Die Projekte des Westens und das Gegenprojekt der Völker

Das vom Westen geförderte türkische Modell sollte ein Prototyp für eine muslimische Demokratie werden, kann jedoch inzwischen als gescheitert angesehen werden. Die Türkei-Politik der EU und insbesondere Deutschlands hat sich als großes Desaster erwiesen.

Menschenrechtsverletzungen oder die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei waren solange kein Thema für die deutsche Politik und Öffentlichkeit, bis der für eine deutsche Zeitung tätige Journalist Deniz Yücel in der Türkei festgenommen wurde. Das Interesse an der Ausrichtung der türkischen Innen- und Außenpolitik hat zweifellos zugenommen. Aber kaum jemand stellt sich die Frage, warum die EU seit 2005 Beitrittsverhandlungen mit einem Staat führt, der die Menschenrechte seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger missachtet, durch die Invasionen in Syrien und Irak das Völkerrecht verletzt, in den besetzten Gebieten Verbrechen verübt und terroristische Kräfte unterstützt.

Ein Rückblick auf die vergangenen 15 Jahre zeigt, wie die EU-Politik gegenüber der Türkei zu einem – eigentlich absehbaren – politischen Fiasko führte. Dabei spielte die deutsche Regierung eine entscheidende Rolle, denn vor allem sie setzte sich für den türkischen EU-Beitritt ein. Die AKP wurde vom Westen lange Zeit als „muslimisch-demokratische“ Alternative zu radikal-islamischen Kräften angesehen und unterstützt. Die Türkei sollte ein Mustermodell eines westlich orientierten, moderaten, islamischen Staates werden. Die Erdogan-Regierung hat lange Zeit erfolgreich die Illusion genährt, dass sie diese Aufgabe als Regierungspartei erfüllen werde. Inzwischen sehen sich grüne, linksliberale und sonstige Anhänger des „gemäßigten Islam“ genauso getäuscht, wie linksliberale Kreise in der Türkei, die gehofft hatten, dass die AKP eine demokratische Umgestaltung einleiten würde. Die AKP-Regierung hat den großen politischen Vorschuss genutzt, um ihre Macht auszubauen und zu festigen.

Das Ende der Illusionen

Der Mord an Hrant Dink am 19. Januar 2007 rüttelte zwar die Gesellschaft in der Türkei etwas auf, aber letztendlich verpuffte die anfängliche Empörung und Wut nach kurzer Zeit. Am 28. November 2015 wurde mitten in Amed (türk. Diyarbakir) dann der bekannte kurdische Anwalt und Menschenrechtler Tahir Elçi ermordet. Die wahren Hintergründe dieser zwei Morde sind – wie auch viele andere politische Morde in der Vergangenheit – bis heute nicht aufgeklärt worden. Unaufgeklärt blieben aber auch die übrigen 17.500 Opfer der von „Unbekannten verübten Morde“ in den 1990er Jahren.

Alle Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel sind in den vergangenen Jahren nach und nach zerplatzt: Die Regierung beendete die Verhandlungen um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage; sie unterdrückte die friedlichen Massenproteste um den Gezi-Park in Istanbul im Juni 2013; nach dem „Putschversuch“ im Juli 2016 eröffnete sie die Jagd nach vermeidlichen Anhängern der „Putschisten“; sie ersetzte die demokratisch gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der HDP durch „Treuhänder“; die Verfolgung von Mitgliedern der Demokratischen Partei der Völker (HDP) wurde verschärft und von einer Presse- und Meinungsfreiheit kann kaum noch die Rede sein.

Gleichzeitig hat die angeblich „gemäßigt-islamische“ AKP-Regierung auch eine extrem nationalistische Politik eingeschlagen und ein Bündnis mit der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) geschmiedet. Ihre gemeinsame Linie entspricht der Politik, die vom Militär nach dem Putsch vom 12. September 1980 verfolgt wurde: eine Synthese zwischen türkischem Nationalismus und Islam. Die bis zum Militärputsch relativ schwachen islamischen Kräfte wurden ausgerechnet von denjenigen gefördert, die sich stets als Hüter einer laizistischen Republik präsentierten. Die Militärs verstanden nicht, wohin die Dialektik der von ihnen eingeleiteten Politik das Land führen würde. Die Ereignisse während des „Putschversuchs“ vom Juli 2016 offenbarten das Fiasko dieser Politik: Soldaten und Offiziere wurden von Erdogan-Anhängern misshandelt und gedemütigt, das Militär wurde von kemalistischen Offizieren gesäubert, manche konnten sich nur durch die Flucht ins Ausland ihrer Verhaftung entziehen.

Die größte Bedrohung für die AKP-Regierung bildete das Militär, das sich als Hüter des Vermächtnisses von Mustafa Kemal Atatürk betrachtete. Als im Juli 2013 die von Erdogan unterstützte Regierung der Muslimbruderschaft in Ägypten durch einen Militärputsch gestürzt wurde, war das ein Alarmzeichen für die AKP. Nach diesen Ereignissen musste sie handeln und die Frage der islamischen Transformation des Militärs lösen. Der „Putschversuch“ vom Juli 2016 bot ihr den Vorwand zur „Säuberung“ des Militärapparats; das Szenario in Ägypten konnte sich in der Türkei nicht wiederholen. Seit Ende des zweiten Weltkrieges hat keine andere zivile Regierung eine so umfassende Kontrolle über das Militär und den „Sicherheitsapparat“ wie die AKP-Regierung.

Demokratischer Konföderalismus: Das Gegenprojekt der Völker

Das vom Westen geförderte türkische Modell sollte ein Prototyp für eine muslimische Demokratie werden, aber das Projekt kann inzwischen als gescheitert angesehen werden. Die Türkei-Politik der EU und insbesondere Deutschlands, die zu einer Integration der Türkei in die EU führen sollte, hat sich als großes Desaster erwiesen. Es hat letztendlich nur zum Aufstieg Erdogans und seiner Partei beigetragen. Selbst das Auswärtige Amt in Berlin stellt fest, dass nach fast 15 Jahren Beitrittsverhandlungen von einer Demokratisierung der Türkei keine Rede sein kann: „Angesichts nachhaltig gravierender Rückschritte in Schlüsselbereichen wie Menschenrechte oder Justizsystem liegen die Beitrittsverhandlungen derzeit faktisch auf Eis.“

Die von unterschiedlichen politischen Kräften in der EU vertretene Vision eines muslimischen EU-Mitglieds hat sich als Illusion erwiesen – genauso wie das „Projekt“ der Demokratisierung des Mittleren Ostens, das den zwei Kriegen gegen den Irak folgen sollte. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben deutlich gezeigt, dass der Westen mit seinen „Projekten“ statt Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit nur Krieg, Zerstörung und Vertreibung über die Region brachte. Die Menschen haben inzwischen jegliche Hoffnung auf eine vom Westen unterstützte Demokratisierung verloren. Immer mehr setzt sich die Überzeugung durch, dass das von Abdullah Öcalan vorgelegte Modell „Demokratischer Konföderalismus“ die einzige Alternative zu den desaströsen westlichen „Projekten“ darstellt. Die westlichen Regierungen und die Herrschenden in der Region wissen, dass dieses von den Völkern getragene gesellschaftlich-politische Gegenprojekt eine große Gefahr für sie darstellt. Gegenwärtig geht es deshalb vor allem um die Frage, ob es den verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften gelingt, mit vereinten Kräften ihre Zukunft auf der Grundlage des Demokratischen Konföderalismus neu zu gestalten. Der Erfolg ihres Kampf hängt nicht zuletzt auch von der internationalen Solidarität ab.