nach gibt es keine tatsächliche Gerechtigkeit auf der Welt. Sie muss von der Gesellschaft erschaffen werden. Gerechtigkeit wird nur durch den Kampf erreicht. Eine gerechtere Welt zu schaffen, liegt nicht in der Hand von Staaten, sondern in denen der Menschen und Völker und ihrer Kämpfe dafür.
Können Sie am Schluss noch sagen, wie Sie Öcalan persönlich wahrgenommen haben?
Wie gesagt, ich habe ihn 2004 das erste Mal gesehen. Als ich Imrali verließ, habe ich die Situation für mich metaphorisch und symbolisch wie folgt verbildlicht: Er schien mir wie ein Löwe oder Panther, den man in eine Zelle gesperrt hatte. Er strahlte einen sehr starken Willen und keinerlei Angst aus. Sein einziges Streben ist die Befreiung der Kurdinnen und Kurden und die Lösung der kurdischen Frage. Ich denke, er spürt eine große Last an Verantwortung auf seinen Schultern, weil tausende junge Menschen gestorben sind, und es sterben täglich weitere. Er will, dass dieses Sterben aufhört.