Rechtsanwalt Ibrahim Bilmez vom Rechtsbüro Asrin, das Abdullah Öcalan seit seiner Verschleppung in die Türkei im Jahr 1999 juristisch vertritt, weist darauf hin, dass das „internationale Komplott“ vom 9. Oktober 1998, die Isolation auf Imrali und die kurdische Frage insgesamt nach wie vor ungelöst sind. Bilmez stellt fest: „Auf Imrali wird nicht Recht und Gesetz angewendet, die Türkei demokratisiert sich nicht und der Mittlere Osten kann sich nicht aus dem Chaos befreien, weil die kurdische Frage weiterhin besteht.“
Die kurdische Gesellschaft bezeichnet die Phase vom 9. Oktober 1998 bis zum 15. Februar 1999 als das „internationale Komplott”. Im Verlauf dieser Zeitspanne wurde Abdullah Öcalan, Vordenker und wichtigster politischer Repräsentant der Kurdinnen und Kurden, zunächst in Syrien zur persona non grata erklärt, und durchlebte anschließend eine Odyssee durch verschiedene Länder Europas, um schließlich aus der griechischen Botschaft der kenianischen Hauptstadt Nairobi verschleppt und völkerrechtswidrig an die Türkei übergeben zu werden.
Gegenüber ANF hat sich Rechtsanwalt Ibrahim Bilmez zu der seit dem letzten Besuch bei Abdullah Öcalan am 7. August bis heute erneut fortgesetzten Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali geäußert. Bilmez erinnert daran, dass der Kontakt von Anwälten zu Mandanten das natürlichste Recht ist. Die seit dem 7. August jeden Mittwoch und Freitag gestellten Besuchsanträge werden jedoch nicht beantwortet.
Derzeit keine juristische Begründung für Besuchsverbot
Während vor dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 Besuche mit fadenscheinigen Begründungen wie schlechten Wetterbedingungen oder einer defekten Fähre verhindert wurden, ist es seitdem eine gegen internationales Recht und die Verfassung verstoßende gerichtliche Entscheidung, mit der die Treffen von Mandant und Anwalt verhindert werden. Bilmez berichtet, dass die Ablehnung jedes Besuchsantrags mit dieser Gerichtsentscheidung begründet wurde. Das Anwaltsbüro legte ununterbrochen dagegen Einspruch ein. So konnte erstmalig seit dem 27. Juli 2011 der erste Anwaltsbesuch 2019 stattfinden, wenige Wochen nach Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung. Ibrahim Bilmez weist darauf hin, dass zurzeit keinerlei rechtlicher Grund für die Verhinderung eines Anwaltsbesuchs besteht. Deshalb wird seit dem 7. August auf keinen der Anträge mehr geantwortet.
Missachtung der Rechte Abdullah Öcalans
Bilmez kommentiert die Verhinderung der Mandantenbesuche als Missachtung grundlegender Rechtsprinzipien und betont, dass in Bezug auf Imrali ein willkürlicher und unrechtmäßiger Mechanismus betrieben wird. Es gäbe universelle Rechte und von diesen müssten alle ohne Unterschiede profitieren, jedoch werden diese Rechte, wenn es um Öcalan geht, seit 1999 gebrochen.
„In Syrien begonnene Isolation hat ihre Zuspitzung auf Imrali erreicht“
Der Mechanismus, der auf Imrali angewandt wird, bedeute systematische Isolation und diese Isolation sei auch schon vor Imrali in Syrien praktiziert worden, zeigt Bilmez auf. In Syrien sei versucht worden, die Existenz seines Mandanten mittels eines physischen Mordanschlags zu beenden. Nachdem in Europa alle Türen verschlossen wurden, sei auf Imrali der Höhepunkt der Isolation erreicht worden. Bilmez führt aus, dass sein Mandant auf Imrali mit einer Totalisolation konfrontiert ist: „Das Kontaktverbot zwischen Herrn Öcalan und seinen Anwälten ist ein Ergebnis dieser systematischen Isolation. Auch jetzt befinden wir uns wieder in einer Phase der systematischen Isolation.“
„Auf Imrali wird das Recht außer Kraft gesetzt“
Bilmez unterstreicht, dass die seit 20 Jahren auf Imrali angewandte Unrechtmäßigkeit vollständig politisch motiviert ist und hinter dem Isolationssystem ein Rachegedanke steht: „Staaten sind jedoch zur Objektivität verpflichtet. Sie müssen sich allen gegenüber gesetzmäßig und gleich verhalten. Abdullah Öcalan ist ein kein gewöhnlicher Gefangener, sondern ein politischer Anführer. Herr Öcalan, der den Staat als politisches Gegenüber anerkennt, hat unzählige Male – manchmal im Geheimen, manchmal öffentlich – mit staatlichen Vertretern an einem Tisch gesessen. Je nach Konjunktur wurden die Türen von Imrali geöffnet, mal für die eigenen Interessen, mal gezwungenermaßen. Die derzeitige Phase ist ein offenkundiger Beweis hierfür. Sie wissen, dass initiiert von der HDP-Abgeordneten Leyla Güven Tausende Menschen in den Gefängnissen der Türkei einen Hungerstreik gegen die Isolation durchgeführt haben. Viele von ihnen standen dabei an der Schwelle zum Tod. Damit ist das seit 2011 durchgängig angewandte Kontaktverbot durchbrochen worden."
„Es gibt immer noch keine Demokratisierung in der Türkei“
Bilmez weist auch darauf hin, dass die Isolation auf Imrali die politischen Entwicklungen in der Türkei beeinträchtigt. Dass sich die Türkei bis heute nicht demokratisiert hat, liegt seiner Ansicht nach an dem fehlenden Willen zur Lösung der kurdischen Frage. Es sei das strukturellste der Probleme der Türkei, deshalb habe die Türkei ihre Verfassung immer noch nicht demokratisiert und stattdessen ein Ein-Mann-Regime institutionalisiert. Hinter dem Ganzen steht die ungelöste kurdische Frage. Das Thema Rojava hängt natürlich damit zusammen, erklärt Bilmez. Es mache den Staat nervös, dass die kurdische Bewegung dort alternative Strukturen geschaffen hat. Hätte die Türkei ihr eigenes Problem gelöst und dem kurdischen Volk seine Rechte gegeben, würde sie mit Rojava nicht derart vorverurteilend umgehen.
„Öcalan ist den Interessen der Hegemonialmächte nicht dienlich“
Das internationale Komplott vom 9. Oktober 1998 dauert bis heute an, meint Bilmez und führt dazu aus, dass nicht nur die Türkei, sondern alle beteiligten westlichen Staaten ihr unrechtmäßiges Verhalten fortsetzen: „In der damaligen Situation haben sich alle Türen vor Herrn Öcalan verschlossen. Dafür gab es einen Grund; die Perspektive, die Öcalan dem kurdischen Volk sowie der kurdischen Bewegung unterbreitete, hatte eine außerordentliche Richtung. Herr Öcalan legte ein alternatives demokratisches Modell vor, das den Hegemonialmächten nicht passte. Es ließ sich nicht einfügen in ihre Pläne für den Mittleren Osten. Von Seiten der Türkei sind ohnehin bis heute keine Ambitionen zu erkennen, die kurdische Frage zu lösen – leider. Diese Situation war und ist für die Rechtsverstöße verantwortlich, mit denen Herr Öcalan konfrontiert ist. Überlegen Sie einmal, wegen der ungelösten kurdischen Frage konnten Zehntausende Menschen in Europa Asyl erhalten, aber die Forderungen der Person, die sie als ihren Repräsentanten sehen, werden ignoriert. Die europäische Zivilisation ist ihr eigenes Recht umgangen. Alle Türen Europas hatten sich geschlossen, es gab Landeverbot für Flugzeuge auf den Flugplätzen, und im Anschluss wurde Herr Öcalan aus Kenia in die Türkei verschleppt. Und in dergleichen Art und Weise wird das Komplott bis heute fortgesetzt. Und solange die kurdische Frage ungelöst bleibt, wird das Komplott auch andauern. Dabei können Sie gewiss sein, wenn die Isolation wirklich aufgehoben wird, wird das in die Lösung der kurdischen Frage münden. Beides hängt untrennbar miteinander zusammen.“
Das Chaos im Mittleren Osten und die Lösung der kurdischen Frage
Die Hegemonialmächte versuchten alles, um Öcalan von der kurdischen Thematik abzutrennen, erklärt sein Verteidiger Bilmez. Öcalan sei das bewusst gewesen, daher habe er alles daran gesetzt, die Frage ohne Einmischung aus dem Ausland zu lösen. Weil das nicht stattgefunden hat, findet der Mittlere Osten nicht aus der Kriegssituation und es wird eine Politik ohne demokratische Perspektiven gemacht, hält Bilmez fest. Heute sind es die USA und Russland, die eingreifen und das Thema noch komplizierter machten.
Zuletzt erklärt Rechtsanwalt Ibrahim Bilmez: „Wenn man sich zur rechten Zeit für eine friedliche Lösung an einen Tisch gesetzt hätte, sähe die heutige Situation anders aus. Im Mittleren Osten herrscht Chaos. Wenn die kurdische Frage mit einer demokratischen Perspektive gelöst worden wäre, hätte sich der Konflikt in Syrien vielleicht auch schon lösen lassen. Hätten wir eine Lösung, hätte es vielleicht gar keines Arabischen Frühlings gebraucht und es hätte die ganzen blutigen Auseinandersetzungen nicht gegeben. Die Türkei hätte mit einem friedlichen demokratischen Modell ein Beispiel für die Demokratisierung des gesamten Mittleren Ostens sein können. Das war wegen der Separatistenphobie der Türkischen Republik und dem instrumentalisierenden Umgang des Staates mit der kurdischen Frage jedoch nicht umsetzbar.“