In den letzten Tagen und Wochen eskalieren die türkischen Chemiewaffenangriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete immer weiter. Während die internationale Öffentlichkeit schweigt, sind in den letzten Wochen 17 Guerillakämpfer:innen durch Giftgas gefallen. Dieses Schweigen ermutigt die Türkei zu noch intensiveren Einsätzen verbotener Waffen. Nun unternimmt die Kurdische Frauenbewegung in Europa TJK-E einen Anlauf, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, und ruft zum permanenten Protest auf.
„Eine Jahrhundertschande“
In der Erklärung der TJK-E heißt es: „Die Erklärung des Volksverteidigungszentrums vom 18. Oktober und die Bilder der letzten Momente zweier von Chemiewaffen tödlich vergifteter Guerillakämpfer:innen stellen eine Ehre für diejenigen dar, die Widerstand leisten, sie sind aber auch gleichzeitig Bilder einer Jahrhundertschande. Wir verurteilen den faschistischen türkischen Staat, der dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Wir verurteilen alle Kräfte, die den Krieg gegen das kurdische Volk und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit entweder offen oder indirekt durch ihr Schweigen unterstützen und sich daran beteiligen. Wir grüßen die Guerilla, die mit ihrem Willen, ihrer Überzeugung und ihrer Aufopferung gegen diesen verbrecherischen Krieg Widerstand leistet, wir gedenken der 17 Freiheitskämpfer:innen, die mit chemischen Waffen ermordet wurden, und wir sprechen dem kurdischen Volk, insbesondere den Familien der Gefallenen, unser Beileid aus.“
„Die Bilder der sterbenden Kämpfer:innen sind eine Botschaft an uns alle“
Die TJK-E weist darauf hin, dass sich die türkische Armee in den fast 50 Jahren Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung noch nie an internationale Konventionen gehalten habe, dass aber die Angriffe mit international geächteten Waffen in den vergangenen zwei Jahren zugenommen hätten. Unter Bezug auf eine Bilanz der Volksverteidigungskräfte (HPG) stellen die TJK-E diesen Anstieg dar: „Ab Februar 2021 fanden im Laufe des Jahres 367 Angriffe mit Chemiewaffen statt; ermutigt durch das Schweigen der internationalen Öffentlichkeit zu diesen Angriffen verstärkte der türkische Staat seine Angriffe im Jahr 2022, und allein zwischen April und Oktober 2022 fanden 2467 Angriffe statt. Am 17. Oktober schließlich, also an nur einem Tag, wurden die Guerillagebiete 14 Mal mit Chemiewaffen attackiert. Selbst wenn man sich nur diese Bilanzen ansieht, so ist es unbestreitbar, dass hier das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit im 21. Jahrhunderts stattgefunden hat, aber die Bilder der durch Chemiewaffen sterbenden Guerillakämpfer:innen zeigen, dass es einen viel größeren Krieg und einen viel größeren Widerstand gab als diese Zahlen zeigen. Die Bilder der beiden sterbenden Kämpfer:innen sind eine Botschaft an alle, auch an uns.“
„Historische Verantwortung bedeutet, heute gegen Faschismus vorzugehen“
Die TJK-E richtet einen Appell an die internationalen Institutionen und Organisationen und die europäischen Staaten und erklärt: „Die historische Verantwortung besteht nicht darin, fast schon nostalgisch an Hitlers Faschismus und Saddams Diktatur zu erinnern. Es geht darum, sich gegen den Faschismus heute und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stellen. Institutionen wie die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) und die Vereinten Nationen müssen dringend handeln und Sanktionen gegen den türkischen Staat verhängen. Das Internationale Ärztekomitee zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), das kürzlich die Region besucht und einen Bericht veröffentlicht hat, sollte angehört werden.“
Die TJK-E beschreibt die europäischen Staaten als historischen Komplizen des türkischen Faschismus. Dies zeige unter anderem die Listung der PKK als „Terrororganisation“. So werde jegliches Vorgehen, auch der Einsatz von Chemiewaffen legitimiert.
„Recht auf Leben darf nicht nur auf dem Papier garantiert werden“
Die TJK-E appelliert an Gesundheitsorganisationen und Jurist:innen, sich gegen die Verletzungen des Kriegsvölkerrechts durch den türkische Staat zu stellen: „Der Schutz des Rechts auf Leben, des grundlegendsten Rechts, kann kein Recht sein, das nur in Konventionen und auf dem Papier steht. Wir fordern alle Anwält:innen in der Türkei, in Südkurdistan und in Europa auf, eine Haltung einzunehmen, die ihrer beruflichen Ehre würdig ist.“
„Angriffe richten sich gegen alle, die ein freies Leben wollen“
An die demokratische Öffentlichkeit gerichtet erklärt die Frauenbewegung: „Die Kurd:innen führen seit 50 Jahren einen ununterbrochenen Kampf für ihre Freiheit. Sie kämpfen nicht nur, sondern bauen mit ihrem demokratisch-ökologischen, frauenbefreienden Paradigma ein alternatives System auf, das ein Modell für alle Völker der Welt darstellt. Die heutigen Angriffe gegen die Freiheitsguerilla sind ein Angriff auf dieses Paradigma, ein Angriff auf die Feststellung, dass eine andere Welt möglich ist, ein Angriff, um diese Alternative zu eliminieren. Es sind Angriffe gegen alle, die ein demokratisches und freies Leben wollen. Die Angriffe sind universell und der Widerstand muss es ebenso sein. Genau wie bei Kobanê, Serêkaniyê und Efrin ist es unsere Aufgabe, die Errungenschaften von 50 Jahren Kampf zu verteidigen. In den Bergen liegt die Quelle, die Rojava hervorgebracht hat, ihre Verteidigung liegt in den Händen demokratischer Gruppen, von Umweltaktivist:innen, Anarchist:innen und Sozialist:innen.“
„Alle Frauen, die heute Jin-Jiyan-Azadî rufen, schulden den kurdischen Frauen ihre Loyalität“
Die weltweite Frauenbewegung und ihre Persönlichkeiten ruft die TJK-E auf: „Der Kampf für die Befreiung der Frauen hat ebenso wie der gerechte Kampf des kurdischen Volkes eine unumkehrbare Phase erreicht. Heute hallt der Slogan ‚Jin Jiyan Azadî‘ durch die Welt. So sehr die Kämpfe der Frauen in der ganzen Welt, derjenigen, die sich gegen das patriarchale System auflehnten, und derjenigen, die Widerstand leisteten, zur Universalisierung dieses Slogans beigetragen haben, so sehr ist diese Formel, die den Frauen die Entschlossenheit zum Widerstand einflößt, in Kurdistan zu einem hohen Preis verwirklicht worden. Dieser Slogan ist das Werk von Frauen wie Bêrîtan, Zîlan, Nagihan, Sara und Rûken. Es ist die Arbeit von Kämpferinnen wie Helbest, Zinarîn und Amara, die sich heute gegen das Giftgas verteidigen. Deshalb schulden alle Frauenorganisationen dem Freiheitskampf der kurdischen Frauen, von dem dieser Slogan stammt, ihre Loyalität. Alle Frauen, die Jin-Jiyan-Azadî rufen, alle Frauenorganisationen, feministischen Kreise und Persönlichkeiten, die sich in diesem Slogan wiederfinden, die ihre Zukunft sehen, deren Leben sich mit diesen drei Worten verändert, die den Ehrgeiz haben, das Leben zu verändern, rufen wir auf, für die Frauenguerilla einzutreten.
„Entlarvung der PDK ist eine nationale Aufgabe“
An die kurdischen Parteien gerichtet erinnert die TJK-E an den bevorstehenden hundertsten Jahrestag der Teilung Kurdistans und fordern diese auf, ihre Machtspiele zu stoppen und sich gemeinsam, Schulter an Schulter, an die Seite der Guerilla zu stellen. In Bezug auf die mit dem türkischen Faschismus kollaborierende PDK in Südkurdistan erklärt die TJK-E: „Wir möchten außerdem darauf hinweisen, dass es auch eine nationale Aufgabe ist, die PDK zu entlarven, die vor Monaten die Gasmasken, die die Guerilla vor chemischen Angriffen schützen sollten, konfisziert hat, die Delegationen, die dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen wollten, daran hinderte und sich auf die Seite der Besatzer stellte.“
„Worte reichen nicht aus, das Leid zu beschreiben“
Zuletzt richtet die TJK-E das Wort an das kurdische Volk und die kurdischen Frauen: „Die letzten 50 Jahre des kurdischen Volkes haben viel Leid mit sich gebracht, für die Worte nicht ausreichen, die der Verstand nicht begreifen kann, die das Herz nicht ertragen kann. Aber gleichzeitig haben sie auch Widerstand, Mut, Opferbereitschaft, Schönheit und Ehre geschaffen. Als kurdische Frauen, die gezwungen sind, in Europa im Exil zu leben, sind wir Zeuginnen und Opfer all dieser Prozesse. Auch wenn wir seit Jahren von unserer Region getrennt leben, waren unsere Gesichter immer dem Land zugewandt, unsere Herzen waren immer bei den werten Töchtern und Söhnen unseres Landes, und unser Versprechen war immer, in die Fußstapfen derer zu treten, die Widerstand leisten. Wie der Weise Apê Musa [Anter] sagte, haben wir, die Kurd:innen, immer Widerstand geleistet. Das ist eine große Ehre für uns.
„In dieser Situation kann niemand sein Leben normal weiterführen“
Die Bilder der beiden Guerillakämpfer:innen, die vor kurzem durch Chemiewaffen gefallen sind, sind schwer zu ertragen. Auch die Verantwortung, die wir tragen, ist groß. Wie wir bereits gesagt haben, sind diese Bilder eine Botschaft an alle, auch an uns kurdischen Frauen und das kurdische Volk. Es gibt niemanden in der kurdischen Gesellschaft, der keine Tochter oder Sohn, Bruder oder Schwester, einen Verwandten oder Bekannten hat, der zur Guerilla gehört. Dieser Kampf ist gesellschaftlich geworden. Daher sind wir diejenigen, denen so der Atem genommen werden soll. Solange der Krieg um Sein oder Nichtsein ein solch brennendes Ausmaß hat, solange die Guerilla unter diesen Bedingungen unerbittlich kämpft, kann niemand sein Leben normal weiterführen. Weder Aktionen noch Organisierung können wie zu normalen Zeiten weiterlaufen.
Die kurdische Freiheitsbewegung hat in diesen Tagen einen hohen Preis gezahlt, aber immer den Willen gezeigt, den Schmerz, den sie erfahren hat, in einen stärkeren Aufbruch und noch größeren Kampf umzuwandeln. Das kurdische Volk und die kurdischen Frauen marschieren seit 50 Jahren im Glauben an ihre eigene Kraft, ihren Willen und ihre Organisation. Auf diese Weise haben sie ihre Errungenschaften erzielt. Heute ist es vor allem das kurdische Volk selbst, das den türkischen Faschismus und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor der ganzen Welt bloßstellen wird.
Als TJK-E sind wir der festen Überzeugung, dass sich das kurdische Volk und die kurdischen Frauen dieser historischen Verantwortung bewusst sind. Auf dieser Grundlage rufen wir unser gesamtes in Europa lebendes Volk, die kurdischen Frauen, alle Frauenverbände, -initiativen und -gruppen dazu auf, sich im Geiste der Mobilisierung zu erheben und dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit ununterbrochenen Aktionen zu entlarven.“