Die Republik Türkei stand früher sehr selten im Fokus der Medien und der politisch interessierten Öffentlichkeit. Dabei leben in Deutschland viele türkische Staatsangehörige und jedes Jahr verbringen viele Deutsche ihren Urlaub in der Türkei. Erst seit Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlung wird die politische Entwicklung des seit 2002 von der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) regierten Landes aufmerksamer verfolgt. Wer hätte früher den Namen eines türkischen Regierungschefs nennen können? Heute gibt es wohl kaum jemanden in Deutschland, der den Namen Erdogan nicht kennt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht etwas über die Türkei oder Erdogan berichtet wird. Spätestens seit der „Flüchtlingskrise 2015“ wissen die Menschen in Deutschland, dass die Türkei nicht nur ein günstiges Urlaubsland ist, sondern auch Fluchtroute und Zwischenstation für viele Menschen vor allem aus dem Mittleren Osten. Dass Deutschland bzw. die EU jemals von einer türkischen Regierung quasi erpresst werden könnte, hätte kaum jemand für möglich gehalten.
Neo-osmanische Kriege um Öl und Gas
Die rasante wirtschaftliche Entwicklung der Türkei in den vergangen 20 Jahren hat zu einem wachsenden Energiebedarf geführt, der vor allem durch Importe aus Russland gedeckt wird. Der größte Schwachpunkt der türkischen Wirtschaft ist ihre große Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten. Besonders ärgerlich für die türkische Regierung ist, dass in den Gebieten, die mit dem Vertrag von Lausanne 1923 aufgegeben wurden, reichlich Öl und Gas vorhanden ist: In Nordsyrien, im Nordirak und im östlichen Mittelmeer.
Der türkische Expansionismus könnte insofern als „neo-osmanisch“ bezeichnet werden, weil er darauf abzielt, diese Gebiete wieder unter türkische Kontrolle zu bekommen. Der Konflikt mit Griechenland, Ägypten und Israel um die Gas- und Ölvorkommen im östlichen Mittelmeer, die Intervention in Libyen, die Annexion von Gebieten in Nordsyrien und Nordirak erscheinen wie eine Renaissance osmanischer Großmachtpolitik. Im Grunde geht es der AKP aber nicht darum, an die „glorreiche Vergangenheit“ anzuknüpfen. Vielmehr versucht sie den Griff nach den Öl- und Gasvorkommen in ihrer Umgebung historisch zu legitimieren. Sie erhebt „nationalen“ Anspruch auf alle Reichtümer in den ehemals osmanisch beherrschten Gebieten. Ihre Bereitschaft, ihren Anspruch mit Kriegen durchzusetzen, hat vor allem einen Grund: Die Zukunft der Türkei als Industrienation hängt von der Versorgung mit günstiger Energie ab. Aber darüber hinaus muss der steigende Bedarf der über 80 Millionen Menschen gedeckt werden. Somit ist die Kontrolle über Energiequellen von großer „nationaler“ Bedeutung.
Der 1923 unterzeichnete Vertrag von Lausanne galt lange Zeit als ein großer Erfolg der kemalistischen Nationalbewegung. Aus Sicht der heutigen Regierung wurde aber zu viel aufgegeben: die Öl und Gasvorkommen in Mesopotamien, die Ägäis-Inseln und die Hoheit über das östliche Mittelmeer. Die dortigen Energieressourcen hätten die Türkei unabhängig von Öl- und Gasimporten gemacht und die energieintensive Industrialisierung vorangetrieben. Aus heutiger Sicht erscheint Lausanne wie ein schändlicher Verrat an den strategischen „nationalen Interessen“ der Türkei.
Aufstieg in die imperialistische Liga
Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg stand die Revision des Vertrags von Versailles ganz oben auf der Tagesordnung der Nationalkonservativen und Faschisten in Deutschland. Letztendlich bedeutete eine solche Forderung die Ankündigung eines neuen Krieges. Heute stellt die Erdogan-Regierung offen die Gültigkeit des 1923 in Lausanne geschlossenen Vertrags in Frage. Ob der Vertrag von Lausanne 100 Jahre nach seiner Unterzeichnung noch Bestand haben wird, ist also fraglich. Erdogan verkündet ganz offen, dass er den Lausanner Vertrag nicht für einen Sieg der türkischen Diplomatie hält, „weil diejenigen, die sich damals an den Verhandlungstisch setzten, den realen Umständen nicht gerecht wurden“. Wer aber nach fast 100 Jahren den Vertrag von Lausanne wieder rückgängig machen will, der bereitet sich auf Kriege mit fast allen Nachbarstaaten vor bzw. hat bereits damit angefangen.
Ein 1992 veröffentlichtes Buch des damals noch als linker Autor bekannten Yalçin Küçük trägt den Titel „Emperyalist Türkiye“ (Imperialistische Türkei). Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der sich abzeichnenden Veränderung des globalen politischen Gefüges entstanden für die Türkei ganz neue Perspektiven: Linksnationale Kreise sahen die Chance, sich aus der Kontrolle durch die USA und den Westen zu lösen; islamische und nationale Kreise träumten davon, das Land wieder zu alter Größe und Macht zu führen. Beide treten mit einer antiimperialistischen Rhetorik auf und geben vor, die Unabhängigkeit der Türkei anzustreben.
In der Türkei gibt es eigentlich nur antiimperialistische Kräfte, denn alle treten für die „vollkommene nationale Unabhängigkeit und Freiheit“ des Landes ein und sind sich darin einig, dass die Bedrohung von den Imperialisten und Zionisten ausgeht. Während für türkisch-nationale Kreise der türkische Antiimperialismus mit dem „nationalen Befreiungskampf“ unter Mustafa Kemal Pascha beginnt, gehen die heutigen „Neo-Osmanen“ noch weiter zurück: für sie führte das Osmanische Reich unter der Herrschaft Sultan Abdul Hamids II bereits im 19. Jahrhundert einen antiimperialistischen Kampf gegen England, Frankreich und Russland. Somit besteht über alle politisch-ideologischen Differenzen hinweg ein Konsens darüber, dass die Türken schon immer eine antiimperialistische Nation waren.
Der Imperialismus einer „antiimperialistischen Nation“
Die militärische Intervention in Libyen, völkerrechtswidrige Besetzung von Territorien anderer Staaten (Syrien und Irak), die Errichtung von Militärbasen in der Region und die Ausplünderung besetzter Gebiete ist eine Politik, deren Grundlage in den 90er Jahren gelegt wurde. Heute hat sich die Lage im Mittleren Osten soweit zugunsten der Türkei verändert, dass sie ihre imperialistischen Ambitionen mit militärischen Mittel verfolgen kann.
Die Neo-Osmanen praktizieren dabei eine Politik, die aus der Endphase des Osmanischen Reiches bekannt ist: „Ethnische Säuberung“ und Völkermord, die sich vor allem gegen die christlichen Völker – Armenier, Griechen und Assyrer – im Reich richteten. In den türkisch besetzten Gebieten in Nordsyrien wird heute mit stillschweigender Duldung der „internationalen Gemeinschaft“ eine „ethnische Säuberung“ betrieben, von der insbesondere Kurden und christliche Gemeinschaften (Syrisch-Orthodoxe Christen, Chaldäer, Assyrer und Armenier) betroffen sind. Die Bevölkerungszusammensetzung wird gewaltsam verändert, um eine langfristige Okkupation abzusichern. Dabei wird der türkischstämmigen Bevölkerung in den besetzten Gebieten sogar die türkische Staatsbürgerschaft angeboten. In Zukunft könnte die Türkei unter dem Vorwand, „ihre Bürger“ zu schützen, in Nachbarländern intervenieren. Die historische Erfahrung zeigt, dass die türkische Politik keine Rücksicht auf Menschenrechte oder das Völkerrecht nimmt.
Weder der Westen noch Russland werden der imperialistisch-expansionistischen Politik der türkischen Regierung Widerstand entgegensetzen. Es geht ihnen vielmehr darum, bei Verhandlungen mit Ankara möglichst viel für sich herauszuschlagen. Der Verhandlungserfolg hängt von eigenen politischen und militärischen Druckmitteln ab. Die Frage ist also nicht, dass die Türkei mit ihrer expansionistischen, aggressiven Politik gegen das Völkerrecht verstößt, sondern wie viel die anderen Staaten abbekommen, wenn sie Ankara gewähren lassen. Dass die Türkei ihre Politik fortsetzen kann, zeigt, dass sie die internationalen und regionalen Kräfteverhältnisse als für sie günstig einschätzt, um möglichst weit vorzurücken und sich eine günstige Verhandlungsposition zu verschaffen. Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück – wenn es denn sein muss.
Letztendlich kann nur ein gemeinsamer Widerstand der Völker der Region den türkischen Imperialismus aufhalten. Von zentraler Bedeutung ist der Kampf in Mesopotamien/Kurdistan, denn nirgendwo sonst ist der Widerstand so stark organisiert wie dort. Die entscheidende Front im Kampf gegen den türkischen Imperialismus und seine Verbündeten verläuft somit in Mesopotamien/Kurdistan. Dabei können die Völker der Region weder auf die Hilfe des Westens noch Russlands zählen. Denn trotz mancher Interessengegensätze und Feindschaften sind sich alle regionalen und internationalen Mächte in einer Sache immer einig: die Zerschlagung jeder Bewegung, die für ein selbstbestimmtes Leben und eine demokratische Gesellschaft kämpft.